Dornblüte (eBook)

Historischer Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
528 Seiten
Piper Verlag
978-3-377-90052-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dornblüte -  Wolfgang Jaedtke
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Von der Geburt an aus der eigenen Familie verstoßen, wurde sie von Fremden aufgenommen und geliebt. Der neue große historische Roman vom Autor der erfolgreichen »Steppenwind«-Trilogie »So ist es also beschlossen: Das Dasein des unglücklichen Geschöpfs soll unser Geheimnis bleiben. Wenn es eine Chance hat, in die menschliche Gesellschaft zurückzukehren, dann liegt diese Chance bei uns. Was mich betrifft, so werde ich alles an Liebe und Güte geben, was eine dreifache Mutter aufbringen kann, wenn ihr das Schicksal unversehens ein viertes Kind zuführt.« Sachsen 1824: Die Freude ist groß, als ein unverhofftes Testament der armen Familie Haiden gestattet, einen fürstlichen Landsitz im Erzgebirge zu bewohnen. Als die fünfköpfige Familie dort einzieht, geschehen seltsame Dinge. Der Ort birgt ein dunkles Geheimnis, ein Mädchen wird immer wieder gesehen, es spricht nicht und verschwindet ins Nichts.  Dem 17jährigen Sohn des Arztes gelingt es, mit dem scheuen Geschöpf Kontakt aufzunehmen, das sich als vollkommen verwildertes halbwüchsiges Mädchen herausstellt. Gelingt es der Familie, das Geheimnis um ihre Herkunft zu lüften? 

Wolfgang Jaedtke (geb. 1967) promovierte in Historischer Musikwissenschaft und veröffentlichte bisher zehn Romane bei verschiedenen Verlagen, teils unter Pseudonymen. Seine Zuwendung gilt vor allem dem historischen Roman.

Wolfgang Jaedtke (geb. 1967) promovierte in Historischer Musikwissenschaft und veröffentlichte bisher zehn Romane bei verschiedenen Verlagen, teils unter Pseudonymen. Seine Zuwendung gilt vor allem dem historischen Roman.

Zweites Kapitel:
Eine Verschwörung


Johanna Haiden weckte ihren Mann am folgenden Morgen erst gegen neun Uhr. Sie wusste, dass der erste Patient des Tages ihn nicht vor dem Mittag erwartete, und wollte ihn ausschlafen lassen. Erwartungsgemäß klagte er über die vorgerückte Stunde, im Grunde aber war er ihr dankbar, das spürte sie. Sie bemühte sich, seine gedrückte Stimmung zu heben, indem sie ihm ein üppiges Frühstück bereitete und ihm beim Essen Gesellschaft leistete, obwohl sie selbst bereits mit den Kindern gefrühstückt hatte. Die Geschehnisse des gestrigen Tages erwähnte sie mit keinem Wort. Als er schließlich seine Tasche packte und aufbrach, wirkte er einigermaßen gelöst, lächelte sogar und erwiderte ihren Kuss.

Für Johanna schien es zunächst ein normaler Tag zu werden: Sie tat, was sie gewöhnlich tat, wenn sie allein in der Wohnung war. Ihre Söhne waren in der Schule und würden nicht vor dem Nachmittag heimkehren, und Josephine war zum Einkaufen auf dem Markt. Johanna warf sich einen Mantel über, griff nach dem Wassereimer und ging auf die Straße hinaus, um an der öffentlichen Pumpe Wasser zu schöpfen. Dann spülte sie das Geschirr, wusch die Wäsche und hängte sie in dem winzigen unbewohnten Dachzimmer zum Trocknen auf. Schließlich nahm sie sich eine ihrer Näharbeiten vor, eine Auftragsarbeit für eine Ratsherrengattin, die anderthalb Taler einbringen sollte.

Wie üblich nähte sie in der Küche, denn nur dort gab es einen Tisch, auf dem man die Stoffe und das Handwerkszeug ausbreiten konnte. Innerlich seufzte sie, denn es war abzusehen, dass sie weder heute noch in den nächsten Tagen Zeit für ihre Lieblingsbeschäftigungen finden würde. Frühestens am Samstag würde sie wieder Gelegenheit haben, jene Bekannte zu besuchen, bei der sie Klavier übte – und im Schlafzimmer warteten mehrere halb gelesene Bücher nebst einem Stapel angefangener Briefe.

Das Lesen war, neben dem Klavierspiel, Johannas Leidenschaft. Begonnen hatte sie einst mit Romanen, ihren Horizont aber rasch um wissenschaftliche Schriften über Literatur, Geschichte und sogar Philosophie erweitert. Ihr Traum bestand darin, eine Literaturzeitschrift zu abonnieren, doch das erlaubten die begrenzten Geldmittel der Familie nicht. So bediente sie sich in öffentlichen Bibliotheken und stöberte nach gebrauchten Büchern in Antiquariaten. Irgendwann hatte sie begonnen, Briefe an diejenigen Schriftsteller zu schreiben, deren Werke sie besonders faszinierten, stets zu Händen des jeweiligen Verlegers. Zu ihrer großen Freude waren einige dieser Briefe weitergeleitet und sogar beantwortet worden.

Anfangs hatte Johanna nicht recht gewusst, ob diese Retouren bloßer Höflichkeit zu verdanken waren, mittlerweile aber konnte sie nicht mehr zweifeln, dass sie tatsächlich das Interesse der Adressaten erregt hatte. Sie schrieb stets angemessen ehrerbietig, ließ aber auch ihre Sachkenntnis einfließen, stellte Bezüge her, formulierte Fragen und wagte sogar die eine oder andere bescheidene Kritik. Mit der Zeit hatten sich daraus umfangreiche Briefwechsel und sogar regelrechte Diskussionen entwickelt, die von wechselseitiger Achtung und aufrichtiger Anteilnahme geprägt waren.

Auch Musiker gehörten zu Johannas Briefpartnern. Wann immer ein Musikwerk sie begeisterte und sie Näheres über die Absichten und Gedanken des Komponisten wissen wollte, griff sie zu Feder und Briefpapier. Zu ihren Lieblingen gehörte ein noch junger Komponist namens Franz Schubert, um dessen Bekanntschaft sie so hartnäckig geworben hatte, dass er ihr mittlerweile Noten seiner Werke schickte. Ihre bedeutendste Errungenschaft jedoch war ein weithin berühmter Meister, den sie schon seit ihrer Jugend verehrte: Beethoven. Jahre waren vergangen, bis sie den Mut gefunden hatte, ihm zu schreiben.

Anlass war ihre Beschäftigung mit der geheimnisvollen Klaviersonate Nr. 32 gewesen, die sie eine Zeit lang wie besessen geübt hatte. Am Ende hatte sie sich nicht davon abhalten können, in aller Unschuld jene Frage zu stellen, die sie anhaltend bewegte: Warum der Meister zu diesem Stück, dessen zwei Sätze scheinbar überhaupt nicht zusammenpassten, keinen dritten geschrieben habe. Zu ihrem größten Erstaunen war nach mehreren Wochen eine eigenhändige Antwort des Komponisten eingegangen: »Verehrte Frau Haiden, für einen dritten Satz hatte ich keine Zeit.«

Ungläubig hatte Johanna auf diese Zeilen gestarrt und nicht begriffen, ob es sich um eine rüde Abkanzelung oder eher um jene Art von derbem Humor handelte, für den der Komponist bekannt war. Mittlerweile neigte sie der letzteren Interpretation zu und hütete den Brief wie einen kostbaren Schatz, auch wenn er das Geheimnis der Sonate nicht aufklärte, sondern hinter augenzwinkernder Ironie verbarg. »Finden Sie selbst heraus, was ich gemeint habe«, schien die Antwort zu besagen.

 

Gegen ein Uhr kehrte Josephine vom Markt zurück.

»Ich bin wieder da!«, rief sie wie üblich, obwohl das Klappen der Wohnungstür weithin zu hören war. Sie kam in die Küche, küsste ihre Mutter auf die Wange und stellte den Einkaufskorb ab, um ihre Erwerbungen zu zeigen. Wie üblich hatte sie aus dem wenigen Geld, das Johanna ihr mitgeben konnte, mit Klugheit und Umsicht das Beste gemacht: Kartoffeln, Rüben und Salat sahen gut aus und würden für einige Zeit reichen. Johanna lobte ihre Tochter und bewunderte nebenbei, wie oft in letzter Zeit, ihre Erscheinung.

Josephine – Josie, wie sie meist genannt wurde – war mit Sorgfalt gekleidet, hielt sich aufrecht und hatte eine durchaus elegante Art, ihren weizenfarbenen Schutenhut ein wenig schräg zu drapieren. Sie hatte die ansprechende Figur ihrer Mutter, dazu ein hübsches, rosiges Gesicht und eine Fülle blonder Locken, von denen einige unter dem Hut hervorquollen und sich über ihre Wangen ringelten. Nicht zum ersten Mal wurde Johanna bewusst, dass ihre Tochter eine schöne Frau geworden war.

»Setz dich doch!«, bat sie. »Nähen ist langweilig, wenn man niemandem zum Plaudern hat.«

Nichts tat Josie lieber. Sie ließ sich am Tisch nieder und begann sofort zu erzählen, welche Bekannten sie auf dem Markt getroffen hatte und was der neueste Klatsch war.

»Alle reden immer noch von der Hinrichtung«, berichtete sie, »obwohl es inzwischen schon zwei Wochen her ist. Auf dem Marktplatz sind immer noch die Abdrücke der Pfosten zu erkennen, wo das Blutgerüst gestanden hat. Ich mochte kaum daran vorbeigehen.«

Johanna wusste, wovon die Rede war, denn der Fall des Mörders Johann Woyzeck war seit Wochen Stadtgespräch. Selbst Carl hatte einigen Anteil daran genommen, zum einen, weil er ein entschiedener Gegner der Todesstrafe war, und zum anderen, weil der Fall sein medizinisches Interesse erregt hatte. Der Delinquent, ein entlassener Soldat, hatte aus Eifersucht seine Geliebte erstochen. Viele hielten den Mann für geistesgestört. Dennoch hatte das Gericht die Todesstrafe verhängt, nachdem der Täter psychiatrisch begutachtet worden war, und zwar von niemand anderem als Professor Clarus, Carls einstigem Lehrer. Der Fall hatte Carl sehr beschäftigt, denn er selbst hätte um keinen Preis in Clarus’ Lage sein wollen. Ein Gutachten abgeben zu müssen, das einen Menschen dem Henker auslieferte, wäre für ihn die schlimmste Pflicht gewesen, die der Beruf eines Arztes mit sich bringen konnte. Ein Mediziner, hatte er gesagt, sollte Leben retten, nicht Leben vernichten helfen.

»Die Geißlers waren da und haben es mit angesehen«, fuhr Josie fort. »Sie sagen, dass der Mann ganz gefasst war. Er kniete sich hin und betete lange, dann stieg er unaufgefordert das Podest hinauf und legte den Kopf auf den Richtblock. Ach, ich mag gar nicht daran denken … Er hat ja gewiss etwas sehr Böses getan, aber wenn ich mir den Henker mit seinem fürchterlichen Schwert vorstelle, weiß ich gar nicht, wer mir mehr leidtut: dieser Woyzeck oder die arme Frau, die er erstochen hat. Papa sagt doch immer, dass kein Mensch böse geboren wird, oder?«

Johanna nickte, ohne von der Nähnadel aufzusehen.

»Ich bin froh, dass wir nicht hingegangen sind«, sagte Josie ehrlich. Zwar stellte sie gern eine gewisse Abgebrühtheit zur Schau und hatte sogar ein Faible für dramatische Geschichten, doch bevorzugte sie es, wenn Mord und Totschlag nur in Erzählungen und nicht in der Wirklichkeit vorkamen. »Ich verstehe auch nicht, warum die Schulen an solchen Tagen eigens schließen, damit die Kinder...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1820er • 19. Jahrhundert • Biedermeier • Dornröschen • Entwicklingsroman • Erzgebirge • Frauenschicksal • Historischer Liebesroman • Historischer Roman • Historischer Roman 19. Jahrhundert • Kaspar Hauser • Lausitz • Liebesroman • Märchen • Romantik • Sachsen • Schauerroman • Steppenwind • Wildes Kind
ISBN-10 3-377-90052-7 / 3377900527
ISBN-13 978-3-377-90052-4 / 9783377900524
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