Goldauge (eBook)
Kadera-Verlag
978-3-948218-44-7 (ISBN)
Mountain Village, 14. Juli
Eine Renovierung des Hauses ist nicht wirklich nötig, aber ich will unbedingt meinen Duft, meine Energie hineinbringen. Also streiche und lackiere ich zehn Tage lang. Stehe um sieben auf, springe in den Blaumann, lege los bis mittags, ziemlich high von den leckeren Lösemitteln hole ich mir im »Karma«, dem einzigen veganen Imbiss downtown, ein Mittagessen und einen Salat für abends, höre Taylor Swift und Robbie Williams und lasse sämtliche Doku-Soaps laufen, bei denen ich insgeheim gern mal mitmachen würde: Shopping Queen, Mieten, kaufen, wohnen, Alles, was zählt.
Im »Karma« ventilierten zwei abgemagerte Heidi-Klum-Kopien gestern die Theorie, derzufolge diese Fernseh-Formate mit Frequenzen versehen seien, die das Gehirn weich machen.
Da spricht wohl jemand aus Erfahrung, dachte ich gehässig.
Zur Vorsicht surfe ich jedoch heute Abend durchs Netz und lande auf ziemlich abgespaceten Websites, auf denen von energetischen Emulgatoren die Rede ist, die angeblich beim Fernsehen unsere Synapsen schwächen. Super, wir gucken Das perfekte Dinner und nebenbei wird unser Gehirn weichgekocht. In den Chatforen wird darüber geschimpft und lamentiert.
Ich meine, man kann den Fernseher ja auch einfach ausschalten.
Während wilde Verschwörungstheorien an mir vorüber twittern und facebooken, muss ich an Timo denken. Der hätte bestimmt eine gescheite Erklärung parat.
Wieso hätte? Sofern er nicht zu viel fernsieht, sollte er noch unter den Lebenden weilen. Ich probiere seine alte Handynummer.
Nach vier Mal Klingeln nimmt er ab. »Ja, bitte?«
»Hey«, sage ich verblüfft. »Du hast echt noch die alte Nummer!«
Pause. Dann: »Du weißt aber schon, dass hey die Bezeichnung für einen mittelalterlichen Tanzschritt ist, der die Form einer Lemniskate beschreibt, oder?«
»Na danke, Einstein.«
»Wühle nicht in dieser Wunde, Weib«, gibt er ernsthaft zurück.
Ich muss lachen. Und ich freu’ mich. Zwei Sätze und er ist wieder da, mein bester Freund aus den relaxten Jahren des Studentenlebens, supernett, superschlau, Hoffnungsträger der Bekleidungsdynastie Claussen, aber eigentlich Einsteins Erbe. Brillanter Mathematiker, beseelt von der Idee, die Welt neu zu vermessen, und untröstlich, als ein Russe den Beweis für die Poincaré-Vermutung erbrachte, an der sich die klügsten Köpfe der letzten 100 Jahre eben jene zerbrochen hatten. An dem Abend, es war kurz vor Ende meines Studiums, rief er ziemlich deprimiert an und versuchte mir zu erklären, weshalb seine Berechnungen sehr viel eleganter seien als die des Russen, und wenn er nur einen Tag länger Zeit gehabt hätte … laber rhabarber. Es war ein langes, ermüdendes Telefonat, für ihn, weil ich seinen mathematischen Spitzfindigkeiten nicht folgen konnte, für mich, weil es mir nicht gelang, ihn aus dem Jammertal herauszulocken. Danach verloren wir uns aus den Augen. Und jetzt, so scheint’s, steigen wir einfach wieder zusammen in einen Zug ein. Das ist toll, das ist wahre Freundschaft.
»Und was genau möchtest du?«
Das ist nicht der dritte Satz, der zu den beiden ersten passt. Plötzlich klingt Timo reserviert und spröde.
»Och, ich dachte, ich ruf mal an«, sage ich leichthin.
»Hm, ja, das ist gerade etwas ungünstig.«
»Okay, klar, kein Problem. Du kannst dich ja melden, wenn es besser passt.«
»Ja, gern. Ich fliege allerdings morgen für eine Weile nach Südasien. Deshalb …«
Ich verstehe. Er packt seinen Koffer. Ich komme ungelegen. »Viel Spaß«, sage ich fröhlich. Wir verabschieden uns höflich, wie Fremde. Schade.
Naja, denke ich, wer weiß, vielleicht sitzt seine Frau schon auf dem Hartschalenkoffer und ist genervt, weil Timo nicht bei Fuß steht, um ihn zuzukriegen. Oder weil ihr der Bikini nicht mehr passt. Oder oder.
Südasien?
Wenn man in Urlaub fährt, sagt man nicht: nach Südasien. Man sagt: Ich fahre nach Kambodscha, die Reisfelder gucken. Nach Auroville, meditieren und Asanas üben. Nach Kerala, ayurvedisch abhängen.
Südasien.
Einer dunklen Ahnung folgend surfe ich durch einige Internetportale, die sich mit Mode und nachhaltiger Bekleidungsproduktion beschäftigen und erfahre, dass Timos Eltern schon häufiger wegen unsauberer Produktionspraktiken im Kreuzfeuer der Kritik standen, ihr Firmencredo »Astreine Qualität. Saubere Betriebe. Unser Herzensbeitrag zum wirtschaftlichen Fortschritt eines hilfsbedürftigen Landes« sei schlimmster PR-Sprech für von Kinderhänden unter schrecklichsten Bedingungen gefertigte Billigware. Die Website ist garniert mit Fotos fröhlicher Näherinnen in Saris und den jovial lächelnden Claussens in peinlichen Tropenanzügen. Bildunterschrift: »Ihr Vertrauen verpflichtet uns. Das Gründer-Ehepaar und ihr Sohn, der das Unternehmen seit fünf Jahren leitet.«
Oh nein, Timo, das kann nicht dein Ernst sein!
Eine seltsame Traurigkeit erfasst mich. Timo wird mich niemals zurückrufen, es wird ihm peinlich sein. Vielleicht ist es gut so. Begrabene Träume führen zu emotionalen Verwerfungen, und welche es nach sich ziehen mag, von der Relativitätstheorie abzuwandern in ein Unternehmen, das auf dem Rücken der Schwächsten Gewinne macht, will ich gar nicht so genau wissen. Im Moment habe ich genug mit mir selbst zu tun.
Am nächsten Tag ist es geschafft.
Die Pinsel fliegen in den Müll, die Restfarbe in den Keller.
Der Möbelwagen hält pünktlich vor meiner Tür. 40 Bücherkisten, zehn Billy-Regale, mein Schreibtisch, meine Couch, mein neues Bett, Kissen, Leuchter, Bilder.
Den Esstisch für zwölf Personen, den wir uns – Anmerkung aus der linken Hirnhälfte: es gibt kein Wir mehr, vielleicht gab es niemals eins, wähle zukünftig eine neutrale Umschreibung – angeschafft haben und der sich in vielen, langen Ess- und Trink-Abenden mit Freunden emotional wie sozial amortisiert hat, hat mein Ex unbedingt behalten wollen. Die Abende sollen in seinem Eppendorfer Schöner-Wohnen-Bau genauso fortgeführt werden. Als wäre ich nicht weg. Oder sagen wir: nie dagewesen? Nie Teil seines Lebens gewesen? Blödmann. Ich habe diese Abende initiiert. Vor mir war er gesellschaftlich gesehen ein Zombie. Egal. Ich hab den Teaktisch, der immer noch zerlegt in der Küche liegt. Einer der netten Möbelpacker wird ihn mir bestimmt zusammenschrauben.
Drei Tage später ist alles aufgebaut und eingeräumt. Ich kann dekorieren.
Am vierten Tag kommt eine ernsthafte Sinnkrise vorbei und flüstert:
Niemand kocht dir eine Hühnersuppe.
Niemand hat Zeit, dir zu helfen.
Niemand hat dich lieb.
Nicht einmal meine Mutter. »Der Hof, mein Kind, geht vor«, sagt Mama Lana am Telefon. »Was musst du auch jetzt umziehen? Hätte das nicht Zeit bis Oktober gehabt?« Im Subtext die Fragen: Warum musst du überhaupt umziehen? Dich trennen? Schon wieder?
»Früher hättest du mich so was nicht gefragt«, erwidere ich vorwurfsvoll.
»Wann genau ist für dich früher, mein Kind? Meinst du meine Che-Guevara-Endphase oder die Immenhof-Revolution?«, versetzt meine Mutter ironisch. Wir müssen beide kichern und sofort sind die Bilder aus jenen Zeiten wieder da.
20 Kühe, 20 Schweine, eine Schar Hühner, dazu Raps, Hafer, Gerste, mit dem ersten Hahnenschrei aus dem Bett. Der Hahn krähte allerdings nur, wann es ihm passte, mal so, dass die Kühe pünktlich gemolken werden konnten, mal zwei Stunden später, wenn alle Tiere Kohldampf schoben und das Milchvieh brüllte. Er war eben genauso drauf wie meine Eltern, voll relaxed, der linearen Zeit abhold, echte Mittsiebziger, flower in their hair, Che im Herzen und die Vision, aus dem Hof eine WG mit Tendenz zur Kolchose zu machen. Als meine Versetzung auf ein Gymnasium in Husum anstand und damit die tägliche Fahrt mit dem Schulbus den kurzen Weg in die Dorfschule ersetzte, schaffte meine Mutter einen Wecker an. Eine messingfarbene Höllenmaschine mit zwei Pömpeln. Sie läutete das Ende der Idylle ein. Alle erwachten. Die potentiellen Kolchowiken, die bei uns lagerten und das Haus mit ihren Tüchern, Federn, Kristallen, Om-Zeichen und Shishas in eine Mischung aus Indianerdorf und Serail verwandelt hatten, zogen nach und nach weiter, der Sonne entgegen. Goa lautete das Mantra des heraufdämmernden Wassermann-Zeitalters.
Auch meine Eltern fanden es an der Zeit, ihren masterplan zu überdenken. Schwuppdiwupp wurde ein Kredit aufgenommen, zwei Altenteiler neben unserem Haus hochgezogen und drei gewaltige Landmaschinen, Marke Klingonen-Alptraum, angeschafft, die die Zinsen einfahren sollten. Oma und Opa Krüger verließen ihr aus Protest gegen die Kolchose gewähltes Büsumer Exil und kehrten heim, die Großeltern mütterlicherseits verzichteten jedoch dankend auf die Freuden einer Großfamilie, und wir machten aus der Not des leerstehenden Altenteilers eine lukrative Tugend: Ferien auf dem Bauernhof. Mit Ponys. Halbpension. Fährtenlesen. Lagerfeuer. Nachtwanderung. Flöten-aus-Weidenruten-schnitzen und allem, was Großstadt-Herzen das Glück des archaischen Seins nahebringt. Bald hießen meine Eltern nicht mehr Krüger, sondern wurden KrügerKing genannt. Sozialneid züngelte hier und da an unserer Reputation, Gerüchte über einen geheimen Swingerklub im Ferienhaus machten die Runde, meine Eltern litten ein bisschen, bis schließlich eine andere Sau durchs Dorf gejagt wurde. Das ist so auf dem Land, alle kennen das, jeder ist mal dran. Aber irgendwie hat das Geschehen den letzten Rest psychedelischer Heiterkeit aus dem Gemüt meiner Eltern vertrieben. Sie ergaben sich. Papa wurde Schriftführer im...
Erscheint lt. Verlag | 11.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-948218-44-7 / 3948218447 |
ISBN-13 | 978-3-948218-44-7 / 9783948218447 |
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