Dorf unter Verdacht (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9638-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dorf unter Verdacht -  Nicola Upson
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Der Schatten des aufziehenden Zweiten Weltkriegs reicht bis in ein idyllisches Dorf in der britischen Provinz, wo Josephine Tey mit ihrer Freundin Marta Zeugin eines weiteren Kriminalfalls wird. Ein historischer Dorfkrimi, der angesichts der heutigen Flüchtlingsbewegungen bedrückend aktuell ist.

Nicola Upson wurde 1970 in Suffolk, England, geboren und studierte Anglistik in Cambridge. Ihr Debüt Experte in Sachen Mord bildet den Auftakt der erfolgreichen, mehrbändigen Krimireihe. Bei deren Hauptfigur Josephine Tey handelt es sich um eine der bekanntesten Krimiautorinnen des Britischen Golden Age. Mit dem Schnee kommt der Tod war nominiert für den CWA Historical Dagger Prize (2021). Nicola Upson lebt in Cambridge und Cornwall.

3


Maggie Lucas saß auf dem Bett ihrer Tochter und kontrollierte ein letztes Mal, ob der Inhalt des Tornisters mit der Liste übereinstimmte, die sie von der Schule bekommen hatte: ein zusätzliches Paar Socken, Wechselunterwäsche, Nachtwäsche, zwei saubere Taschentücher, Sportschuhe für drinnen, Zahnbürste, Kamm und Handtuch. Die Liste war übersichtlich, und sie war sie bestimmt schon hundert Mal durchgegangen, doch Angela sollte alles haben, was sie brauchte. Seufzend schloss sie den Tornister und stellte den Schultergurt ein. Sie wünschte, sie hätten sich den empfohlenen Rucksack leisten können, aber dieser hier würde reichen, und andere Kinder waren noch schlechter ausgestattet. Es war schon schlimm genug, dass sie überhaupt wegmusste.

Falls sie denn wegmusste.

Da waren sie wieder, die Zweifel, die sie nachts wach hielten und tagsüber plagten. Sie hatte es bis zum Überdruss mit Bob durchgesprochen, doch sie war sich noch immer nicht sicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatten – und sie merkte, dass es ihrem Mann genauso ging, obwohl er es sich weniger anmerken ließ. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie die Familie im Falle des Kriegsausbruchs lieber zusammenhalten sollte, doch die Argumente in dem braunen Umschlag, der hinter der Uhr auf dem Kaminsims auf Bobs Rückkehr von der Arbeit gewartet hatte, waren überzeugend gewesen: Auf dem Land stünden die Chancen besser, hieß es; es gebe zwar keine Garantie – so weit könne man nicht gehen –, doch für die Kinder sei es sicherer als zu Hause. Darauf folgten Versammlungen in der Schulaula, reihenweise fassungslose Eltern, die Vorträgen über Vernichtungsschläge und Toten pro Tonne lauschten, als würden die Bomben bereits herabfallen. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der sie das Wort »Evakuierung« nicht benutzten; zu Hause unterhielten sie sich über nichts anderes, das Thema füllte sämtliche Zimmer, und schließlich trafen sie eine Entscheidung. Bob war an jenem Abend in den Pub gestürmt, obwohl es erst Montag war, während sie sich in die Küche zurückzog, um das Abendbrot zu richten. Sie klapperte mit dem Geschirr, damit Angela sie nicht weinen hörte.

Der Tornister fühlte sich lächerlich leicht an, lächerlich unzureichend, um ihr Kind zu beschützen. Angela saß am Esstisch und hatte ihr Frühstück nicht angerührt. In der kleinen Küche roch es intensiv nach Speck, und Maggie verdrehte sich der Magen. Der Anblick erinnerte sie an eine Henkersmahlzeit, wobei sie nicht genau wusste, wer von ihnen die Verurteilte war. »Na los, mein Schatz, iss etwas«, sagte sie fröhlich. Sie konnte ihren aufgesetzten Ton nicht ertragen. »Du musst bei Kräften bleiben, und das hier magst du doch am liebsten.«

»Mag ich überhaupt nicht. Das ist ekelhaft.«

»Das ist doch nicht ekelhaft.« Sie setzte sich und griff nach Angelas Hand, die ihr jedoch sofort ruckartig entzogen wurde. Der Speck und die Eier, die eigentlich etwas Besonderes hätten sein sollen, erstarrten auf dem Teller zwischen ihnen. »Du brauchst etwas im Magen, mein Schatz. Du hast einen langen Tag vor dir.« Der Gedanke, Angela könnte das Haus mit leerem Magen verlassen, drohte sie zu überwältigen. »Bitte, Angie. Ein kleines Stück Toast vielleicht?« Sie griff nach der Marmelade, doch Angela schüttelte mit der Sturheit einer Fünfjährigen den Kopf. Sie schob den Teller an den Tischrand, traute sich allerdings nicht, ihn ganz auf den Boden zu stoßen. Maggie schnappte ihn sich und kratzte das Essen in den Mülleimer. »Na gut, wie du meinst. Dann geh dir jetzt die Hände und das Gesicht waschen. Die sollen nicht denken, du wärst unter die Räuber gefallen.«

Kurz sah ihre Tochter verletzt und verängstigt aus, und Maggie wünschte, sie wäre nicht so ungeduldig gewesen, doch da war Angela schon aus dem Zimmer gestürmt, ähnlich wie an dem Abend, an dem sie ihr eröffnet hatten, dass sie ohne ihre Eltern aufs Land geschickt werden würde. Sie hatten es so lange wie möglich hinausgezögert, was rückblickend recht egoistisch gewesen war, da Angela so kaum Zeit gehabt hatte, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Und sie hatte genauso reagiert, wie sie befürchtet hatten, wenn nicht noch schlimmer. Vor Nervosität verhaspelten sie sich, und nachdem einmal das Wort »wegschicken« gefallen war, ließ es sich nicht zurücknehmen. Ein passenderes Wort gab es nicht, aber es klang harsch und ablehnend. An jenem Abend sowie an allen darauffolgenden versuchten sie, ihr zu erklären, dass es zu ihrem eigenen Besten sei, dass ganz viele andere Mädchen und Jungen dabei wären, denen es genauso ginge wie ihr, dass es nicht lange dauern würde und sie das Beste daraus machen müssten, dass es für ihre Eltern, die ohne sie zurückbleiben würden, viel schwieriger sein würde – doch sie glaubte ihnen kein Wort, und Maggie wagte zu bezweifeln, dass ihre Tochter ihnen je wieder vertrauen würde. Sie konnte es ihr nicht verdenken. Alles geschah so plötzlich, und was sollte sie von den Unbekannten halten, zu denen sie geschickt wurde? Fremde wirkten auf Fünfjährige weitaus bedrohlicher als ein paar Metallstücke, die vom Himmel fielen, und Angela ließ sich durch nichts beruhigen. Selbst jetzt konnten sie ihr nicht erklären, wohin sie fahren, bei wem sie unterkommen und wie sie behandelt werden würde. Und warum – das waren die schwierigsten Fragen von allen. Warum muss ich weg? Warum wollt ihr mich nicht mehr? Warum habt ihr mich nicht lieb?

Die Uhr schlug zur halben Stunde und riss Maggie aus ihren Gedanken. Sie konnte es nicht länger hinauszögern: Sie musste Brote für die Fahrt schmieren, und dann mussten sie los. Das Brot war frisch und knusprig, und sie schnitt mehr Käse auf als sonst. Dann packte sie ein paar Kekse und einen Apfel ein – hoffentlich hätte Angela wenigstens darauf Lust. Sie durfte nichts zu trinken mitnehmen, also legte sie noch zwei Stangen Gerstenzucker dazu, falls Angie Durst bekäme oder ihr im Zug schlecht würde. Von ihrer Tochter war immer noch keine Spur. Maggie packte den Proviant in den Tornister und rief die Treppe hinauf: »Na los, mein Schatz. Wir dürfen nicht zu spät kommen.«

Sie wartete zwei Minuten, dann ging sie nach oben. Angela saß umringt von ihren Lieblingsspielsachen auf ihrem Bett, und Maggie zerriss es zum hundertsten Mal an diesem Morgen das Herz. »Mein Schatz, wir haben doch besprochen, dass du nicht alle mitnehmen kannst. Du darfst dir eins aussuchen.« Angie sah sie an, als wäre das der schlimmste Verrat von allen, stand auf und ging mit leeren Händen an ihr vorbei. Anscheinend wollte sie alles oder nichts, also schnappte sich Maggie die blauäugige Stoffpuppe Polly, die Angie seit ihrem dritten Geburtstag begleitete. Vielleicht könnte sie ihr noch ein paar andere schicken, sobald sie erfuhr, wo ihre Tochter untergekommen war, und bestimmt gäbe es dort auch Spielsachen – so würde sie es zumindest halten, wenn sie die Gastgeberin in dieser Situation wäre. Aus irgendeinem Grund weckte dieser Gedanke ihre tiefsten Ängste, die sie nicht einmal Bob anvertraut hatte, um nicht selbstsüchtig zu wirken. Natürlich betete sie, die Familie würde freundlich sein, aber noch intensiver betete sie darum, dass Angela Heimweh hätte und sie vermissen würde. Wenn sie nachts wach lag, mischten sich komplexere Gefühle unter die Traurigkeit darüber, von ihrem Kind getrennt zu sein. Die Vorstellung, die Ersatzeltern könnten Angie Dinge bieten, mit denen ihre echten Eltern nicht mithalten konnten. Sie sah immer noch lebhaft die Freude auf dem Gesicht ihrer Tochter vor sich, als sie an ihrem letzten Geburtstag gemeinsam in den Victoria Park gefahren waren; sie war ganz begeistert von den Blumen und dem Vogelgezwitscher gewesen, und natürlich würde es ihr auf dem Land genauso gehen. Sie hatten nicht genug Ausflüge mit ihr unternommen, und jetzt würde das jemand anders übernehmen und Angie mehr über die Natur beibringen, als sie es je könnte. Warum hatten sie sich nicht mehr Zeit genommen? Im Nachhinein wirkte es immer so einfach.

Unten half sie Angie dabei, die Schuhe zuzubinden und die Knöpfe an ihrem Anorak zu schließen. Die kleinen Details, auf die sie noch vor wenigen Tagen stolz gewesen war, wirkten nun schäbig und zweitklassig: Die Jacke war ihr zu groß, den sorgfältig polierten Schuhen würde sie bald entwachsen, und erneut wünschte Maggie, sie hätten sich einen besseren Rucksack oder sogar einen kleinen Koffer leisten können. Aber sie war sauber und ordentlich gekleidet, und ihr dichtes blondes Haar duftete nach Seife; immerhin wüsste die neue Familie, dass sie geliebt wurde. Bevor Angie sich wehren konnte, drückte Maggie sie fest an sich, sog ihren Duft ein, versuchte, sich an die Berührung und den Rhythmus ihres Atems zu erinnern, damit sie etwas hätte, das sie durch die nächsten Wochen und Monate bringen würde. Sie spürte, wie Angie sich entspannte, ihre Wut der Liebe ihrer Mutter nicht gewachsen war, doch es tröstete sie nicht. Die Verletzlichkeit ihrer Tochter, die womöglich darauf hoffte, in letzter Sekunde verschont zu bleiben, war schlimmer als ihr Trotz, und beinahe musste sich Maggie vor Scham abwenden. Mit einem aufgesetzten Lächeln hängte sie eine Pappschachtel über Angies Schulter. Sie wehrte sich nicht – Gasmasken waren noch eine aufregende Neuerung –, doch der Geruch von Gummi und Desinfektionsmittel beschwor die drohende Gefahr herauf, und Maggie war froh, dass die Maske sicher in der Kiste verpackt war.

Sie öffnete die Haustür, wollte so tun, als handelte es sich um einen normalen Schultag, doch sie schaffte es kaum bis auf den Bürgersteig, bevor die Illusion zerplatzte....

Erscheint lt. Verlag 13.10.2023
Reihe/Serie Josephine Tey und Archie Penrose ermitteln
Josephine Tey und Archie Penrose ermitteln
Übersetzer Anna-Christin Kramer
Sprache deutsch
Original-Titel Dear Little Corpses
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 2. Weltkrieg Flüchtling • 30er-Jahre • Cozy Crime • Dorf • Dorfkrimi • England • Großbritannien • historischer Krimi • Josephine Tey • Kinder • Kinderlandverschickung • Mord • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-0369-9638-9 / 3036996389
ISBN-13 978-3-0369-9638-7 / 9783036996387
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