Solange wir schwimmen (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
160 Seiten
mareverlag
978-3-86648-824-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Solange wir schwimmen -  Julie Otsuka
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In ihrem Schwimmbad fühlen sie sich zu Hause, hier können sie bei ihren täglichen Bahnen ihre Sorgen hinter sich lassen: Designer, Nonnen, Hundesitter, Veganerinnen, Polizisten, Professorinnen, Schauspieler... Bis eines Tages ein Riss erscheint - am Beckengrund, aber auch im Gedächtnis von Alice, die genau wie die anderen hier im Schwimmen stets Trost und Halt gefunden hat. Während sie bald nur noch in bruchstückhaften Erinnerungen schwimmt, versucht ihre Tochter, sich in ihre Mutter hineinzuversetzen, ihr Verhältnis zueinander neu auszuloten und Alice' Leben Sinn und Zusammenhang zurückzugeben. Aus so unterschiedlichen wie verblüffenden Perspektiven und mit unvergleichlichem Gespür für das Komische im Tragischen schreibt Julie Otsuka über Liebe und Verlust, Trauer und Erinnerung, Mütter und Töchter und die große Frage, was wir unseren Eltern schuldig sind.

Julie Otsuka, geboren 1962 in Kalifornien, lebt heute in New York City und ist ehemalige Guggenheim-Stipendiatin. 2012 erschien im mareverlag ihr internationaler Bestseller »Wovon wir träumten«, der von Publikum und Presse hymnisch gefeiert wurde und für den die Autorin u.a. den PEN / Faulkner Award, den Prix Femina sowie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Katja Scholtz den Albatros-Literaturpreis der Günter-Grass-Stiftung erhielt.

Julie Otsuka, geboren 1962 in Kalifornien, lebt heute in New York City und ist ehemalige Guggenheim-Stipendiatin. 2012 erschien im mareverlag ihr internationaler Bestseller »Wovon wir träumten«, der von Publikum und Presse hymnisch gefeiert wurde und für den die Autorin u.a. den PEN / Faulkner Award, den Prix Femina sowie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Katja Scholtz den Albatros-Literaturpreis der Günter-Grass-Stiftung erhielt.

Das Schwimmbad unter der Erde


Das Schwimmbad liegt tief unter der Erde, in einem riesigen Hohlraum viele Meter unter den Straßen unserer Stadt. Einige von uns kommen her, weil sie Verletzungen haben und gesund werden müssen. Wir leiden unter Rückenschmerzen, Senkfüßen, geplatzten Träumen, gebrochenen Herzen, Angstzuständen, Melancholie, Antriebsschwäche, den typischen oberirdischen Beschwerden. Andere von uns sind hier in der Nähe am College beschäftigt und verbringen die Mittagspausen lieber unten, im Wasser, weitab vom strengen Blick ihrer Kolleginnen und vom grellen Licht der Bildschirme. Einige von uns kommen her, um ihren unglücklichen Ehen an Land zu entfliehen, wenn auch nur für eine Stunde. Viele von uns wohnen in der Gegend und schwimmen einfach gern. Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist. Und auch wenn sie sich vielleicht nicht an die Nummer ihres Schließfachs erinnert oder daran, wo sie ihr Handtuch hingelegt hat – sobald sie ins Wasser gleitet, weiß sie, was zu tun ist. Ihre Armzüge sind lang und fließend, ihr Beinschlag ist kräftig, ihr Geist klar. »Da oben«, sagt sie, »bin ich einfach nur eine kleine alte Dame. Aber hier unten im Schwimmbad bin ich ich selbst.«

Im Schwimmbad gelingt es uns an den meisten Tagen, unsere Landsorgen hinter uns zu lassen. Aus gescheiterten Künstlern werden elegante Brustschwimmer. Außerordentliche Professoren schneiden durchs Wasser wie Haie, in atemberaubendem Tempo. Die frisch geschiedene Personalleiterin schnappt sich ein rotes Styroporbrett und kickt ungeniert drauflos. Der geschasste Werbefachmann schwimmt auf dem Rücken wie ein Otter, starrt zu den Wolken auf der blassblau gestrichenen Decke und denkt zum ersten Mal an diesem langen Tag an gar nichts. Lass alles los. Grübler hören auf zu grübeln. Witwen hören auf zu trauern. Arbeitslose Schauspieler, die oben keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen, gleiten mühelos die Schnellschwimmerbahn hinunter, endlich in ihrem Element. Angekommen! Und für kurze Zeit fühlen wir uns in der Welt zu Hause. Stimmungen heben sich, Ticks verschwinden, Erinnerungen werden wach, Migränen lösen sich auf, und langsam, langsam – mit jedem Zug, mit jeder Bahn, die wir schwimmen – wird der Lärm in unseren Köpfen leiser. Und wenn wir unser Pensum geschafft haben, hieven wir uns aus dem Becken, tropfnass und erfrischt, unser Gleichgewicht wiederhergestellt, bereit für einen weiteren Tag an Land.

Oben gibt es Waldbrände, Smogwarnungen, extreme Dürren, Papierstaus, Lehrerstreiks, Aufstände, Revolutionen, glühend heiße Tage ohne Aussicht auf Besserung (Gigantische Hitzeglocke hängt über gesamter Westküste), aber unten, im Schwimmbad, herrschen immer angenehme siebenundzwanzig Grad. Die Luftfeuchtigkeit beträgt fünfundsechzig Prozent. Die Sicht ist klar. Die Bahnen sind friedlich und ruhig. Die Öffnungszeiten sind zwar beschränkt, aber unseren Bedürfnissen angepasst. Einige von uns kommen kurz nach dem Aufwachen, mit frischen Handtüchern über den Schultern und Schwimmbrillen in der Hand, bereit für ihre Acht-Uhr-Runde. Andere von uns kommen spätnachmittags runter, nach der Arbeit, wenn es noch hell und sonnig ist, und wenn wir wieder auftauchen, ist es Abend. Der Verkehr hat abgenommen. Die Bagger sind ruhig. Die Vögel verschwunden. Und wir sind dankbar, dass wir die Dämmerung ein weiteres Mal verpasst haben. Das ist die einzige Zeit, in der ich das Alleinsein nicht ertrage. Einige von uns kommen gewissenhaft fünfmal pro Woche ins Schwimmbad und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie auch nur ein Mal nicht können. Andere von uns kommen jeden Montag-, Mittwoch- und Freitagmittag. Eine von uns kommt eine halbe Stunde vor Schluss, und bis sie sich umgezogen hat und ins Becken steigt, ist es Zeit, das Wasser zu verlassen. Einer von uns leidet an Parkinson und kommt einfach, wenn er kann. Wenn ich hier bin, wisst ihr, dass ich einen guten Tag habe.

An die – wenn auch unausgesprochenen – Regeln im Schwimmbad halten sich alle (wir sind unsere eigenen und besten Gesetzeshüter): kein Rennen, kein Schreien, keine Kinder. Geschwommen wird nur in Ellipsen (gegen den Uhrzeigersinn und immer rechts von der Bahnmarkierung am Beckengrund). Alle Pflaster müssen vorher entfernt werden. Es darf niemand ins Schwimmbecken, der nicht die vorgeschriebenen zwei Minuten in der Umkleide geduscht hat (heißes Wasser, Seife). Niemand, der Ausschlag hat oder eine offene Wunde, darf das Schwimmbad betreten (die Menstruierenden unter uns sind allerdings ausgenommen). Niemand, der nicht Mitglied ist, darf das Schwimmbad betreten. Gäste sind gestattet (nie mehr als eine Person pro Mitglied), gegen eine geringe Tagesgebühr. Bikinis sind erlaubt, aber nicht erwünscht. Badekappen sind ein Muss. Mobiltelefone sind verboten. Die Schwimmbadetikette ist zu allen Zeiten zu beachten. Wer das Tempo nicht halten kann, muss am Ende der Bahn stoppen und den Schwimmer hinter sich vorbeilassen. Wenn man andere von hinten überholen will, muss man sie vorwarnen, indem man ihnen einmal auf den Fuß tippt. Wenn man versehentlich in andere hineinschwimmt, muss man sich vergewissern, dass ihnen nichts passiert ist. Man muss nett sein zu Alice. Den Anweisungen des Bademeisters jederzeit Folge leisten. Den Kopf in regelmäßigen Abständen drehen und, natürlich, das Atmen nicht vergessen.

In unserem »wirklichen Leben« oben sind wir Vielesser, Nichtskönner, Hundesitter, Crossdresser, Strickverrückte (Nur noch eine Reihe), heimliche Hamsterer, unbedeutende Dichter, nachziehende Ehepartner, Zwillinge, Veganerinnen, »Mami«, ein zweitklassiger Modedesigner, ein Ausländer ohne Papiere, eine Nonne, eine Dänin, ein Polizist, ein Schauspieler, der im Fernsehen gerade einen Polizisten spielt (»Officer Mahoney«), eine Gewinnerin der Green-Card-Lotterie, eine zweifach nominierte Professorin des Jahres, ein landesweit bekannter Go-Spieler, drei Typen namens George (George, der Podologe, George, der Neffe des in Ungnade gefallenen Financiers, George, der ehemalige Golden-Gloves-Boxer im Weltergewicht), zwei Roses (Rose und die andere Rose), eine Ida, eine Alice, ein selbsternannter Nobody (Beachtet mich gar nicht), ein ehemaliges Mitglied der Studentenbewegung, zwei verurteilte Verbrecher, süchtig, flüchtig, kampfbereit, verbittert, Ladenhüter, Pechvögel (Ich glaube, ich bin soeben serokonvertiert), im Zwielicht glanzloser Maklerkarrieren, inmitten langwieriger, sich hinziehender Scheidungen (Es ist das siebte Jahr), unfruchtbar, in unserer Blüte, im Trott, auf Mission, in Remission, in der dritten Woche Chemo, in tiefer und elender Verzweiflung (Man gewöhnt sich nie dran), aber unten, im Schwimmbad, sind wir nur eins von dreien: die Schnellen, die Durchschnittlichen oder die Langsamen.

Die Schnellen sind die Alphatiere im Becken. Sie sind angespannt, aggressiv und überaus selbstbewusst in ihrem Schwimmstil. Sie sehen fantastisch aus in ihren Schwimmsachen. Vom Körperbau sind sie eher der muskulöse Typ, haben aber ein oder zwei Pfund mehr auf den Rippen für den besseren Auftrieb. Sie haben breite Schultern und lange Oberkörper und teilen sich gleichmäßig auf in Frauen und Männer. Bei jedem ihrer Beinschläge kocht und brodelt das Wasser. Von ihnen hält man sich am besten fern. Sie sind geborene Athleten, denen Tempo und Rhythmus in die Wiege gelegt wurden und die ein schier unglaubliches Gefühl fürs Wasser haben, das uns anderen fehlt.

Die Durchschnittlichen sind deutlich entspannter als ihre Schnellschwimmer-Kollegen. Es gibt sie in allen Formen und Größen, und falls sie je davon geträumt haben, irgendwann in einer schnelleren und besseren Bahn zu schwimmen, haben sie diesen Traum längst begraben. Egal, wie sehr sie sich anstrengen, es wird nicht dazu kommen, und sie wissen es. Hin und wieder jedoch gibt es jemanden, der der Versuchung erliegt und plötzlich und ungewollt nach Leibeskräften zu strampeln und zu rudern beginnt, als glaubte er für einen Augenblick, seinem Schicksal irgendwie trotzen zu können. Aber dieser Augenblick währt nie lang. Beine werden müde, Armzüge kürzer, Ellenbogen sacken ab, Lungen schmerzen, und nach ein oder zwei Bahnen kehren sie zu ihrem gewohnten Tempo zurück. Kann man nichts machen, sagen sie zu sich selbst. Und dann, freundlich, leutselig – War nur ein Scherz, Leute! –, schwimmen sie weiter.

Die Langsamen sind meist ältere Männer, die kürzlich in Ruhestand gegangen sind, Frauen über neunundvierzig, Aquawalker, Aquajogger, Ökonomen, die aus küstenlosen Schwellenländern der Dritten Welt zu Besuch sind, wo sie angeblich das Schwimmen gerade erst lernen (Genau wie das Autofahren), sowie die gelegentliche Reha-Patientin. Seid nett zu ihnen. Ergeht euch nicht in Spekulationen. Es gibt viele Gründe, warum sie hier sein könnten: Arthritis, Ischias,...

Erscheint lt. Verlag 8.8.2023
Übersetzer Katja Scholtz
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alice • Demenz • Mutter-Tochter-Beziehung • Riss • Schwimmbad • Schwimmen • Schwimmer
ISBN-10 3-86648-824-6 / 3866488246
ISBN-13 978-3-86648-824-3 / 9783866488243
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