Großes Spiel (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
336 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07378-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Großes Spiel - Hans Platzgumer
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100 Jahre nach dem Kant?-Erdbeben in Japan erzählt Hans Platzgumer von einem Machtvakuum, das politische Grabenkämpfe auslöst - aktueller denn je.
Ein Machtvakuum, das Ideologen zu nutzen wissen. Eine Naturkatastrophe, die ein Land aus den Angeln hebt. Hans Platzgumer erzählt anhand einer Epoche der japanischen Historie eine universelle Geschichte - fesselnd und fast unheimlich heutig.
Hauptmann Amakasu, strammer Diener der japanischen Geheimpolizei, blickt auf den Krieg seines Lebens zurück. Jahrzehntelang hat er im Schatten Kaiser Yoshihitos, der sich mehr für Gedichte und Pflanzen als für Politik und den Zustand seines Reichs interessierte, einen erbitterten Kampf gegen den Anarchisten und Aufrührer Sakae Ôsugi und seine Frau Itô ausgetragen. Bis das große Kantô-Erdbeben 1923 nicht nur Tokio zerstört, sondern auch politisch eine Stunde null einläutet.

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte Musik in Wien und Los Angeles, veröffentlichte Dutzende Tonträger und widmet sich heute vornehmlich der Schriftstellerei. Er schreibt Romane, Essays, Hörspiele, Theatermusik und Songs. Am Rand stand 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen Drei Sekunden Jetzt (2018), Willkommen in meiner Wirklichkeit! (Essay, 2019) und zuletzt bei Zsolnay seine Romane Bogners Abgang (2021) und Großes Spiel (2023).

二、


Taishô Romantica

Endlich war der Tag gekommen, da meine Zeit abgesessen war. Über ein Jahr in der Ichigaya-Haftanstalt in Tôkyô und danach noch die endlosen Monate in Chiba, wohin ich überstellt worden war. Es hatte sich auf meine Psyche ausgewirkt, auch wenn ich alles unternommen hatte, um meine Zeit hinter Gittern so sinnvoll wie möglich zu gestalten. Ich trottete dem Wärter, der mir mittlerweile vertrauter war als meine eigene Familie, durch den langen Flur des Gefängnistrakts hinterher, als hätte ich es nicht eilig. Er brachte mich an das große Tor des Gefangenenhauses.

»Auf Wiedersehen!«, sagte er mit ironischem Unterton und schob das Eisentor für mich auf.

Ich nickte ihm zu und trat zögerlich auf die Straße hinaus in die Freiheit.

Ein paar Genossen erwarteten mich. Auf der Heimfahrt wollte ich ihnen sogleich von meinen Erlebnissen in Haft erzählen, aber ich schaffte es kaum, fünf ordentliche Wörter über die Lippen zu bringen. Zwei Jahre lang hatte ich fast nicht gesprochen. So wie es mir zunehmend schwergefallen war, Tag und Nacht auseinanderzuhalten, war es immer schwieriger geworden zu unterscheiden, ob mir die vielen Gedanken, die ich verfolgte, bloß still durch den Kopf gingen, oder ob ich Fetzen von ihnen laut wiedergab. Mein Stottern hatte sich durch all diese Verwirrung verschlimmert. Ich war mir dessen nicht bewusst gewesen, aber jetzt, da ich mich mit alten Freunden unterhalten wollte, bemerkte ich es. Mehr als Stottern war es nun, ich war in eine vollkommene Unfähigkeit zur Kommunikation gerutscht. Es dauerte einen Monat, bis ich durch beharrliche Übung und Konzentration der Sprachlosigkeit wieder einigermaßen Herr wurde. Einen Monat lang trug ich, zu Hause und unterwegs, Stift und Papier mit mir, um schriftlich mit meinen Mitmenschen zu kommunizieren. Stumm war ich geworden. Als ein Domori, ein Sprachbehinderter, hatte ich das Gefängnis betreten; hinter seinen Mauern war mir die Sprache ganz abhandengekommen.

Meine Freunde gewöhnten sich bald daran, dass ich während unserer holprigen Konversationen aufschrieb, was ich nicht über die Lippen brachte. Leute, die mich nicht kannten, gingen davon aus, dass ich auch taub sein musste. Sie schrieben auf, was sie mir sagen wollten. Zögerlich und ein wenig beschämt reichten sie mir die Zettel.

Unzählige Male habe ich Ôsugis biografische Schriften gelesen, wieder und wieder seinen Werdegang studiert. Wie konnte in einem intelligenten Menschen so viel Widerwille gegen seine Kultur entstehen?

Sakae Ôsugi, 1885 in Shikoku als erster Sohn eines hohen Militärs geboren. Zwei jüngere Brüder, drei Schwestern. In der Echigo-Provinz, wo der Schnee das Land begrub und die Zeit stillstand, verbrachte er seine Kindheit. Dorthin ins Nichts war sein Vater, ein berittener Militärleutnant und ein Stotterer wie Ôsugi selbst, versetzt geworden.

Hat die Schande des beim Militär gescheiterten Vaters den Trotz des Sohns hervorgebracht? Oder war die Tatsache, dass Ôsugi im Alter von siebzehn Jahren selber unehrenhaft aus der Kadettenschule entlassen wurde, der Grund, warum er bei den Anarchisten landete? Ich stellte mir diese Fragen wieder und wieder. Ich versuchte, Ôsugis Psyche zu erforschen. Vielleicht verstrickte ich mich zu tief mit ihm? Wenn ich die Augen schloss, sah ich Ôsugi vor mir, seinen Kopf mit diesen übergroßen Augen, den schönen Kopf, die schönen Augen, seinen langen, athletischen, begehrenswerten Körper, dem die Frauen, eine nach der anderen, verfielen. Ôsugi wusste seine Attraktivität einzusetzen, seit seiner Jugend schon und immer schamloser, je mehr er ein Mann wurde. Ich verglich mich mit ihm und merkte, wie ich, sein Richter, ihm eigentlich unterlegen war. Die Natur verteilt so ungerecht. Die einen bekommen Größe, Kraft und Charisma. Die anderen bleiben klein und unscheinbar, ein Los, mit dem sie sich bis an ihr Lebensende abzufinden haben. Ôsugi war so viel mehr Männlichkeit gegeben als mir. Er hätte alles einfach haben können, was ich mir hart erarbeiten musste. Wie konnte er sein Glück einfach so wegwerfen, hinein ins Brachland revolutionärer Hirngespinste?

Unter Sadakos Einfluss hatte es den Anschein, als würde sich Yoshihito entwickeln und lernen, das ihm bevorstehende Kaiserleben zu meistern. Er schien zu sich zu finden, schien eine (wenn auch sonderbare) Persönlichkeit zu entfalten, schien in die Verantwortung hineinzuwachsen, die an ihn übergeben werden musste. Yoshihito flanierte in jener vielleicht unbeschwertesten Zeit seines Lebens durch den kaiserlichen Park und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen, anstatt sich hinter zugezogenen Schiebewänden im Schreibzimmer zu verkriechen. Sein Vater führte die Regierungsgeschäfte. Auf Yoshihito lastete kein Druck, und die tägliche Überwältigung seiner Sinne — die Düfte, Winde, Geräusche und Bewegungen, all die Sensationen der Natur, denen er sich immerzu ausgesetzt sah — hatte er nicht alleine durchzustehen. Er konnte sich Sadakos Unterstützung und ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit gewiss sein. Noch standen die Kinder, die vier Söhne, die er mit ihr zeugen würde, nicht zwischen ihnen und auch der Thron nicht mit seinen Pflichten und der mit ihm einhergehenden Entfremdung von allem, was Yoshihito lieb war. Das junge Paar wurde in Frieden gelassen. Man schirmte es von der Außenwelt ab, ließ ihm sein Glück.

Unter diesen Bedingungen geriet die Meningitis, an der Yoshihito als Kind erkrankt war und deren Folgen ihn sein ganzes Leben hindurch beeinflussten, mehr und mehr in Vergessenheit. Sein gesundheitlicher Zustand verbesserte sich. Die Kopfschmerzen wurden erträglicher. An Sadakos Seite unternahm Yoshihito stundenlange Spaziergänge, ließ sich von ihr so manches Wunder der Flora erklären und sog die Frühlingsluft in tiefen Zügen ein. Gemeinsam mit seiner Frau bewunderte er die Kirschblüten, und in Gesprächen, die sie unter Rücksichtnahme auf seine Labilität zu führen wusste, erlernte er, die Regeln zwischenmenschlicher Konversation besser zu meistern. Seine Angst verblasste in diesen frisch vermählten Jahren. Wenn auch mit schwächlicher Stimme und spürbarer Verzögerung, bald wusste Yoshihito besonnene Antworten zu geben, anstatt ängstlich auszuweichen, wenn die Gefolgschaft oder das Personal Fragen an ihn richteten. Anstelle der ständigen Überforderung, die seine kränkliche Jugend geprägt hatte, trat nun ein Selbstbewusstsein, das eines Kaisers würdig war. Hatte sein Geist früher nicht der Geschwindigkeit folgen können, mit der sich die Erde drehte, so wirkte Yoshihito inzwischen, wenn auch nach wie vor von kränkelnder Natur, wie ein Mann, ein Ehemann, ein Thronfolger, der lernte, mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Er würde mehr als bloß ein Narr, ein Geck sein, hoffte man. Es schien nicht länger undenkbar, dass sich Yoshihito eines Tages als Führer eignete.

Von seinem Stottern ließ sich Ôsugi in seiner Berufung als Aktivist nicht aufhalten — so wie auch ich trotz physischer Benachteiligungen, trotz meiner unstattlichen Körpermaße oder schlechten Augen, sogar trotz meines hinkenden Beins die militärische Karriere vorantrieb. Wäre ich damals, 21 Jahre alt, im ersten Jahr Taishô, in der Kadettenschule nur nicht vom Pferd gestürzt … Hätte dieses Ross sich nicht an einem plötzlichen Knall erschreckt, der aus einem Maschinenraum drang … eine Fehlzündung in einer Werkstatt, an der ich in vorbildlicher Haltung vorbeiritt. Wäre dieses mir unbekannte Tier, das ich an jenem Tag zum ersten und letzten Mal ausritt, nicht auf einmal hochgefahren, hätte es nicht wild schnaubend die Vorderhufe in die Höhe und mich von seinem Rücken geworfen; mein Leben wäre anders verlaufen. Ich wäre wohl als Soldat in die großen Kriege gezogen, hätte gegen Chinesen, Koreaner, Russen, Amerikaner gekämpft. Vielleicht wäre ich an der Front gestorben? Schließlich trage ich das Erbe eines uralten Samurai-Geschlechts in mir. Über Generationen hinweg hat meine Sippe dem Kaiser gedient, immer gab es für uns nur diesen einen Sinn im Leben: dem Wohle Japans mit dem Schwert zu dienen und bereit zu sein, sich mit demselben Schwert gegebenenfalls selbst zu richten. Dies hätten mein Leben und mein Tod sein sollen. Stattdessen schlug ich hart, mit ausgedrehtem Knie, auf dem Lehmboden auf. Das verstörte Pferd zertrampelte mich im Stakkato seiner Hufe fast. Ich wälzte mich wie ein...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Erdbeben • Geschichte • Japan • Kaiser • Kanto • Katastrophe • Klimakrise • Klimawandel • Machtkampf • Militär • Österreich • Politik • Rivalen • Tokio
ISBN-10 3-552-07378-7 / 3552073787
ISBN-13 978-3-552-07378-4 / 9783552073784
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