Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne (eBook)
368 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3088-4 (ISBN)
Sina Scherzant, 1991 geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, ist SPIEGEL-Bestsellerautorin, Podcasterin, Meme-Account-Host und Drehbuchautorin. 'Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne' ist ihr literarisches Debüt.
Sina Scherzant, 1991 geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, ist SPIEGEL-Bestsellerautorin, Podcasterin, Meme-Account-Host und Drehbuchautorin. "Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne" ist ihr literarisches Debüt.
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Über Berlin liegt eine schwere, blickdichte Decke aus Grau, und ich denke an sie. Mir begegnen blasse Gesichter in den Straßen, die nach Vitamin-D-Mangel und nach Wintererschöpfung aussehen. Ich glaube, ich sehe auch so aus. Aus Zeitmangel habe ich heute Morgen kaum in den Spiegel geschaut, deswegen kann ich nur mutmaßen. Immer wieder fliegt mir ihr Gesicht vor die Augen, flackert auf wie eine Glühbirne am Ende ihres Lebens. Klar und gemein. Auch sie sieht blass aus. Ich muss mich beeilen, aber auf einen Kaffee will ich nicht verzichten. Die Koffeinsucht hat sich mit der Berufstätigkeit in mein Leben geschlichen wie ein ungebetener Gast, den man erst gar nicht bemerkt, weil er stumm dasitzt und sehr leise atmet. Ich entscheide mich für das Café auf der Ecke, das mit der kleinen Schiefertafel und der Lichterkette über dem Eingang. Dass diese Entscheidung Folgen haben wird, ahne ich nicht.
Im Februar wurde dann alles anders. Wenn man glaubt, dass der November an Tristesse kaum zu überbieten ist, betritt plötzlich der Februar die Bühne und wirft eine graue Decke, kein Tuch, keinen Schleier, sondern eine schwere, blickdichte Decke über alles, und man weiß gar nicht, wohin mit sich, glaubte man doch, das Schlimmste schon hinter sich zu haben. Den Dezember, den hielt man irgendwie aus, der war seltsam verkürzt durch Weihnachten und das Jahresende, überall hingen Lichterketten, alles leuchtete, und das gefiel mir ja eh, außerdem war der Monat sehr süßigkeitenlastig, was Nadine und mir entgegenkam. Weihnachten zu dritt in der neuen Wohnung hatte natürlich etwas Karges, eigentlich mag ich gar nicht davon anfangen. Es fühlte sich an, wie an einem dreibeinigen Tisch zu sitzen, aber wir drängten uns an einer Seite zusammen, stützten uns ab, damit das Teil nicht kippte. Am ersten Weihnachtstag waren wir in Eving bei den Großeltern, weil sich das so gehörte. Mein Vater rief an und schickte Geschenke. Nadine bekam ein Buntstiftset, ich ein neues Spannbettlaken. Mehr gibt es über Weihnachten 2003 nicht zu sagen.
Also, der Dezember, der ging schon irgendwie. Ein Hauch von Endjahresmelancholie war da, natürlich, aber der konnte man doch einen gewissen Reiz abgewinnen. Der Januar zählte nicht, der flog meistens so schnell an einem vorbei, dass man ihn kaum bemerkte, aber der Februar, der hatte es in sich.
Ich verabscheue bis heute keinen Monat so sehr wie den Februar, denn im Februar sah Angelica das erste Mal blass aus.
Es war mir zunächst gar nicht aufgefallen, schließlich sahen viele Leute in den Wintermonaten nicht unbedingt besonders rosig und vital aus. Doch als ich Angelica Anfang Februar ansah, erschrak ich. Sie wirkte abgeschlagen und müde. Zweimal kurz hintereinander kämpfte sie mit einem grippalen Infekt, kaum war der erste überstanden, kam Mitte Februar direkt der nächste.
Während der ersten Erkältung brachte ich ihr Zitronen, Ingwer und eine Packung Bronchialtee ans Fenster, außerdem die aktuelle Ausgabe der Gala, damit sie sich mit Promigeschichten von der Krankheitslangeweile ablenken konnte. Noch während Angelicas erstem Infekt wurde ich selbst krank. Nadine brachte aus der Schule eine Mandelentzündung mit, die sie nur liebend gern mit mir teilte. Da ich also in der ersten Februarhälfte selbst einige Tage im Bett lag, Nadine litt, meine Mutter sich mit geröteter Nase zur Arbeit schleppte und auch nach meiner Genesung immer mindestens zwei Leute in der Klasse fehlten, war ich nicht beunruhigt, als Angelica so kurz nach dem ersten Infekt erneut kränkelte. Es ging eben gerade was rum, wie Frau Meinke sagte.
Doch dann schnappte ich eines Nachmittags ein paar Gesprächsfetzen zwischen Angelica und Ewa auf.
Sofie, Kati und ich hingen im Hause Rybka herum und sahen einen Film. Sofie hatte Party Animals bei der ehemals Bravo-Nackten in der Videothek ausgeliehen. Jessi und Anna waren krank.
Der Film war mies.
Als ich irgendwann aufs Klo ging, hörte ich Ewa und Angelica in der Küche reden.
»Das ist doch nicht normal, mein Schatz.« Ewas Stimme war leise, aber eindringlich. Ich blieb stehen.
»Ach, meine Güte, das wird schon wieder. Es ist einfach etwas hartnäckig«, antwortete Angelica.
»Dann geh doch wenigstens mal zum Hausarzt, ich bitte dich«, jetzt sprach Ewa lauter, sie klang flehend. »Bitte, mir zuliebe!«
»Ja, ich ruf morgen mal an.«
»Mach es bitte heute.«
»Ewa, du machst dir zu viele Sorgen.«
»Ruf heute dort an!«
»Die lachen mich doch aus, wenn ich da die Welle mache wegen ein bisschen Schwäche.«
»Erstens machst du nicht die Welle, und zweitens ist ein bisschen Schwäche untertrieben, du kannst jeden Morgen deine Bettwäsche auswringen und bist permanent müde.«
»Das sind wahrscheinlich nur die Nachwehen der Erkältung.«
»Bitte ruf beim Arzt an.«
»Um Himmels willen, ja.«
Angelica rief an diesem Tag nicht beim Arzt an und auch nicht am folgenden. Die Erkältung verschwand nach einiger Zeit, aber Schwäche und geschwollene Lymphknoten blieben. Das wusste ich nur, weil Ewa mir später davon erzählte. Sie erzählte mir auch, wie sie Anfang März einfach einen Termin ausmachte und Angelica zum Arzt schleppte.
Am Montag der zweiten Märzwoche sprach Sofie den kompletten Tag nicht mit uns. Sie kam ein paar Minuten zu spät zum Unterricht, sah mit starrem Blick aus dem Fenster und schwieg. Sie schwieg in der kleinen Pause und auch in der großen. Als Anna und Jessi in Letzterer nicht lockerließen, sie mit Fragen löcherten und von ihr wissen wollten, was los sei, stand sie irgendwann wortlos auf und verzog sich allein in eine Ecke des Schulhofs. Wir waren ratlos. Doch dann kam in der letzten Stunde zu unser aller Überraschung der Zettel mit der Nachricht, die uns allen nur zu gut bekannt war: Nach der Schule bei mir.
Weder am Schultor noch in der Bahn und auch nicht auf den paar Metern bis zu ihrer Wohnung sprach Sofie. Als die sonnengelben Vorhänge in Sicht kamen, ließ sie uns ohne ein Wort stehen und ging zur Haustür. Wir sahen sie an diesem Nachmittag nicht mehr.
Als wir das Fenster erreichten, streckte Angelica den Kopf heraus, wie immer, begrüßte uns, fragte nach der Schule und lachte, als wäre nichts. Alles schien normal, wie sie da auf der Fensterbank lehnte, aber ich hatte Sofies seltsames Verhalten nicht vergessen und fühlte mich unruhig, und noch bevor wir die Rucksäcke ablegten, noch bevor wir uns wie zu Hause oder im Zweifel auch besser als dort fühlen konnten, holte Angelica viel tiefer Luft als sonst und sah uns nacheinander an.
Sie öffnete den Mund, und dann fiel alles auseinander.
»Ich habe Krebs.«
Ich wünschte, sie hätte gesagt:
Ich habe einen Krebs – eine seltsame Wahl für ein Haustier, aber okay. Oder:
Ich bin Krebs – kein gutes Sternzeichen aus meiner Sicht, aber okay.
Stattdessen sagte sie: Ich habe Krebs.
In der Bravo stand folgende Prognose für den Krebs:
Diese Woche läuft es ziemlich gut für dich. Du hast jede Menge Energie und weißt, wie du sie am besten einsetzt, um deine Ziele zu erreichen.
Das stimmte. Der Krebs hatte Energie und ein Ziel, Letzteres war in diesem Fall die Verdrängung blutbildender Zellen.
Wenn die Damenbande ein Referat über Blutkrebs gehalten hätte, wäre die Aufteilung wohl die folgende gewesen:
Begriffserklärung (Sofie)
Sie würde sagen, dass Leukämie ein altgriechisches Wort ist und dass man im Deutschen auch Blutkrebs sagt, also eben die Basics, aber sie würde sicher anfangen wollen, weil es ihre Mutter war, die Krebs hatte, und dann würde das wohl schon ihr zustehen, als Erstes zu sprechen.
Symptome (Jessi)
Unterschiedliche Formen von Leukämie (Anna)
Ursachen (Kati)
Therapie (Katha)
Wie wir Angelica retten konnten, das war wichtig, das war das Einzige, was zählte.
Danke für eure Aufmerksamkeit, würde dieses Mal Sofie sagen, weil sie den Anfang und den Schluss bildete.
Als Angelica uns sagte, dass sie Krebs hatte, schaltete ich innerhalb einer Sekunde auf Modus ›Lebenshandwerkerin‹. Ich hängte meine neue Persönlichkeit in den Schrank und schloss ab. Dafür war jetzt keine Zeit mehr.
Wir fragten durcheinander, was und wie, und überhaupt, was denn nun passiere. Angelica beantwortete alles wie eine routinierte Hausärztin, als hätte nicht sie Krebs, sondern eine von uns, und erklärte und beruhigte und sagte, dass sie eine Chemotherapie beginnen würde, dass wirklich alles halb so schlimm, aber natürlich ein Schock für alle sei, für Sofie, für Ewa und sicher für uns, aber das würde schon wieder werden.
Stirbst du? Wirst du sterben? Wird der Krebs dich umbringen? Stirbst du jetzt? Stirbst du jetzt etwa? Stirbst du jetzt etwa und lässt mich allein? Diese Fragen nahm ich aus meinem Kopf und packte sie schnell zu meiner neuen Persönlichkeit in den Schrank. Jetzt aber endgültig abschließen und vielleicht den Schlüssel direkt wegwerfen.
Dass keine von uns Angelica fragte, wie es ihr damit ginge, fiel niemandem auf. Wahrscheinlich nicht einmal Angelica selbst.
Als ich abends...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alman Memes 2.0 • bewegende Literatur • Coming of Age • Erwachsenwerden • Familie • Freundschaft • Gegenwartsliteratur • große Schwester • herzerwärmend • Mutter • People Pleaser • Scheidung • Scheidungskind • Schule • Stories of Deutschland • Unterhaltsam |
ISBN-10 | 3-8437-3088-1 / 3843730881 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3088-4 / 9783843730884 |
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