Nichts Besonderes (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
272 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27887-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nichts Besonderes - Nicole Flattery
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'Ich liebe Nicole Flatterys Schreiben.' (Sally Rooney) Ihr Debütroman ist eine Coming-of-Age-Geschichte über die Freundschaft zweier Frauen im New York der 1960er Jahre.
Mae ist siebzehn, als sie anfängt, für Andy Warhol zu arbeiten. Sie soll die Gespräche abtippen, die er mit seinen berühmten Freunden führt. Eben erst den tristen Großstadträndern entlaufen, kennt Mae davon nur die wenigsten. Und doch fühlt sie sich zum ersten Mal am richtigen Ort: Zwischen all den exzentrischen Menschen sind ihre sonst so bizarren Sehnsüchte plötzlich originell und willkommen. In dieser schillernden Welt wird die neue Kollegin Shelley zu Maes Kompass, die Schreibmaschine zu einer Verlängerung ihrer selbst und die 'Factory' zu ihrem Zuhause. Bis sie sich in dem surrealen Abenteuer, dessen dunklen Sog sie erst zu spät zu fürchten lernt, vollkommen verliert.
Ein eigensinniger, großartiger Roman über die Grenzen weiblicher Unabhängigkeit und die Unwahrscheinlichkeit guter Kunst.

Nicole Flattery, geboren 1990, lebt in Dublin. 2017 erhielt sie den White Review Short Story Prize, was zur Veröffentlichung ihres ersten Erzählbandes führte. Zeig ihnen, wie man Spaß hat erschien 2020 bei Hanser Berlin. Nichts Besonderes (2023) ist ihr Debütroman.

Schöne Stadt.


2010

Meine Mutter besaß ein Buch, aus dem sie mir gerne vorlas, als ich klein war. Sie muss wohl irgendwo aufgeschnappt haben, dass es gut sein soll, sein Kind zu bilden. Auf diese Tatsache wird sie damals im Nebel vieler anderer Tatsachen gestoßen sein. Vielleicht hat sie ja sogar irgendwann eine Mutter mit ihrer Tochter auf einer Bank sitzen sehen, wie sie sich Seite für Seite durch ein Buch arbeiteten und die Mutter nur innehielt, um die Tochter auf die Stirn zu küssen. Bestimmt sahen die zwei dabei so aus, als hätten sie es besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Von solchen Bildern ließ meine Mutter sich oft ergreifen und wurde sie dann nicht mehr los.

Ich glaube, sie hatte das Buch aus einem Museumsshop. Es hatte genau den Glanz, dieses unerschütterlich Nette und Ansprechende eines Museumsshops. Auf seinen Seiten waren verschiedene Bauernhoftiere abgebildet und ihre diversen Eigenschaften aufgelistet. Meine Mutter hatte wohl ein schlechtes Gewissen, weil sie mich in der Großstadt aufwachsen ließ, umgeben von Lärm und Kriminalität. Den überall hingeschmierten Graffiti, die von der Unzufriedenheit der Massen zeugten.

Der Bauernhof kam spät. Ich war längst zu groß für dieses Buch. Das begriff ich damals schon. Ich war in einem Alter, in dem mir allmählich auffiel, wie unkonventionell unser Leben war — unsere Familienverhältnisse, unsere trostlose, klapprige Wohnung, die Aura, die unser Trio umgab, das Diner, unsere dreckige und düstere Straße. Mein Vater war nicht da, und selbst wenn, behauptete meine Mutter, dann hätte er sich nicht fürs Lesen interessiert. Er sei nicht besonders klug gewesen. Peinlich war ihr das nicht, wozu mussten die Männer, mit denen sie ins Bett ging, auch klug sein? Das sei, befand meine Mutter, reine Eitelkeit. Sie hielt so einiges für Eitelkeit. Als ob man klug sein musste, um auf eine Buchseite zu zeigen. So lernte ich nie meinen Vater kennen und er nie dieses Buch, in dem Schafe eine existentielle Bedeutung annahmen. Auf mich wirkten sie immer unheimlich, wenn ich zusammen mit meiner Mutter auf dem Boden hockte. Irgendetwas ging da noch vonstatten hinter ihrer ruhigen, gutmütigen Possierlichkeit.

Wenn es schon spät war und meine Mutter getrunken hatte, wurde vieles, was sie sagte, unberechenbar. Oft zeigte sie dann auf eine Kuh und sagte: »Das ist ein Schaf.«

»Ein Schaf«, wiederholte ich.

Ich wusste, es war gefährlich, sie zu verbessern. Aber im Herzen wusste ich auch, dass es kein Schaf war. Ein Schaf hätte noch einen wolligen Glorienschein um den gezeichneten Körper gehabt. Das verunglimpfte Tier sah uns aus dem Buch entgegen, als wollte es sagen: Ich habe nichts falsch gemacht. Das ist eine meiner glücklichsten Erinnerungen. Die Anwesenheit und ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Mutter waren besonders, unwiderstehlich. Ich glaube, das spürten alle in ihrer Gegenwart. Ich war so gerne ganz nah an ihrem weichen Gesicht, sah die sanften Falten auf ihrer Stirn, spürte ihren süßen Atem am Ohr, während sie mir Lügen einflüsterte. Stille, nichts — nur meine Mutter, die mit zittriger Hand umblätterte. Dann zeigte sie auf ein anderes Tier, einen Esel etwa, und sagte: »Das ist ein Schaf.«

»Ein Schaf«, wiederholte ich.

Ich machte alles mit. Bis ganz zum Schluss. Jedes Mal, wenn ich ins Seniorendorf meiner Mutter kam — sie sagten immer Dorf dazu, als würden dort alle fröhlich auf dem Fahrrad über die Landstraßen kurven — und jemand von den Pflegekräften wissen wollte, worüber ich mich mit meiner Mutter unterhalten hätte, sagte ich schlicht: »Über Schafe.« Mit dieser Art von lauem, sinnentleertem Humor begegne ich inzwischen meinem Alltag. Da, wo ich jetzt seit dreißig Jahren lebe, muss man nicht geistreich sein. Solche Bedürfnisse kennen wir nicht. Es geht eher um Übereinstimmung. Ich habe genauso einen stinknormalen Tag wie ihr, meine Gedanken sind genauso genormt wie eure. Das Lachen hier ist keusch.

Mitte der Neunzigerjahre, als meine Mutter und ich noch nicht wieder miteinander redeten, war ich auf einmal ganz besessen von diesem Bauernhofbuch. Ich hatte ein paar persönliche Probleme, von denen ich, wie alle schwierigen Menschen, glaubte, sie seien direkt auf mein Verhältnis zu meiner Mutter zurückzuführen. War ich fürsorglich genug? War ich verantwortungsvoll? Auf beide Fragen lautete die Antwort Nein, und das lag ziemlich sicher daran, dass meine Mutter mir nicht genug vorgelesen hatte, als ich klein war. Dann fiel mir das Bauernhofbuch wieder ein. Seit Kurzem stand mir das Internet zur Verfügung, und ich machte mich auf die Suche nach Informationen. Schließlich schrieb ich eine Mail an den verantwortlichen Verlag. Ich hielt das für eine höchst gewinnbringende Handlung. Eine spirituelle Mission. Außerdem glaubte ich, es meiner Mutter schuldig zu sein. Damals arbeiteten sich alle erst langsam ins Mailschreiben ein. In den Zeitschriften, die ich abonniert hatte, standen Artikel dazu — wie man E-Mails verschickt, wie man sie empfängt, die richtige Etikette, so lernten wir, eine Sprache zu benutzen, die wir noch nicht beherrschten. Begrüßen, arschkriechen, verabschieden. Alles Liebe. Die Rechner standen noch dick und weiß im Vorzimmer, wo ihre Besitzer sie im Auge behalten konnten. Mit der Tastatur kam ich instinktiv zurecht. Ich bilde mir ein, dass wir uns auf Anhieb erkannt haben.

Ich glaube, anfangs war der Verlag erschrocken, weil ich so viele Mails schickte — etwa alle fünf Minuten schoss eine neue aus mir heraus wie der kreischende, mechanische Vogel aus einer Kuckucksuhr. Eine neue Mail, eine neue Idee, eine neue Vision. Als Empfängerin musste ich mir zwangsläufig ein Mädchen von höchstens Anfang zwanzig denken. Ich sah sie an einem aufgeräumten Schreibtisch sitzen, sorgfältig frisiert, viel kultivierter als ich in dem Alter, mit einem gesunden, sommersprossigen Teint infolge einer Bildungsreise nach Europa, wobei der ganze Aufwand nur eine innere Unordnung überdeckte, eine finstere Ungeduld. Ihr erzählte ich, meine Mutter habe dieses Bauernhofbuch geliebt. Ich hätte keine Ahnung, wo sie es akquiriert habe. Das Wort »akquiriert« wählte ich ganz bewusst, um den Ton zu setzen. Akquiriert. In dieser neumodischen Sprache klang alles hohl. In meiner zweiten Mail erkundigte ich mich, wann das Bauernhofbuch denn erschienen und wer daran beteiligt gewesen sei. In der dritten führte ich aus, es sei ja schließlich nichts Merkwürdiges daran, ein Buch zu lieben. Die Urheber des Bauernhofbuchs — ob sie wohl noch lebten? — hätten ja nicht ahnen können, in welchen Bann sie das Herz meiner stolzen Mutter schlagen würden, als sie die Tiere in genau dieser spezifischen Gruppierung zusammenstellten, als sie sich diese Schafe mit ihren gutmütigen Mienen ausdachten und sie zu Papier brachten.

In jener Zeit, der Zeit meines Mailens, empfand ich die Leere meiner Wohnung wie einen Faustschlag. Ich hatte im Leben etliche lohnende Beziehungen geführt, inzwischen konnte ich mich aber nicht mehr so leicht verlieben wie früher. Was blieb stattdessen zu tun, wohin mit der ganzen Energie und Aufmerksamkeit? Sammeln, Kaufen. Meine Wohnung schien plötzlich Unmengen Zimmer zu haben, und ich hatte den Wunsch, sie alle zu füllen. Meine Besitztümer lächelten mir in frischer Kameradschaft entgegen. Während ich auf Antworten auf meine E-Mails wartete, sah ich mir Websites an, die dafür gemacht waren, mich, eine leicht verführbare Frau von Mitte vierzig, anzusprechen. Wahrscheinlich wusste ich einfach nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Das hatte ich nicht mehr richtig im Griff. Ich brauchte Möbel, die ich stundenlang im Zimmer herumschieben konnte. Ich brauchte die passenden Hosen und Blusen, um am Schreibtisch zu sitzen und zu tippen. Ich musste aussehen wie eine Tippse, das war unerlässlich: grau, gnadenlos und leicht zu vergessen. Eine Rolle, wie ich sie früher einmal so überzeugend gespielt hatte.

Diesem Projekt widmete ich mich etliche Wochen lang. Schätzungsweise habe ich mehr als zweihundert E-Mails verschickt, und fast alle enthielten unverlangte Informationen. Ich berichtete, dass meine Mutter in einem Diner gearbeitet habe, von unserer Wohnung aus ein Stück die Straße hinunter. In dieser Hinsicht habe sie ein eingeschränktes Leben geführt — wobei ihre Arbeit sie keineswegs bemitleidenswert mache. In einer besonders schwatzhaften Mail schilderte ich einen Tag aus dem Leben meiner Mutter. ...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2023
Übersetzer Tanja Handels
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 60er • Arbeit • Coming of Age • Dinner • Drogensucht • Erwachsenwerden • Existenzangst • Factory • Glasglocke • Illusionen • Jugend • Kaufhaus • Kunstwelt • Manhattan • Misogynie • Naoise Dolan • New York • nothing special • Partys • Plath • sally rooney • Sekretärin • Talent • Teenager • Warhol • Working Class
ISBN-10 3-446-27887-7 / 3446278877
ISBN-13 978-3-446-27887-5 / 9783446278875
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