Unter Freunden stirbt man nicht (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
464 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9623-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unter Freunden stirbt man nicht -  Noa Yedlin
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Was zählt ein ganzes Leben, wenn es nicht mit einem Nobelpreis gekürt wird? Noch acht Tage bis zur Nobelpreisverleihung - die Freunde des charmanten und doch teils arroganten Wirtschaftsprofessors Avishay sind aufgeregt, denn er ist nominiert. Und Avishay selbst? Seine beste Freundin und heimliche Affäre Zohara findet ihn knapp eine Woche vor der Preisverleihung seelenruhig auf dem Bett liegend - er ist tot. Sofort tritt der Rest der tatkräftigen Freundesgruppe auf den Plan. Sie beschließen, sein Ableben zu vertuschen, da dummerweise nur Lebende den Nobelpreis erhalten können. Ihr gemeinsames Vorhaben bringt gut gehütete Geheimnisse ans Tageslicht, genau wie unerfüllte Wünsche, ungesagte Wahrheiten und verdrängte Gefühle. Auf einem Weg voller absurder Situationen - von einem Radfahrer, der einen Toten überfährt, bis zu einer Reinigungskraft, die stillschweigend einen Toten wegräumt - arbeiten sie sich Tag für Tag Richtung Preisverleihung.

Noa Yedlin ist eine israelische Schriftstellerin und Trägerin des Sapir-Preises. In deutscher Übersetzung erschienen bei Kein & Aber der israelischen Bestseller Leute wie wir sowie der Roman Unter Freunden stirbt man nicht, der unter demselben Titel als Serie verfilmt worden ist. 

Eins

1

Suche dir niemals einen Beruf aus, der vom Geschmack der Jugend abhängt. Musik, Klamotten, Schönheit, Essen. Nicht, dass die Jugend keinen Geschmack hätte, manche der jungen Leute haben sogar einen sehr guten Geschmack. Aber mit sechzig möchtest du darüber nicht mehr nachdenken, du möchtest die Existenz dieser Art Mensch am liebsten vergessen.

Sie war auf dem Weg zu Avischai, als ihr der Rat ihres Vaters wieder einfiel. Sie hatte sich mit ihrem besten Freund zu einer Konsultation verabredet, obwohl sie in Wahrheit gar keine wollte, sie wollte einfach nur mit ihm reden. Doch eine so simple Interaktion war zwischen ihr und Avischai ausgeschlossen. Auch nach zwanzig Jahren, oder sogar schon etwas mehr, erwartete er von ihr, jedem ihrer Treffen ein Thema zu geben. Entweder musste sie sich den zweiten Teil von Der Mann ohne Eigenschaften ausleihen oder sich die letzte Episode von Breaking Bad anschauen, etwas fragen, etwas von ihm lernen, etwas richtigstellen, ihm etwas vorbeibringen. Blieb ihr Treffen ohne solchen praktischen Nutzen für sie, dann bedeutete das, dass sie miteinander schliefen. Nur Avischai hatte das Recht, den vorher vereinbarten Zweck gegen diesen anderen auszutauschen, die Begegnung herabzuziehen. Obwohl sie sich jedes Mal schwor, das nächste Mal Nein zu sagen, wenn auch nur als Zeichen der Selbstachtung, gab sie letzten Endes doch immer wieder nach.

Der Steuerberater, bei dem sie morgens gewesen war, hatte ihr einen perfekten Grund für ein Treffen mit Avischai geliefert, als er ihr vorrechnete, dass sie für das Aufnehmen einer Hypothek nicht genug verdiente, tatsächlich sogar ganz allgemein nicht genug verdiente. Besonders in den letzten drei, vier Jahren, was angesichts des Internets und all dieser Webseiten (www.SchreibenSie IhreFamiliengeschichteselbst.com) eigentlich nicht weiter verwunderlich war. Überhaupt widmeten sich immer mehr Leute der Auftragsschreiberei, und zwar zu Spottpreisen; sie unterboten Sohara (Biografien auf Bestellung für Familien und Institutionen) nicht nur ungerührt, sie machten sich obendrein über ihre Qualitätsansprüche lustig.

Zwar hatte sie auf ihren Vater gehört, musste sich nun aber mit ihren achtundsechzig Jahren immer noch auf die Jungen einlassen, auf Enkelkinder, die stets jemanden finden konnten, der die Geschichte ihres Patriarchen günstiger aufbereitete. Trotzdem, dachte Sohara zunächst zufrieden, später jedoch eher besorgt, war ihre Freude, endlich wieder einen triftigen Grund für ein Treffen mit Avischai zu haben, größer als die Furcht vor der eventuell drohenden Altersarmut.

Soharas Freundin Nili behauptete, bei ihr entscheide sich das Schicksal einer Beziehung gleich nach dem ersten Beischlaf, wenn beider Rücken aufs Laken sinken und sie ruhig nebeneinanderliegen. Ich kann dir das nicht erklären, sagte Nili, ich weiß einfach, ob der Mann länger bleiben wird oder nicht, und zwar nach diesem ersten Koitus. Aber mit Sex hat das nichts zu tun, verstehst du? Womit zum Teufel hat es dann zu tun?, erkundigte sich Sohara, und Nili sagte: Das hat etwas mit den Machtverhältnissen zu tun, mit dem, was die Männer brauchen und was ich ihnen gebe. Das muss nicht einmal unbedingt das sein, was sie wollen, ihr Gefühl sagt ihnen, ich besäße genau das, was sie brauchen. Damit kann ich überhaupt nichts anfangen, erwiderte Sohara, und Nili meinte: Lass gut sein, wirklich, lass gut sein, aber wenn du das nächste Mal wieder eine Affäre anfängst, dann versuch mal, irgendetwas anders zu machen als sonst, und wenn es auch nur eine winzige Kleinigkeit ist.

Sohara war inzwischen klug genug, nicht zu fragen, mit wem sie denn überhaupt eine neue Beziehung anfangen sollte. Gelegentlich empfahl Nili ihr ansprechende Männer, nicht nur Ärzte aus dem Kollegenkreis, aber wenn das geschah, kam es mit einer Auflage daher: Sohara hatte vor einigen Jahren in einem Anfall geistiger Schwäche ein Abkommen mit Nili getroffen. Weißt du was, Sohara, hatte die Freundin gesagt, komm, wir machen einen Deal, man will doch immer die ganze Wahrheit wissen, das, was einem normalerweise vorenthalten wird? Wenn ich dir jemanden vorstelle, dann werde ich dir hinterher alles, was er über dich gesagt hat, offen erzählen. So können wir dein Problem vielleicht ergründen, und du lernst etwas für die Zukunft daraus. Sohara hatte sich für die Idee begeistert, sehr sogar, unter anderem auch, um die darin enthaltene Kränkung zu überspielen. Nili nahm von vornherein an, dass der Mann, dessen Identität noch nicht einmal feststand, Sohara ablehnen würde. Außerdem war es ja nur so eine Idee, der sie einfach nicht widerstehen konnte. Wer möchte denn nicht die Wahrheit erfahren, theoretisch zumindest, also prinzipiell? Ein gänzlich unerfüllbarer Wunsch, denn ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass man seine Freunde vor der Realität schützt. Sie mögen uns bitten, ja, anflehen, ihnen die ungeschminkte Wahrheit zu sagen, aber die behalten wir natürlich fürsorglich für uns und würden sie ihnen nie im Leben zumuten.

Aber mit Nili war das anders. Nur Nili brachte es fertig zu fragen: Du willst doch sicher wissen, was er gesagt hat, nicht wahr? Das hilft dir doch weiter, oder? Was hätte Sohara darauf antworten sollen? Die Wahrheit lag ja bereits wie Gift in Geschenkverpackung zwischen dem Salzstreuer und dem Süßstoff auf dem Bistrotisch. Dann musste Sohara sich Folgendes anhören: Ich weiß nicht recht. Oder: Sie ist nett und interessant und sieht übrigens auch recht gut aus, aber irgendwie hat es nicht gefunkt, ich weiß auch nicht. »Ich weiß auch nicht« kam sehr oft vor, »es passt nicht so richtig« ebenfalls. Nili trug diese Aussagen in leichtem Plauderton vor, denn sie hielt sie für ermutigend. Sie waren ja eigentlich nicht kränkend, bei Sohara aber lösten die vagen Bemerkungen eine Qual aus, wie sie bitterer nicht sein konnte. Sie war eben niemals »genau das«, das wusste sie schon längst. Eine bessere Erklärung gab es nicht, sie schien immer irgendwie danebenzuliegen. Eines Tages fragte sie: Was mache ich denn deiner Ansicht nach falsch, Nili, und was erhoffst du dir davon? Etwa dass einer sagt, Sohara sollte Deodorant benutzen, sie riecht unter den Achseln. Woraufhin Nili in lautes Lachen ausbrach.

Mehr als um alles andere beneidete Sohara ihre Freundin Nili um deren Normalität. Keinesfalls aber um diesen Höhlenmenschen, mit dem sie seit einer Weile zusammen war. Sohara fand bärtige Männer unattraktiv, sie gehörten ihrer Meinung nach einer nicht paarfähigen Parallelspezies mit höchst zweifelhafter Romantik an. Sie hätte sich nicht gewundert, von Nili zu erfahren, dass der Typ anstelle des Penis ein Horn trug. Nein, Nili hatte die Passagen von Verliebtheit, Paarung, Hochzeit und Scheidung, Kindern und Enkelkindern hinter sich gebracht, so wie es sich im Alter von sechzig plus gehörte, und nachdem sie nun ihre Fähigkeit zur Normalität bewiesen hatte, durfte sie sich das Ausgefallene erlauben. Sohara selbst hingegen strebte mit achtundsechzig immer noch vehement der ersten Liebe entgegen, die sich doch eigentlich spätestens bis zum sechzehnten Lebensjahr hätte einstellen sollen, und wenn nicht mit sechzehn, dann vielleicht mit sechsundzwanzig, später erschien ihr auch sechsunddreißig durchaus noch akzeptabel.

Vor ungefähr fünfzehn Jahren, als die Freunde sich eines Abends bei Varda und Amos versammelt hatten, trat Sohara auf der Suche nach der Katze arglos ins Zimmer von Hagar, der abwesenden Tochter des Hauses. Dort lag auf dem Regal neben allerlei Gebrauchsgegenständen ganz unverhohlen eine angefangene Schachtel Antibabypillen, als wäre sie Teil des normalen Lebens, und gerade deswegen stand Sohara einen Augenblick still und dachte, die Tochter von Amos ist siebzehn und hat die Liebe schon entdeckt. Die Tochter von Amos. Und dabei hätte doch Sohara selbst auch eine Tochter haben müssen, der sie verzeihen konnte, dass sie die Mutter auf diesem Gebiet eingeholt hatte.

Nicht, dass sie besonderes Interesse daran gehabt hätte, jemanden kennenzulernen. Sie musste nicht unbedingt irgendeinem Unbekannten im Café gegenübersitzen und sich einen hindernisreichen Weg in seine Seele bahnen. Sie wollte Avischai. Sie waren doch in gewisser Hinsicht ohnehin schon ein Paar, allerbeste Freunde, die dann und wann miteinander ins Bett gingen. Von den meisten Paaren in ihrem Bekanntenkreis ließ sich nicht einmal das sagen. Avischai müsste nur endlich begreifen, was nicht zu begreifen eigentlich unmöglich war.

Die Kluft zwischen ihr und der Liebe, zwischen ihr und dem Glück, zwischen ihr und dem Leben, wie es gelebt werden sollte, schien winzig zu sein, nur ein Kopfnicken, und alle Brüche wären gekittet. Aber im Strom der Zeit zerbröckelten die Ufer; die beiden entfernten sich voneinander. Wieder und wieder trat nicht ein, was hätte eintreten sollen. Die verflossenen Jahre nagten an Soharas Seele, an ihrem Begehren, sogar ein wenig an ihrer Liebe, die aber beim kleinsten Zeichen aufzuflackern bereit war. Inzwischen hatte diese Liebe allerdings ein wenig beiseiterücken müssen, damit Sohara überhaupt weiterleben konnte und nicht völlig aus der Bahn geriet.

Wenn er gerade mal keine Freundin hatte, liebte sie Avischai mehr; als er aus dem Ausland zurückgekehrt war, hatte sie sich erneut in ihn verliebt; als er auf die Vierzig zuging, verstärkte ihre Liebe sich und nahm dann wieder ab, als Sohara einsehen musste, dass sie niemals Kinder haben würde. Zwischendurch hatte sie sich auch in andere Männer verliebt, das war ein drängendes, belebendes Gefühl gewesen, aber wenn diese Affären endeten, sank sie in die alte Halb-Beziehung zurück wie in eine mit Trost gefüllte Badewanne.

2

Oft fragte Sohara sich, wie...

Erscheint lt. Verlag 21.7.2023
Übersetzer Helene Seidler
Sprache deutsch
Original-Titel Stockholm
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adele Neuhauser • Alltagslebenslügen • Felix Stienz • Freundschaft • Gefühle • Geheimnis • Heiner Lauterbach • humorvoller Roman • Iris Berben • Lebenslüge • Lebenswerk • Leiche • Michael Wittenborn • Nobelpreis • Nobelpreisträger • sarkastische Komödie • Schwarzer Humor • Selbsttäuschung • Selbstzweifel • Senioren • Stockholm • Täuschung • Vox-Serie • Walter Sittler
ISBN-10 3-0369-9623-0 / 3036996230
ISBN-13 978-3-0369-9623-3 / 9783036996233
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