Spatzenrennen -  Tom Oetter

Spatzenrennen (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
289 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7549-9564-8 (ISBN)
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Als der frisch verwitwete Michl in einer durchzechten Nacht das marode Sägewerk vom Habicht Heiner für einen Euro kauft, darf er nicht viel erwarten - außer Ärger. Als dann noch Mike, der missratene Enkel aus der Stadt, auftaucht und mit den Mopedrockern illegale Mutproben ablegt, weckt das den Argwohn im Dorf und das betrunkene Auge des Gesetzes von Gurch, dem Dorfpolizisten. Der hat noch eine alte Rechnung offen mit Michl. Die Dinge geraten außer Kontrolle, als bei einer Betriebsüberprüfung im Sägewerk ein Unfall geschieht. Am Ende reibt sich Michl die Augen, als sich Elke, die Wurstverkäuferin an ihn schmiegt und im Rückspiegel des Unimog der feuerrote Himmel über dem Dorf verschwindet, denn eigentlich hat er nach dem Tod seiner Frau nicht mehr viel vom Leben erwartet.

Tom Oetter, 1966 in Franken geboren, studierte Slawistik und Politikwissenschaften. Nach Aufenthalten in Moskau und Sankt-Petersburg arbeitet er heute in Leipzig. Spatzenrennen ist sein erster veröffentlichter Roman.

Tom Oetter, 1966 in Franken geboren, studierte Slawistik und Politikwissenschaften. Nach Aufenthalten in Moskau und Sankt-Petersburg arbeitet er heute in Leipzig. Spatzenrennen ist sein erster veröffentlichter Roman.

Sturm vor der Ruhe



Trappenstein war wie viele Dörfer in der Gegend. Kaum einer durchquerte sie, weil er Zeit hatte, oder gar im Urlaub war. Wen es hierher verschlagen hatte, musste sich verfahren haben. Wer hier unterwegs war, wollte weg.

Die Kirchtürme ragten wie Sendemasten aus der hügeligen Landschaft und wiesen den Weg zum nächsten Dorf. Dass es trotzdem länger dauerte, um nach Trappenstein zu gelangen, lag an der verschlungenen Landstraße, die unschlüssig ihre Bögen zog. Störrisch und verschlossen lag es vor einem, nicht auf Besuch eingerichtet. Nicht einmal Luther oder Napoleon hatten hier übernachtet, nichts Markantes ragte empor, nichts Verborgenes wollte entdeckt werden. Schnell war man trotz einiger Kurven durchgefahren. Das nächste Dorf lag in Sichtweite, aufgereiht am Weg wie Pfähle eines Weidezauns.

Es wurde immer leerer, je weiter man vom Einfamilienhausspeckgürtel ins Dorf gelangte, das aus einem Würfelbecher hingeworfenem Klumpen aus Häusern, Scheunen und Hütten bestand. Ohne Konzept, fast ausnahmslos in Schwarzarbeit errichtet. Niemand machte sich Gedanken um Wettbewerbe, wie „Unser schönes Dorf“. Niemand hatte Blumen auf den Fensterbrettern oder Motorsägen-Schnitzkunst vor den Hofeinfahrten. Nicht einmal Honig aus eigener Herstellung. Nur gelegentlich gab es „Bargeld für Altgold“ an den Zäunen. Ein enges Haufendorf, für mehr hatte es nicht gereicht. Still wie in einem italienischen Dorf zur Mittagszeit hing der Tag wie eine Last über allem. Wie in einer Endlosschleife glich ein Tag dem anderen. Man kannte sich seit Ewigkeiten und konnte jeden Tag immer wieder über dasselbe reden. Manche sollen gestorben sein, ohne gemerkt zu haben, dass sie alt geworden waren.

Wenn man nicht aufpasste und trotz der unnötig scharfen Kurve einen Blick zur Seite wagte, konnte einem die Dorfwirtschaft „Zur fetten Trappe“ entgehen. Im Gegensatz zu den geschlossenen Gasthöfen in der Gegend brannte dort Licht. Abends war der Parkplatz voll, manche Autos hatten sogar fremde Nummernschilder. Obwohl der Name an die Figur der Wirtin erinnerte, war das Gasthaus schon viel älter. Vielleicht waren die Wirtsfrauen schon immer dick oder stand einst die Trappe auf der Speisekarte? Gegenüber ragte die Kirche empor; dunkel und vom Lärm des Gasthauses unberührt. Der halbnackte Mann am Holzkreuz im Kirchhof sah mit gequältem Blick dem Treiben zu. Auch er schien Durst zu haben.

Die Trappensteiner ließen sich nicht gerne in die Karten sehen. Nur manchmal schielte einer über den Zaun, hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass der Fremde weiterfuhr. Man hatte es nicht so mit Neuem oder Überraschungen, wenn einer aus dem Auto ausstieg, sich umsah oder Streckübungen machte. Wie in Theaterlogen verfolgten alte Frauen aus den Fenstern, auf ihre Brüste wie auf Kissen gestützt, die Fremden - oder ihre Männer. Nichts entging ihnen, während sie selbst unter ihren Kopftüchern im Verborgenen blieben. Von Zeit zu Zeit riefen sie sich Neuigkeiten über die Straße zu oder tauschten Rezepte aus. Manchmal schrien sie auch den Autofahrern etwas zu, wenn diese gar zu langsam durchs Dorf fuhren. Meist jedoch behielten sie ihre Männer im Blick, um diese zurechtzuweisen, wenn sie glaubten heimlich Bier trinken zu können.

Die Männer fuhren Traktor, mauerten schwarz und brannten schwarz, daran änderte das Alter nichts. Den Rest der Zeit verbrachten sie mit Trinken, Kartenspielen beim Wirt und dem Versuch, den Ehefrauen und anderen weiblichen Mitgliedern des Haushalts aus dem Weg zu gehen. Sie trugen aus Gewohnheit an den Ellbogen geflickte Arbeitsjacken und Hosen, die in Gummistiefeln steckten, obwohl in den Scheunen schon lange keine Kühe mehr standen. Nur Hühner und Stallhasen teilten sich die leeren Höfe, die aufgehört haben, nach Leben zu riechen. Mit Besen und Schaufeln in der Hand standen sie auf verlorenem Posten -immer älter und weniger. Nur die Zahl der Kreuze auf dem Friedhof wuchs. Es war der Sturm vor der Ruhe.

Dass viel gestorben wurde, lag nicht am ewigen Leben. Die meisten verließen mit von Schweinebraten, Bier und Tabak gezeichneten Körpern zu früh ihr irdisches Dasein. Bier floss in großen Mengen durch die meist männlichen Kehlen. Stärke und Potenz versprach es, doch die Frauen wussten es besser. Nur manchmal, wie beim Schützenfest oder zum Jahrestag der Inbetriebnahme der biologischen Kläranlage, trank man so viel, dass es lustig wurde und man sich prügelte.

Fast alle waren miteinander verwandt. Man blieb, wo man war und nahm, was es gab. Die Häuser standen schief geduckt, aus groben Feldsteinen gemauert trotzten sie der Ewigkeit. Große Plastikfenster waren in die alten Fassaden gehauen, die wie überdimensionierte, quadratische Ochsenaugen auf die Straße starrten. Panoramablick, Licht in die Stuben, hieß es. Doch auf was und wohin? Sie waren mit Gardinen verhangen, weil es nichts zu sehen gab, außer dem Leben des Nachbarn, das dem eigenen glich.

Die vom Neubaugebiet gehörten nicht dazu. Nicht einmal streiten würde man sich mit denen, so wie im alten Dorf, wo sich die Großväter schon gehasst hatten. Wo es über Generationen Streit um eine geklaute Fichte geben konnte. Wo man schon immer verwandt und deshalb verstritten war.

Im Neubaugebiet waren die Straßen gerade und die Häuser standen in Reih und Glied. Es wuchs wie ein Geschwür. Metastasen hatten sich im Dorf ausgebreitet, neue, bunte Häuser entstanden, wo Scheunen und verlassene Katen Platz gemacht hatten.

Die vom Neubaugebiet konnten unerwartete, unaussprechliche Namen haben, die man sich nicht merken konnte. Sie benahmen sich unauffällig und sahen auch so aus. Selten war mal einer wirklich dick, trug einen auffälligen Schnauzbart oder hatte stark abstehende Ohren. Die Frauen waren blond und hatten große Brüste, weil das, woher sie kamen, so üblich war.

Man sagt, es waren Russlanddeutsche, und dass sie ihre Häuser vom Staat geschenkt bekommen haben, weil sie das wegen des Frosts in Sibirien oder des Staubs in der kasachischen Steppe verdient hätten. Aber das war ungerecht, weil man in Südostoberfranken auch nie etwas geschenkt bekommen hatte. Und was heißt Sibirien, wenn man sich an Franz-Josef Strauß und die harten Winter in den 70er Jahren erinnerte.

Michl war von hier und doch ein Außenseiter. Lag es an der Abgeschiedenheit auf der Anhöhe oder an seinen handwerklich ungeschickten Händen, die bei der Sparkasse in der Stadt nicht schmutzig wurden? Und hätte er nicht besser eine Frau aus dem Dorf geheiratet? Hatte zu viel gesehen, war zu oft in der Stadt und zu wenig in der Kirche. War keiner von den Schwätzern, die jeder Biertisch wie das Bier den Hopfen brauchte. Die alles wussten und zu nichts taugten, weder Rechtsanwalt noch Direktor waren, sondern Milchlaster fuhren oder Dachrinnen bogen. Michl war keiner, der laut lachte. War wie sein Haus mit einer Mauer schon aus dem Dorf.

Trappenstein stand mit dem Rücken zur Wand, ein Kosmos aus Tradition und Inzucht, gegen den die Zeit arbeitete. Das Backhaus war verschwunden, die Brauerei ebenso wie der Schachclub. Selbst die Telefonzelle war zum Abriss freigegeben, zumindest sah sie so aus.

Nichts drang von hier nach draußen. Keine Zeitung schrieb, keine Website postete über Geschehnisse. Dass Dinge ihren Lauf nehmen könnten und Trappenstein im Rampenlicht stehen würde, war undenkbar.

Etwas schien die Welt in den Fugen zu halten. Doch irgendwann bricht die Kruste am dünnsten Punkt, hört das Gefüge auf zu ächzen, bevor es kracht.

Das Haus war in den Hang gebaut, als ob man Angst hatte, es könnte zu den anderen hinabrutschen. Der Keller war der Anker und wie ein Bergwerkstollen in den Felsen getrieben. Seit er die Birke gefällt hatte, sah es vor dem Haus nackt aus. Sie war zu groß geworden und verdeckte den Blick auf die Straße. Das hatte seine Frau so gewollt, denn sie liebte keine Überraschungen. Jetzt kam selten jemand den Weg vom Dorf herauf. Michl überlegte, einen neuen Baum an die kahle Stelle zu pflanzen, vielleicht eine Fichte, die schnell wachsen und mit ihren dicken, immergrünen Zweigen den leeren Weg verdecken würde.

Das Haus musste gewachsen sein, seitdem er allein darin wohnte. Wenn er von unten das Treppenhaus emporblickte, erschrak er vor den leeren Zimmern. Selbst der Klang hatte sich verändert und die wenigen Geräusche hallten nach, als ob sie nach Verstärkung riefen. Früher gab es im Stall noch Kühe, Schweine, ein paar Ziegen und einen Hund. Immer machte einer Lärm. Jetzt kamen die Geräusche wie aus dem Nichts, krochen aus den Wänden oder fielen von den Decken. Knarzten Balken, stöhnten Häuser, wenn sie einsam waren? Fehlte die Wärme der Menschen oder der Lärm der Kinder, den die dicken Wände aus Feldsteinen so gut verschluckten?

Michl erinnerte sich, als nach dem Krieg die Flüchtlinge aus dem Osten einquartiert worden waren. Die seltsam redeten und nur ein paar dürre Pferde mitgebracht hatten. Damals war das Haus voll bis unters Dach. In jedem Zimmer lebte eine Familie. Es wurde geliebt, geboren und gestorben – alles gleichzeitig. Damals, als man aufgehört hatte, die Hand zum deutschen Gruß zu heben. Als die Amerikaner ins Dorf gekommen waren, das sich rechtzeitig mit weißen Bettlaken geschmückt hatte. Das Haus hatte das Ende der Führerbilder an den Wänden nicht vergessen. Bei diffusem Licht sah man den alten quadratischen Schatten noch, König Ludwig, Hitler, Franz Josef Strauß. Der Rahmen hatte für alle gepasst.

Das Haus würde die stille Zeit überdauern. Es war für die Ewigkeit gebaut. Michl war der Letzte, nicht wie früher, als alle zusammen gelebt hatten. Als es nicht auffiel, wenn einer starb, weil ein anderer geboren wurde.

Vielleicht käme nach ihm...

Erscheint lt. Verlag 8.5.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7549-9564-2 / 3754995642
ISBN-13 978-3-7549-9564-8 / 9783754995648
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