Die Hoffnung der Chani Kaufman (eBook)

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2024 | 1. Auflage
512 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61395-7 (ISBN)

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Die Hoffnung der Chani Kaufman -  Eve Harris
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Chani hat es geschafft. Sie hat den Mann geheiratet, den sie sich ausgesucht hat - nicht selbstverständlich, wenn man in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde lebt. Und was nun? ?Seid fruchtbar und mehret euch?, natürlich, aber genau das funktioniert eben nicht. Chani ist verzweifelt, denn ihr Mann Baruch kann sie verstoßen, wenn sie ihm keine Nachkommen schenkt. Und wer wäre sie dann noch unter ihresgleichen? Zwischen Rabbi, Fruchtbarkeitsklinik und ihrer Schwiegermutter muss Chani ?HaSchem? ein Schnippchen schlagen.

Eve Harris, geboren 1973 in London, Tochter polnisch-israelischer Eltern, arbeitete zwölf Jahre als Lehrerin, darunter an katholischen und jüdisch-orthodoxen Mädchenschulen in London und Tel Aviv. ?Die Hochzeit der Chani Kaufman? schaffte es auf die Longlist des renommierten Man Booker Prize. Eve Harris lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London.

Eve Harris, geboren 1973 in London, Tochter polnisch-israelischer Eltern, arbeitete zwölf Jahre als Lehrerin, darunter an katholischen und jüdisch-orthodoxen Mädchenschulen in London und Tel Aviv. ›Die Hochzeit der Chani Kaufman‹ schaffte es auf die Longlist des renommierten Man Booker Prize. Eve Harris lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London.

1

November 2009 – London

Erst hatte sie auf einen Mann gewartet, nun wartete sie auf ein Baby. Da saß sie, in diesem Foyer, umgeben von Fremden, die alle auf dasselbe hofften. Auf das Zusammentreffen von Sperma und Ei, auf einen winzigen Haufen Zellen, der sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort einnistete. Das Wunder der menschlichen Fortpflanzung war Chani und Baruch versagt geblieben. Etwas war schiefgegangen. Bei ihnen war das Mysterium des Lebens ins Straucheln geraten.

Also wartete sie, ein gutes jiddisches Mädchen, dass ihr guter jiddischer Ehemann von seinen Bemühungen zurückkehrte. War es sein Fehler oder ihrer? Wessen Körper wohl schuld war? Tief im Inneren wusste sie, dass es ihrer war. Sie musste so abscheulich gesündigt haben, dass HaSchem sie unfruchtbar gemacht hatte. Unfruchtbar – was für ein hässliches Wort. Es hallte wie das Echo eines Albtraums in ihrem Kopf wider. Sie hörte es ununterbrochen – ein leises, entschiedenes Flüstern, das all ihren Hoffnungen, all ihren Träumen ein Ende setzte.

HaSchem wollte nicht, dass Baruch und sie hingingen und sich vermehrten. War es wegen irgendeines spirituellen Irrtums, der ihr unterlaufen war? Sie hatte doch auf die richtige Anzahl von Tagen geachtet, bis sie in die Mikwe ging. Baruch und sie hatten doch immer auf die Reinheit der Familie gehalten.

Eine solche Angst hatte sie noch nie gespürt. Ein unverheiratetes Mädchen war wie ein ruderloses Schiff oder ein Topf ohne Deckel, doch eine unfruchtbare Frau war schlimmer. Ihr Mann konnte sie verstoßen. Er konnte sich neuen Weidegrund suchen, während sie hier verrotten würde, allein, abgehängt, ein verdorbener Apfel ganz unten in der Kiste.

Aber das würde ihr Baruch nicht antun. Schließlich sagte er ihr jeden Tag, dass er sie liebte. Doch um ihre Angst zu lindern, reichte das nicht. Sie konnte weder schlafen noch essen, und das nun schon seit Monaten.

Noch schlimmer war es geworden, als sie sich nach acht fruchtlosen Monaten an Baruchs Eltern gewandt und um Hilfe gebeten hatten. Wie sehr sie es gehasst hatte, doch es war der einzige Weg, der ihnen noch blieb. Ihre eigenen Eltern hatten kein Geld. Chani fröstelte bei dem Gedanken an Mrs Levy, ihre säuselnde Stimme, die den Triumph in ihren harten hellen Augen nicht verbergen konnte.

Der Fernsehbildschirm im Warteraum war defekt. Das Gesicht des Nachrichtensprechers zitterte und wurde von gezacktem statischen Rauschen durchzogen. Die anderen Paare rund um Chani hockten eng beieinander. Niemand sprach oder suchte Blickkontakt. Jede Frau war in ihre eigene Welt aus Angst und Hoffnung versunken, und die Verzweif‌lung legte sich wie eine Glückshaube um ihre Schultern. Die Männer wiederum beschäftigten sich mit ihren Handys oder lasen die Zeitung, heuchelten Normalität, um das endlose Warten zu überstehen.

Chani wusste, sie sollte nicht hinsehen, aber die bunte Mischung unterschiedlicher Kleidung und Kulturen um sie herum bot wenigstens Abwechslung. Ihre Augen glitten unwillkürlich zu der attraktiven Muslima hinüber, die rechts von ihr saß. Sie bewunderte den eleganten Schwung ihres schwarzen Hijabs. Er erinnerte sie an die Hauben mittelalterlicher Nonnen, die den Hals und das Schlüsselbein verbargen. Ihre Fingernägel hatten die Form winziger scharlachroter Särge und passten farblich zu ihrem Lippenstift. Die Frau hatte etwas Glamouröses, das es bei Charedi-Frauen nicht gab. Im Vergleich dazu fühlte Chani sich grau und schäbig. Der Ehemann dagegen war plump und in seiner Rundlichkeit beinahe feminin. Er trug eine Baseballkappe, eine Brille, und an seinem Hemd fehlte ein Knopf. Durch den Schlitz guckte ein Stück braune Haut hervor. Chani wandte den Blick ab. Der Mann bekam davon nichts mit, sondern ließ sich vom Schein seines Handybildschirms in den Bann ziehen.

Plötzlich kam ein älterer Herr aus dem Nichts durch die gläsernen Schiebetüren und ging mit unsicherem Schritt zur Rezeption.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

»Ich bin hier wegen meiner Zähne. Ich habe heute einen Termin bei Dr. Pradesh, um, lassen Sie mal sehen –«, er tastete die Taschen seines Tweedsakkos ab, und nachdem er fündig geworden war, wedelte er mit einem Stück Papier vor der Nase der Krankenschwester herum.

»Sehen Sie hier. Da steht es. Vierzehn Uhr, in der Eastman Dental Clinic!«

Während er sprach, klapperte sein Gebiss im Takt seiner Worte, und jede Silbe fiel etwas klebrig aus seinem Mund. Für einen Moment hob sich die Stimmung im Wartebereich. Die private Kinderwunschklinik befand sich im linken Flügel der weitläufigen Eastman Dental Clinic an der Gray’s Inn Road.

Die Muslima schaute zu Chani herüber, und sie tauschten ein amüsiertes Lächeln.

»Es tut mir leid, Sir, aber Sie befinden sich im falschen Teil des Gebäudes. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo Sie hingehen müssen.« Die Krankenschwester nahm den alten Mann sanft am Arm und führte ihn weg.

Das Zischen der sich schließenden Türen bedeutete auch die Rückkehr in den Trübsinn des Wartezimmers. Vergangen war der kurze Moment der gemeinsamen Heiterkeit. Chani war wieder allein mit ihren Ängsten.

Sie tastete in der Tasche nach ihrem winzigen Siddur und zog ihn heraus. Er klappte bei dem Gebet um ein Kind auf, wo ein Leseband die nur allzu vertraute Stelle markierte. Chani senkte den Kopf und sprach tonlos die hebräischen Worte. »Vater unser, o gnädiger Vater! Erhöre unsere Gebete, und beherzige unser Rufen, dass alle kinderlosen Frauen des Guten erinnert werden und mit Deiner Barmherzigkeit – rasch, leicht und schnell – lebende, gedeihende Kinder gebären. Möge sich Dein Volk, Israel, vermehren wie der Sand des Meeres, der weder gemessen noch gezählt werden kann.« In der Wiederholung, und darin, HaSchem ihre Sorgen zu übergeben, lag ein Trost. Sollte Er sich darum kümmern. Oh, bitte, HaSchem, beeil dich, dachte Chani, denn jede Schwangerschaft, die um sie herum verkündet wurde, machte es nur noch schlimmer. Sie hatte das Gefühl, eine entsetzliche Versagerin zu sein, und sie wusste nicht, ob sie noch eine einzige Nachricht über das Mutterglück anderer Frauen ertragen konnte. Doch in ihrer Welt war das unausweichlich. Gebären war die Aufgabe einer Frau, und wo immer sie hinsah, war sie mit einem weiteren prallen stolzen Bauch konfrontiert. Die Schwangeren der Kehilla segelten an ihr vorbei, die Bäuche wie Bugspriete vor ihnen, sicher in dem Wissen, dass sie die unerlässliche Mizwa vollbrachten, weitere kleine jüdische Seelen in der Welt zu verbreiten. Genau, wie HaSchem es bestimmt hatte.

Die Muslima beobachtete Chani vorsichtig, während sie betete. Reflexartig berührte sie ihren eigenen Bauch. Sie wusste noch nicht, dass sich unter den weichen, geheimnisvollen Falten ihrer schwarzen Abaya gerade eine winzige Zellkugel vervielfachte.

»Hannah Levy? Hannah?«, rief die Krankenschwester.

Chanis Kopf fuhr ruckartig auf wie bei einer Marionette.

»Ja, ich bin hier!« Sie küsste den Siddur, steckte ihn ein und stolperte über ihre Tasche auf die Füße.

An der Tür des Wartebereichs stand eine Krankenschwester, ein Klemmbrett in der Hand, das Haar straff zurückgebunden, das Gesicht von einem geschäftsmäßigen Lächeln erhellt – ein Hoffnungsfunke in Kobaltblau. Die anderen Frauen schauten Chani hinterher, wie sie vorbei an ihren Knien und Handtaschen ging.

»Hier entlang, Hannah. Dr. Duval erwartet Sie schon.«

Chani folgte der Krankenschwester durch die schweren Schwingtüren ins Innere des Krankenhauses.

Die Tür schloss sich, und Baruch war allein in dem grauen fensterlosen Raum. Im Flur davor wartete Rabbi Pinsk. Er saß geduldig auf einem Plastikstuhl, der ihm eigens von der freundlichen Krankenschwester gebracht worden war. Rabbi Pinsk kannte die Übung. Er saß nur wenige Schritte von Baruchs Tür entfernt – nicht zu nah und nicht zu weit weg. Dort zog er seinen Siddur heraus und begann, sich vor und zurück zu wiegen. Er betete für Baruch und seine gesegnete Frau Chani. Rabbi Pinsk war sechsundzwanzig, hatte aber bereits drei Kinder gezeugt. Sein ernstes Gesicht war in der Wärme des Krankenhauses pink und feucht, und seine blonden Augenbrauen unter dem Fedora schwitzten leicht. Ein leichter goldener Flaum, fast durchsichtig auf seiner hellen Haut, gab ihm das zarte Aussehen der Jugend.

Die Schritte der Krankenschwester verhallten. Baruch war die Anwesenheit von Rabbi Pinsk mehr als bewusst. Aber der Mann tat nur seine Pflicht. Baruch hatte sein ganzes Leben in Räumen wie diesen verbracht. Ein Leben drinnen, mit recycelter Klimaanlagenluft im Sommer und ermüdender Heizung im Winter – temperaturregulierte, neonbeleuchtete Kästen. Aber hier gab es keine Bücher, keine Tora oder keinen Talmud, die man wälzen konnte. Kein Krümel Staub. Innerhalb dieser vier Wände war er allein. Was, wenn man es genau bedachte, eine Erleichterung war.

Ein hellgelber Behälter für medizinischen Abfall hob sich leuchtend von der weißen hygienischen Anonymität ab. Zu seiner Linken befand sich ein Waschbecken, zur Rechten ein grauer Plastikstuhl. Ein niedriges Regal, eine Taschentuchbox, ein Metallspender, in dem sich Latexhandschuhe der Größe »Mittel« befanden. Der Raum war behaglich, warm und roch beruhigend nach Wundbenzin. Baruch fühlte sich plötzlich erschöpft und ließ sich schwer auf den Stuhl sinken. Am liebsten hätte er ein kleines Nickerchen...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2024
Übersetzer Kathrin Bielfeldt
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ehe • Fruchtbarkeit • golders green • Israel • Jüdisch • Kinderwunsch • London • Orthodox • Rabbi • Religion • Tel Aviv
ISBN-10 3-257-61395-4 / 3257613954
ISBN-13 978-3-257-61395-7 / 9783257613957
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