Mein Herz ist eine Krähe (eBook)

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2023 | 1. Auflage
464 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61401-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Herz ist eine Krähe -  Lina Nordquist
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Norrland um 1900: Unni, Armod und der kleine Roar mussten überhastet aus Norwegen fliehen. Inmitten der blauen Berge und dunkelgrünen Wälder Hälsinglands finden sie ein neues Zuhause. Doch die brutalen Launen der Natur und des Landbesitzers lassen die kleine Familie kaum Frieden finden. Mehr als 70 Jahre später plant Kåra die Beerdigung ihres Schwiegervaters Roar. Was ist damals wirklich passiert? Und welche Geheimnisse verbinden Kåra und Unni über die Jahrzehnte hinweg?

Lina Nordquist, geboren 1977 in Norrala, ist Schriftstellerin, außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin und Politikerin. Seit 2018 ist sie Mitglied des schwedischen Parlaments. Sie wuchs in Hälsingland auf und lebt derzeit mit ihrer Familie in Uppsala. Ihr Debütroman ?Mein Herz ist eine Krähe? wurde als Buch des Jahres in Schweden ausgezeichnet.

Lina Nordquist, geboren 1977 in Norrala, ist Schriftstellerin, außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin und Politikerin. Seit 2018 ist sie Mitglied des schwedischen Parlaments. Sie wuchs in Hälsingland auf und lebt derzeit mit ihrer Familie in Uppsala. Ihr Debütroman ›Mein Herz ist eine Krähe‹ wurde als Buch des Jahres in Schweden ausgezeichnet.

Wanderweg

Ich weiß nicht, was hätte werden können, aber ich weiß, wie es war. Und hätte ich damals gewusst, wie alles enden würde, wäre den Tagen ein anderer Wert zugekommen. Dem Warten. Selbst wenn ich in die Zukunft hätte blicken können, hätte ich sie nicht aufgehalten. Trauer fragt nicht nach Richtig oder Falsch, Glück nicht nach Moral.

Der Bauer, der mich fortbringen sollte, stank nach Fusel. Es war ein kalter Tag, als ich hinten auf seinen Karren kletterte, ringsum tuschelten die Leute. Er ließ meinen Arm los und stieß mich in den Rücken – ich sollte in eine Art Käfig kriechen. Viele, die ich seit Langem kannte, wandten den Blick ab. Einer spuckte auf den Boden. Unser Ziel: ein kalter Raum mit verriegelter Tür. Der Bauer trieb das Pferd an, und wir brachen auf. Als der Wagen losrollte, klapperte das Gitter. Das Pferd trabte schneller, Eisen schmetterte gegen Holz, und da begriff ich, dass der Bauer den Käfig nicht ordentlich verschlossen hatte. Die Sekunden flogen dahin. Oh, wie ich zu dir rannte, Roar! Ich befahl meiner Lunge nicht aufzugeben, ignorierte den Schmerz in meinem Fuß, bis ich in der Ferne das Wasser glitzern sah und am Ufer Armod, der ein Boot teerte. Und dann sah ich dich, Roar, dein helles flaumiges Haar hinter dem leuchtend blauen Heckspiegel.

Armod ließ das Boot halb geteert zurück. Er verließ meine Stadt als Erster, mit langen, entschlossenen Schritten, obwohl er hätte bleiben können. Nur ich warf noch einen letzten Blick über die Schulter, betrachtete den Zipfel Norwegens, der bis dahin meine Heimat gewesen war. Wir ließen den Hunger hinter uns, das Meer, die Anschuldigungen. Die hasserfüllten Augen und ausweichenden Blicke. Frühlingsgrüne Berge spähten zu den Menschen in der Stadt hinab, die winzige Gräber für ihre toten Kinder aushoben. Tränen schmecken nach Meer. Das Meer schmeckt nach Tränen. Ich wollte nicht weg, wollte dir, Roar, nicht diese Wanderung ins Unbestimmte antun, aber ich hatte keine Wahl. Viele Tage waren wir unterwegs, am Ufer des Jonsvatnet entlang, wo sich der Himmel in unseren Augen spiegelte, dann durch dunkle Wälder. Mein rechter Fuß schmerzte, doch damit konnte ich leben. Schlimmer war die Angst. Ich trug ein Kind im Arm, kaum ein Jahr alt, und im Bauch einen Apfelkern, der langsam wuchs. Ihr wart mir so nah. Du, Roar, warst das schlafende Bündel, die Beinchen zum Schutz vor Kälte an den Körper gezogen. Der namenlose Kern unter meinem Nabel war deine Schwester und ihr Vater ein Mann, den ich kaum kannte, doch seine Augen waren freundlich, ich vertraute ihm.

Außer dem rot lackierten kirschhölzernen Medizinkästchen, das ich von Wehmutter Brita bekommen hatte, besaß ich nur das, was ich am Leib trug: ein mausbraunes Kleid, ein Schultertuch und eine abgenutzte weiße Bluse, das Loch am Kragen fein säuberlich gestopft. Den Rest hatte ich zurücklassen müssen. Und er, der aus Kristiania stammte, wo ich nie gewesen war, trug eine verblichene schwarze Hose und eine Jacke, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Fahle, leblose Stoffe. Aber sein Gesicht war lebhaft, und er kam mit mir, er hatte dich gern, Roar. Wir kannten uns seit sechs Monaten, teilten seit einiger Zeit das Bett. Ich liebte seinen Namen, Armod, seine von Wanderungen und Wetter gegerbten Arme, voller Haare, mein eigener kleiner Märchenwald. Ich liebte, dass er angeboten hatte, auf dich aufzupassen, als ich mit meinem Medizinkästchen zu dem Mädchen am Fuß des Bergs musste. Ich konnte kaum glauben, dass er mich tatsächlich auf meiner Flucht begleiten wollte.

»Ich komme mit dir.«

Kaum hatte er das gesagt, waren wir aufgebrochen. Solange man liebt, dachte ich. Damals. Als wäre es so einfach.

Unsere Habe schnallte er sich auf den Rücken, von seinen früheren Wanderungen war er daran gewöhnt. Anfangs sah ich mich in einem fort um, die Worte des Pfarrers hallten mir hinterher. Mörderin. Wie lange würde es dauern, bis man uns einholte? Doch mit jedem Kilometer fiel mir das Atmen leichter. Wenn wir morgens erwachten, war das Feuer fast erloschen, doch das letzte Knistern schenkte uns genug Wärme, um den Tag zu beginnen. Ehe wir aufbrachen, pinkelte Armod oft in die Glut, um den Wald zu schützen. So langsam die Tage verstrichen, so schnell schwand unser Proviant. Armods Rucksack wurde immer leichter, bald hatten wir nur Anzündholz und mussten uns etwas zu essen kaufen. In der Ferne hohe, schneegetupf‌te Berge, obwohl es Sommer war.

Schon da musste er etwas wie Liebe empfunden haben – sonst hätte er mich wohl kaum begleitet, durch Dörfer und über Landstraßen, durch tanzenden Platzregen und gleißendes Sonnenlicht. Sein Anblick und sein Lachen wärmten mich. Doch die Gebirgsluft war eisig. Die Feuchtigkeit umschloss uns, weigerte sich, zum Meer zurückzukehren. Wasser drang in unsere Schuhe. Wenn ich Armod ansah, dachte ich oft, er würde sich jeden Augenblick umdrehen, mir sagen, ich müsse allein mit dem Jungen weiter, aber das tat er nicht. Stattdessen schaukelte sein Rücken beständig vor mir her, und wenn er sich umwandte, dann um zu lächeln, nie um zu zögern.

Wir schlugen einen Bogen um Røros, und die Natur funkelte wie Diamanten; Birkenwälder, Berge, Täler, Baumstämme. Ich erinnere mich an einen Nachmittag hoch unter dem Himmel, die Luft voller Schneeregen. Je weiter wir uns bergaufkämpf‌ten, umso harscher schlug uns der Wind entgegen. Wir gingen schnell, um unsere Körper warmzuhalten, und um ein Haar lief ich in Armod hinein, als er abrupt innehielt. Erst streckte er die Hand aus, dann zeigte er mir, dass etwas Feuchtes darauf gelandet war. Kein Regentropfen – eine Schneeflocke. Eine zweite legte sich auf sein Handgelenk, gleich unterhalb des Ärmels, wo die Haut dünn und empfindlich ist. Ich ging näher heran.

»Siehst du das fein gewebte Muster, Unni?«, fragte Armod. »Die kleine Flocke ist vollkommen anders als die größere daneben, anders als all ihre Schwestern und Brüder. Aber eins haben die Schneeflocken hier oben gemeinsam – glaub mir, der einmal das Wetter unterschätzt und fast die Finger verloren hat. Im Fjäll verheißt jeder Schneestern Gefahr. Wir müssen schnell runter ins Tal, zurück in den Sommer.«

Die Kristalle funkelten noch einen Augenblick, dann schmolzen sie, verschwanden. Armod strich mir mit dem Handrücken über die Wange.

»Schön bist du, Unni. Und mutig.«

Wir lächelten uns an und gingen weiter, immer schnelleren Schrittes. Der Mann, der damals mit einer hässlichen Wunde am Arm zu mir gekommen war. Ich hatte sie mit Torfmoos versorgt. Als er ein zweites Mal kam, wirbelte er dich durch die Luft, bis du vor Lachen kaum Luft bekamst. Der Mann, der mit bloßen Händen ein Huhn gefangen, ihm das Genick gebrochen und mich zum Essen eingeladen hatte, im Grenzland zwischen Stadt und Wasser. Der nicht nach Norden, Richtung Mo i Rana, weitergewandert war, wie er es vorgehabt hatte, sondern im Trondheimer Hafen Arbeit suchte, obwohl die Leute dort über mich tuschelten. Der Mann, auf dessen Gesicht dieses Lächeln aufblitzte, das die Fältchen um seine Augen vertief‌te. Der Mann, der bei mir geblieben war. Trotz allem.

Das war der Grund. Dafür, dass ich ihm folgte und er mir. Nicht aus Vernunft, sondern aus einem Gefühl heraus. Solange wir zusammen waren, übertrumpf‌te das Schöne die Angst. Wohin einer ging, ging auch der andere. Wohin einer wollte, wollte auch der andere. Das war der Grund. Und dass ich wusste, dass ich nie wieder zurückkonnte.

Bald stachen mir die Schneeflocken ins Gesicht und in die Augen. Dich, Roar, wickelte ich in Armods Schal und drückte dich fest an mich. Als der Wind stärker wurde, zog ich die Schultern hoch und beugte den Nacken, drückte das Kinn tief in den Schal. Trotzte dem Wetter Schritt für Schritt und heftete den Blick auf Armods Spuren, meine Füße passten genau hinein. Als er sich lächelnd zu mir umwandte, war sein Gesicht starr von Schneekristallen, das Kinn blau angelaufen. Erst später wurde mir klar, wie sehr er gefroren haben musste, denn er spaltete den Wind vor mir und hatte dir seinen Schal gegeben, trotzdem klagte er nicht.

»So, liebste Unni, muss es sich anfühlen, wenn man fliegen will!« Als er mein ängstliches Gesicht sah, lachte er. »Wer fliegen will, braucht Wind!«

Doch am Abend wurde der Wind zu stark. Er peitschte mich, wollte mich umstoßen, biss sich in meinen Ohren fest, obwohl ich mir den Schal fest um den Kopf geschlungen hatte. Armod entdeckte einen Felsen, hinter dem wir uns verstecken konnten, und türmte für die Nacht einen Schneewall auf, wir hoff‌ten, dass das Wetter bald umschlüge. Er bat mich, ein Feuer zu machen – seine Finger waren steif vor Kälte. Wir kauerten uns dicht aneinander und wurden eins, wie die russischen Matrjoschkas aus der Künstlerkolonie vor Moskau. Er habe sie mit eigenen Augen gesehen, flüsterte er mir zu und erzählte von ihren bunten Farben. In der Wärme seines Körpers aß ich Bergschnee und taute seine Hände unter meinen Achseln auf. Tief in mir wisperte die Kälte, wir würden es nicht schaffen. Aber hatten wir eine andere Wahl?

Unter sirrender Sonne überquerten wir die schwedische Grenze, ich glaube, in Härjedalen, an die genaue Stelle erinnere ich mich nicht. Die ersten Schritte auf fremdem Boden, ich atmete aus, und das Gehen wurde leichter. Die Angst zog weiter Schleifen in meinem Kopf, meine Beine schmerzten, doch ich straff‌te den Rücken, das Stechen im rechten Fuß war schon leichter zu ertragen. Wir sahen Wälder, Dörfer, Landstriche. Stiegen ins Tal hinab, über Bäche und Flüsse, mehr Wald, neue Gewässer. Weil ich noch immer fror,...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2023
Übersetzer Stefan Pluschkat
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Abenteuer • Abgeschiedenheit • Affäre • Atwood • Demenz • Diskriminierung • Dorf • Dorfleben • ecriture feminine • écriture féminine • Einsamkeit • Einsiedler • Emanzipation • Familiendrama • Familiengeheimnisse • Familiengeschichte • Familiensaga • Feminismus • Feministische Literatur • Frauenliteratur • Frausein • Gnade • hälsingland • Hass • Hunger • Hungersnot • Inzest • Landhaus • Landleben • Leilani • Liebesgeschichte • Lisa • Margaret • Mord • Mutterliebe • Mutterschaft • Natur • Naturbetrachtung • Nature writing • Norrland • Preisgekrönt • Rachel • Raven • Rooney • Sally • Schwanger • Schweden • schwedische Literatur • skandinavischer Thriller • Söderhamn • Spannung • Spannungsliteratur • taddeo • Thriller • Yoder
ISBN-10 3-257-61401-2 / 3257614012
ISBN-13 978-3-257-61401-5 / 9783257614015
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