Die Regeln des Spiels (eBook)

Roman

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eBook Download: EPUB
2023
384 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27855-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Regeln des Spiels - Colson Whitehead
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Lässig, böse, humorvoll - der neue Roman von Colson Whitehead über die wilden Siebziger im schwarzen New York
Ray Carney will von krummen Geschäften nichts mehr wissen. Er hält sich raus aus dem täglichen Chaos New Yorks, wo Gangster sich Schießereien liefern und die Black Liberation Army zum bewaffneten Kampf aufruft. Wäre da nicht seine Tochter May mit dem schier unerfüllbaren Wunsch nach einem Ticket für das Konzert der Jackson Five. Ray muss sein altes Netzwerk aktivieren - auf die Gefahr hin, sich selbst wieder zu verstricken. Als in Harlem ganze Wohnblocks in Flammen aufgehen, beauftragt er Pepper, der wie kein zweiter die Regeln des Spiels kennt, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Whiteheads grandios unterhaltsamer Roman über das schwarze New York der wilden Siebziger ist ein großes Sittengemälde Amerikas.

Colson Whitehead, 1969 in New York geboren, studierte an der Harvard University und arbeitete für die New York Times, Harper's und Granta. Whitehead erhielt den Whiting Writers Award (2000) und den Young Lion's Fiction Award (2002) und war Stipendiat des MacArthur 'Genius' Fellowship. Für seinen Roman Underground Railraod wurde er mit dem National Book Award 2016 und dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet. Für seinen Roman Die Nickel Boys erhielt er 2020 erneut den Pulitzer-Preis. Bei Hanser erschienen bisher John Henry Days (Roman, 2004), Der Koloß von New York (Eine Stadt in dreizehn Teilen, 2005), Apex (Roman, 2007), Der letzte Sommer auf Long Island (Roman, 2011), Zone One (Roman, 2014), Underground Railroad (Roman, 2017), Die Nickel Boys (Roman, 2019) und Harlem Shuffle (Roman, 2021). Der Autor lebt in Brooklyn.

1


Von da an musste er jedes Mal, wenn er den Song hörte, an Munsons Tod denken. Immerhin waren es die Jackson 5, die Ray Carney nach vier Jahren auf dem rechten Weg wieder ins Spiel brachten. Der rechte Weg — das bezeichnete eine Philosophie und ein Territorium, ein Viertel mit Grenzen und ortsüblichen Sitten. Manchmal, wenn er auf dem Weg zur Arbeit die Seventh Avenue überquerte, murmelte er die Worte vor sich hin wie ein Säufer, der versucht, auf dem Heimweg von den Bars nicht über den Bürgersteig zu torkeln.

Vier Jahre ehrlicher, einträglicher Arbeit in der Möbelbranche. Carney stattete Frischvermählte für ihre Entdeckungsreise aus und passte Wohnzimmer an verbesserte Lebensumstände an, lotste Ruheständler durch das ganze Spektrum moderner Ruhesessel-Optionen. Das war eine große Verantwortung. Erst vergangene Woche hatte ihm eine seiner Kundinnen gesagt, ihr Vater sei »mit einem Lächeln im Gesicht« im Schlaf verschieden, während er in einem bei Carney’s Furniture gekauften Sterling Dreamer gelegen habe. Der Mann habe fünfunddreißig Jahre lang als Installateur bei der Stadt gearbeitet. Seine letzte Empfindung auf Erden war die üppige Liebkosung dieses Polyurethan-Schaumkerns gewesen. Carney war froh, dass der Mann zufrieden abgetreten war; wie tragisch, wenn der letzte Gedanke »Ich hätte doch den Naugahyde nehmen sollen« gewesen wäre. Er handelte mit Zubehör. Mit stilvollen Accessoires für gesichtslose Räume. Das klang langweilig. War es auch. Es war außerdem stärkend, so wie zu schwach gewürztes Essen und verwässerte Drinks gleichwohl Nahrung, wenn auch kein Vergnügen bieten.

Es fand keine Abschiedsfeier statt, als er sein Amt niederlegte. Keiner überreichte ihm für seine vielen Dienstjahre eine goldene Uhr, aber an goldenen Uhren hatte es ihm auch nie gemangelt, seit er Hehler geworden war. An dem Tag, an dem Carney sein zweites Standbein aufgab, hatte er eine Schachtel voll davon in seinem Bürotresor, mit den Namen von Fremden gravierte Stücke. Er war damals schon eine ganze Weile nicht mehr bei seinem Uhrenabnehmer in Mott Haven gewesen. Sein Abschied vom Geschäft mit gestohlenen Gütern bestand im Wesentlichen darin, dass er frühere Kunden abwies und sie bat, in ihrem Zirkel weiterzusagen: Carney ist raus.

»Wie, raus?«

»Ich steige aus. Bin damit fertig.«

Die Tür auf die Morningside, einst in die Hauswand gebrochen, um das nächtliche Geschäft zu erleichtern, wurde zum unschuldigen Einlass für Nachmittagslieferungen. Zwei Wochen nach dem Fortuna-Raub klopfte Tommy Shush mit einer unter den Arm geklemmten, schwarzen Lederaktentasche an die Morningside-Tür. Carney warf einen Blick auf die Diamanten, um seine Entschlossenheit auf die Probe zu stellen — und wünschte dem Dieb viel Glück. Am nächsten Tag erschien nach Feierabend Cubby der Wurm, einer seiner weißen Stammkunden, mit »richtig heißem Zeug«. Cubby war auf ausgefallene Ware spezialisiert, die loszuschlagen Jahre dauerte — der Mann steckte bis über beide Ohren in chinesischen Pogo-Sticks und Strumpfhosen, die in Plastikeiern verpackt waren. Carney schickte ihn weg, ehe er den abwegigen Fang der Woche beschreiben konnte — nicht persönlich gemeint.

Nach und nach hörten sie auf vorbeizukommen, die Diebe, nur vorübergehend verstimmt, weil es in einem so riesigen, komplizierten und korrupten Unternehmen wie New York immer eine andere Hand, einen anderen Kanal, einen anderen möglichen Deal gab.

*

»Fassen Sie mal an — er beißt nicht. Man kommt sich vor, als greift man in eine Wolke am Himmel.«

Auf der anderen Seite des Ausstellungsraums zog Larry gerade einen Kunden an Land, ein verschrumpeltes Exemplar, das unentwegt ein rotes Barett in den Händen drehte. Mit hängenden Schultern und welk. Carney lehnte sich an den Rahmen seiner Bürotür und verschränkte die Arme. Eine verlässliche Untergruppe seiner Kundschaft bestand aus alten Männern, die viel Geld für einfache Dinge ausgaben, die sie sich lange versagt hatten. Dann bohrten sich die Federn des knarzenden Sessels durch zu viele Hosenböden, oder der Arzt verschrieb Mittel gegen Kreislaufprobleme und unklare Schmerzen, und sie kamen hierher. Carney war dankbar dafür, was er an ihnen hatte, und malte sie sich aus, die alten Männer, die allein in Eisenbahnerwohnungen mit schiefen Böden oder in trübe beleuchteten Einzimmerbuden hausten: Busfahrer, die sich nach einem neuen Lehnsessel umtaten, in dem sie sitzen und Suppe essen konnten, während sie über Rennprogrammen brüteten, Kassierer in Schnellreinigungen, die sich nach etwas sehnten, wo sie die müden Füße hochlegen konnten. Die Verlassenen. Sie feilschten nie um Preise, zwar verärgert darüber, ihre Ersparnisse angreifen zu müssen, zugleich aber stolz darauf, das Geld zur Hand zu haben.

Der fragliche Artikel war ein 1971er-Egon-Clubsessel mit Scotchgard-Tweedpolsterung. Ein auf Pro-Slide-Messingrollen schleichendes Ungetüm an Komfort. »Wolke am Himmel«, wiederholte Larry.

Als der Kunde in den Laden gekommen war, hatte er Larry die Hand gegeben und sich als Charlie Foster vorgestellt. Jetzt ließ er die Fingerspitzen über den grün-braunen Stoff tanzen und gluckste vergnügt wie ein Kleinkind.

Larry zwinkerte Carney zu. Als Rusty, Carneys langjähriger Verkäufer, sich den Rücken verrenkte und dreieinhalb Monate ausfiel, brauchte Carney einen Ersatzmann. Larry erschien am zweiten Tag der Vorstellungsgespräche und blieb.

Larry war eine Studie in beherrschter Ungezwungenheit, eine langsame Entfaltung reinen Stils. Begrüßte man ihn, wenn er zur Arbeit erschien, hob er zwei Finger zu einer Geduld heischenden Geste, als befände er sich gerade mitten in einem transatlantischen Gespräch mit einer ausländischen Macht, und reagierte erst, nachdem er seine gestreifte Weste, die Schlaghosen und den Bucket-Hut — oder was auch immer an diesem Tag das schicke Gefieder seiner Wahl war — abgelegt hatte. Sobald er seine Verkäufer-Kluft trug, ließ er endlich ein samtiges »Was liegt an, Baby?« vernehmen.

Er gehörte jener Gattung von schwarzem Akteur an, der sich so geschmeidig durchs Leben bewegte, dass alle anderen Baby waren — alter Mann, junge Mutter, rotgesichtiger Streifenpolizist. Der übliche Spießer würde ihn wegen seines kecken Lächelns und des Stroms rasanter Sprüche als glatt bezeichnen, was Larry als Kompliment auffassen würde. Im Verkauf war glatt ein Aktivposten. Er war erst einundzwanzig, hatte aber schon viele Leben gelebt, auch wenn Carney den Verdacht hegte, dass er, fünf Minuten bevor er ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, fix und fertig einem Bottich Harlem Cool entstiegen war. Gardemanger in einem Hotel in der Madison Avenue; Formschnittgärtner auf zwei Friedhöfen; Chauffeur der Ehefrau eines Marmor-Magnaten aus Connecticut; Hundeausführer im Gotham Veterinary Center, wofür, wie Carney vermutete, irgendeine Spezialausbildung oder Genehmigung erforderlich war, aber egal. Und jetzt Deputy Sales Associate bei Carney’s Furniture in der 125th Street, »Gediegene Möbel für die Allgemeinheit seit über 15 Jahren«.

»Überstunden keine, an jedem Finger eine«, sang Carneys Sekretärin Marie gern und klaute die Melodie dazu aus der Patty Duke Show. Wie Carneys verstorbener Cousin Freddie beanspruchte Larry uptown, downtown und jeden Meridian des Vergnügens dazwischen als seine Jagdgründe. Sich Larrys Chroniken von New York bei Nacht samt deren vielfältigen Mitwirkenden anzuhören war so, wie wenn man in der guten alten Zeit von Freddie einen Bericht am Morgen danach bekommen hätte. Es hob Carneys Stimmung.

Carney behielt Larry, nachdem Rusty wieder auf die Beine gekommen war. Arbeit gab es mehr als genug, und Carney musste nicht mehr so viel Zeit im Verkauf verbringen. Es war, als wären sie im Laden schon immer zu viert gewesen. Auch wenn er zerknittert und übernächtigt war, ließ sich Larry das gegenüber den Kunden niemals anmerken. Lass deine Geheimnisse stecken — bei Carney’s Furniture eine unausgesprochene Arbeitsplatzanforderung. Manchmal trug Marie...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2023
Übersetzer Nikolaus Stingl
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Crook Manifesto
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • Black Liberation Army • Gangster • Harlem • Jackson Five • New York • Pulitzer • Schießerei • Siebziger • Straßenkampf
ISBN-10 3-446-27855-9 / 3446278559
ISBN-13 978-3-446-27855-4 / 9783446278554
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