Warum die Giraffe nicht in Ohnmacht fällt (eBook)

und andere Kuriositäten aus dem Tierreich
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2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61412-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Warum die Giraffe nicht in Ohnmacht fällt -  Katherine Rundell
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Unsere Welt ist einzigartig und verblüffend. Es gibt Haie, die schon zu Shakespeares Zeiten gelebt haben, Giraffen, die durch Paris flanierten, verliebte Spinnen und Einsiedlerkrebse, die ihre Häuser renovieren. Mit einem bemerkenswerten Gespür für fesselnde Geschichten und kuriose Anekdoten eröffnet uns die preisgekrönte Autorin Katherine Rundell in diesen 22 eindrücklich recherchierten Porträts bedrohter Tierarten einen neuen Blick auf die hinreißend seltsame Schönheit unserer Erde.

Katherine Rundell, geboren 1987 in Kent, ist Fellow am All Souls College in Oxford. Ihre preisgekrönten Kinderbücher wurden in über dreißig Sprachen übersetzt, und ihre Sachbücher über John Donne und dazu, warum auch Erwachsene Kinderbücher lesen sollten, standen ebenfalls auf der Bestsellerliste. Sie schreibt unter anderem für die ?London Review of Books?, das ?Times Literary Supplement? und die ?New York Times?.

Der römische Dichter Horaz hatte entschieden etwas gegen Giraffen. Sie seien ihrer Idee nach nicht stimmig, »ein Zwitter aus Kamel und Leopard«. Dieser »Camelopard« zöge zwar die Blicke auf sich, sei aber ein einziges Durcheinander. In Ars Poetica, seinem Werk über die Dichtkunst, schrieb er: »… ein menschlich Haupt auf dem Hals eines Rosses! / Also verlangt es die Laune des Malers. [Oder] oben ein reizendes Mädchen, wird’s unten ein schwimmendes Scheusal. / Könntet ihr, Freunde, bei solchem Anblick das Lachen verbeißen?« Als Julius Cäsar im Jahr 46 v. Chr. eine Giraffe aus Alexandria mit nach Rom brachte (ein Geschenk von Kleopatra, wie manche sagten), sahen die Menschen am Straßenrand, wie schon Horaz, ein aus zwei Teilen zusammengesetztes Geschöpf. Cassius Dio berichtet davon in seiner Historia Romana: »In all seinen sonstigen Teilen gleicht dieses Tier einem Kamel, nur sind seine Beine nicht alle von der gleichen Länge, vielmehr die Hinterbeine kürzer. […] Und indem es sich gewaltig emporreckt […] hebt [es] den Nacken wiederum zu ungewöhnlicher Höhe. Was sein Fell betrifft, ist es wie ein Leopard gesprenkelt […].« Aber die Menge erfreute sich an dem abenteuerlich zusammengesetzten Wesen.

Immer wieder haben wir zu erklären versucht – mit mehr Fantasie als Fakten –, wie etwas so herrlich Hybrides entstanden sein mag. Der persische Geograf Ibn al-Faqih schrieb im Jahr 903, eine Giraffe entstehe, »wenn sich der Panther mit der Kamelstute paart«. Zakariyā al-Qazwīnī, ein Kosmograf aus dem 13. Jahrhundert, erläuterte in seinem Werk Die Wunder des Himmels und der Erde (zu welchen auch ein Hase mit einem Horn auf der Stirn zählt), dass eine Giraffe das Ergebnis einer zweifach unwahrscheinlichen Verkettung sei: »… und zwar ist es so, dass in Abessinien das Hyänenmännchen die Kamelin bespringt, und dann bringt sie ein Junges zur Welt […]. Wenn nun das Junge dieser Kamelin ein Männchen ist, und es sich mit der Antilope vereinigt, dann bringt diese die Giraffe zur Welt.« Beide Möglichkeiten klingen zu anstrengend für einen evolutionsbiologischen Vorgang. Andere erklärten, es sei Zauberei am Werk: In der Zeit der frühen Ming-Dynastie brachte der Entdecker Zheng He zwei Giraffen nach Nanjing und nannte sie achtungsvoll qilin: freundliche Chimären mit Hufen. Alexander Ross, Kaplan von König Charles I., schrieb 1651 in seinen Arcana Microcosmi, die bloße Existenz der Giraffe mache es Naturforschern unmöglich, »die von alters her überlieferte Lehre über Greife zu widerlegen […] erkennt man doch in der Natur, dass solch ein zusammengesetztes Tier durchaus möglich ist. Denn die Gyraffa oder Camelopardalis ist eine noch seltsamere Vermischung, zusammengefügt aus dem Leoparden, dem Büffel, dem Hirsch und dem Kamel.«

Ross hatte recht: Die Wahrheit über die Giraffe ist fabelhafter und überzeugender als jede Fiktion. Giraffen werden zwar ganz ohne Zutun von Kamel oder Hyäne geboren, doch ihre Geburt gleicht einem Wunder: Nach fünfzehn Monaten Tragezeit fallen sie aus 1,50 Meter Höhe aus dem Mutterleib auf die Welt. Ähnlich flink und einfach, wie man eine Handtasche ausleert. Innerhalb weniger Minuten stehen sie auf ihren wackligen Topmodelbeinen und saugen an einer der vier Zitzen ihrer Mutter, nicht ohne zuvor die kleinen Wachskappen abzubeißen, die sich dort in den letzten Tagen gebildet haben, damit die Milch nicht ausläuft. Schon bald können sie rennen, stolpern aber oft noch über ihre eigenen Hinterbeine, eine Herausforderung, die sie ihr Leben lang nie ganz meistern werden.

Wenn sie ausgewachsen sind, erreichen sie im Galopp auf tellergroßen Füßen 60 Kilometer pro Stunde, doch das ist nicht zu empfehlen – die Beine verheddern sich leicht. Ihre Zunge, die zum Schutz vor der Sonne dunkelblau-violett und zudem kräftiger ist als die jedes anderen Huftiers, misst 50 Zentimeter. Mit ihrer Spitze können sie ihre schleimigen Nüstern reinigen. Und sie sind die unangefochtenen Wolkenkratzer unter den Säugetieren: Das höchste gemessene Exemplar, ein Massai-Giraffen-Bulle, erreichte 5,90 Meter. Der Entdecker John Mandeville übertrieb also nur leicht, als er 1356 in der ersten englischsprachigen Darstellung der Giraffe schrieb, der Hals des gerfauntz sei »zwanzig Ellen lang [etwa neun Meter]. […] Über ein großes Haus vermag er hinweg zu schauen«. (Allerdings ist »Mandeville« das Pseudonym eines unbekannten Verfassers und der laxe Umgang mit dem Maßband somit nicht verwunderlich.) Doch obwohl sie so groß sind, zeigen sie sich gastfreundlich gegenüber kleinen Wesen. Sie sind bekannt dafür, dass sie Gelbschnabel-Madenhackern ein Zuhause bieten: Die kleinen Vögel entfernen Zecken aus ihrem Fell und Essensreste aus den Zwischenräumen der Zähne. Es wurden Giraffen bei Nacht fotografiert, die unter ihren Achseln Scharen von schlafenden Vögeln Schutz vor dem Regen boten.

In Atlanta, Georgia, ist es Ihnen verboten, Ihre Giraffe an einer Straßenlaterne anzubinden. Nicht verboten ist es hingegen, ein aus dem Kopf einer frischgeschossenen Giraffe gefertigtes Kissen – einschließlich intakter Wimpern – zu importieren. Die USA sind einer der weltweit größten Märkte für Teile von Giraffenkörpern, weil man sich dort weigert, die Tiere als gefährdet einzustufen, und das, obwohl es nur noch um die 110000 wild lebende Giraffen gibt. Das entspricht einem Rückgang um 40 Prozent in den letzten dreißig Jahren. Im Zeitraum von zehn Jahren haben US-amerikanische Jäger 3744 tote Giraffen eingeführt – das sind etwa vier Prozent der noch lebenden Tiere. Falls Ihnen danach wäre, die etwaigen apokalyptischen Neigungen Ihrer Persönlichkeit auszuleben, könnten Sie heute sowohl einen bodenlangen Giraffenmantel als auch eine in Giraffenfell gebundene Bibel erwerben. Die selteneren Unterarten stehen kurz vor dem Verschwinden: Die Population der Nubischen Giraffe ist in den letzten vier Jahrzehnten um 98 Prozent zurückgegangen, und in der Natur wird sie bald ausgestorben sein. Ihre Schönheit wird den Tieren zur Gefahr. Ein Beweis für wahren Reichtum sei, schrieb der große Naturforscher Plinius, »dass man etwas besitzt, was augenblicklich ganz und gar zu Grunde gehen kann!«

Wir wissen nicht, warum die Giraffe so aussieht, wie sie aussieht. Als Erklärung für ihren langen Hals galt bis vor einiger Zeit Darwins Hypothese der »konkurrierenden Laubfresser«, die besagt, dass der Wettbewerb mit anderen Laub fressenden Tieren wie Impala und Kudu zu einer allmählichen Verlängerung des Halses geführt habe, weil die Giraffe, so weit so logisch, damit Nahrung erreichte, an die andere nicht herankamen. Vor Kurzem jedoch konnte gezeigt werden, dass Giraffen nur relativ selten in ihrer maximal erreichbaren Höhe fressen und dass Artgenossen mit längerem Hals bei Nahrungsknappheit leichter verhungern. Womöglich verleiht der lange Hals ihnen einen Vorteil beim sogenannten Necking – wenn Männchen ihre Hälse zum Kräftemessen gegeneinanderschlagen. (Obwohl es bei dieser Aktivität sicherlich noch andere Gründe zu entdecken gibt, denn es folgt daraufhin oft ein sexueller Akt zwischen den kämpfenden Männchen. Tatsächlich ist der häufigste Sex unter Giraffen homosexueller Natur: In einer bestimmten Studie machte das gegenseitige Aufspringen unter Männchen 94 Prozent des dokumentierten Sexualverhaltens aus.) Welchen Nutzen der lange Hals auch haben mag, er hat auch seinen Preis. Immer wenn sich eine Giraffe mit gespreizten Beinen hinunterbeugt, um zu trinken, schießt ihr viel Blut in den Kopf. Dort wird es in besonderen Gefäßen gespeichert und versorgt beim Aufrichten das Gehirn mit Sauerstoff, damit sie nicht in Ohnmacht fällt. Außerdem verschließen sich beim Vorbeugen die Halsvenen, sodass kein sauerstoffarmes Blut zurück zum Gehirn fließt. Selbst wenn Wasser im Überfluss vorhanden ist, trinken die Tiere nur alle paar Tage. Das Leben als Giraffe ist eine schwindelerregende Angelegenheit.

Sie haben etwas an sich, das uns vor Begeisterung aus der Fassung bringt. 1827 betrat eine Giraffe Paris. Sie war zwar nicht die erste in Europa – Lorenzo de’ Medici hatte 1487 eine Artgenossin durch ganz Italien nach Florenz gebracht, wo sich die Menschen gefährlich weit aus den Fenstern lehnten, um sie zu füttern –, aber sie war die am besten gekleidete. Sie trug ein speziell angefertigtes Regen-Ensemble verziert mit bourbonischen Lilien und war ein Geschenk des ägyptischen Herrschers Muhammad Ali für Charles X. Mehr als zwei Jahre lang war sie von Sennar aus auf Reisen gewesen, zuerst mit dem Schiff und dann zu Fuß, bis sie im Hochsommer in Paris eintraf. Dort beugte sie den Hals, um Rosenblätter aus der Hand des Königs zu fressen. Sie wurde la Belle Africaine (die Schöne aus Afrika) genannt, le bel animal du roi (das schöne Tier des Königs) oder meistens einfach la girafe: Wie Gott und den König gab es sie nur einmal. Untergebracht wurde sie in der königlichen Menagerie, in einem Gehege mit poliertem Parkett (»wahrlich das Boudoir einer kleinen Dame«, schrieb ihr Pfleger). Die Menschen von Paris standen zu Tausenden Schlange, um sie zu sehen, und gerieten regelrecht in einen Giraffenwahn. In den Geschäften stapelten sich Giraffenporzellan,...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2023
Illustrationen Talya Baldwin
Übersetzer Tobias Rothenbücher
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel The Golden Mole
Themenwelt Literatur
Sonstiges Geschenkbücher
Schlagworte Adorno • Adorno, Theodor W. • Anekdoten • Bär • Bedrohte Tierarten • Fledermaus • Geheimnis • Geschenkbuch • Nachhaltigkeit • Naturkunde • Schätze • Shakespeare • Shakespeare, William • Storch • Theodor W. • Tiere • Vorlesen • William • Wombat • Wunder
ISBN-10 3-257-61412-8 / 3257614128
ISBN-13 978-3-257-61412-1 / 9783257614121
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