Schaurige Nächte (eBook)

Unheimliche Geschichten für den Winter
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
288 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-6078-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schaurige Nächte -  Bridget Collins,  Imogen Hermes Gowar,  Kiran Millwood Hargrave,  Andrew Michael Hurley,  Jess Kidd,  ELI
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Lange, kalte Winternächte: Zeit, um den Kamin zu entzünden, Zeit für Geistergeschichten. Ob in den wilden Mooren von Yorkshire, auf dem verschneiten Gelände eines Spukhauses oder auf dem belebten Londoner Weihnachtsmarkt - diese Geschichten, die von Gespenstern vergangener Tage erzählen, jagen den Lesenden die köstlichsten Schauer über den Rücken. So herrlich britisch wie ein Yorkshire Pudding, so stimmungsvoll und gruselig wie >Eine Weihnachtsgeschichte< von Charles Dickens und so spannend, dass man dieses Buch kaum aus den Händen legen kann. >Schaurige Nächte< vereint acht Erzählungen ausgewiesener Gruselexpert*innen, die eine alte Tradition neu beleben: Als Meister*innen des Unheimlichen und Makabren bescheren sie uns den köstlichsten Nervenkitzel.

Bridget Collins, Imogen Hermes Gowar, Kiran Millwood Hargrave, Andrew Michael Hurley, Jess Kidd, Elizabeth Macneal, Natasha Pulley, Laura Purcell sind vielfach ausgezeichnete und allesamt ins Deutsche übersetzte Autor*innen.

Imogen Hermes Gowar

THWAITES MIETER

ES REGNETE IN STRÖMEN, als wir ankamen, es war ein wahres Unwetter, das die Pferde verschreckte. Die Nacht war pechschwarz, und während das Wasser über die Fenster der Kutsche spülte, dachte ich: Die Flut ist gekommen, um uns alle fortzuschwemmen. Ich drückte den kleinen Stanley noch fester an meine Brust, aber er schlief fest und bekam von alldem nichts mit. Das ist meine Strafe, dachte ich, hielt aber die Tränen zurück, weil, wenn meinem Vater etwas aufgefallen wäre, hätte er nur gesagt: »Tust du dir selbst leid?«

Wir waren zunächst gut vorangekommen, aber der Regen wurde immer schlimmer und die Kutsche langsamer. Sie schlingerte und rutschte. Wieder und wieder steckte mein Vater den Kopf aus dem Fenster, um mit dem Kutscher zu reden, und wenn er ihn wieder hereinholte, lief ihm das Wasser über Nase und Bart. Der Kutscher verfluchte und lobte die Pferde in einem Atemzug, und je mehr unser Gefährt wankte, die Tiere gegeneinanderstießen und Stanleys Kopf auf meiner Schulter hin- und herrollte, umso größer wurde meine Angst. Endlich hielten wir an einer Stelle, an der die Straße sich teilte, und fuhren nicht wieder an.

»Alles in Ordnung?«, rief mein Vater, und der Kutscher antwortete etwas, das ich nicht verstand. »Verflixt!«, sagte mein Vater, sprang nach draußen, und seine Stiefel versanken im Matsch. Wasser floss unter den Rädern der Kutsche hindurch, die Straße war zu einem Fluss geworden, und ich saß ganz allein mit meinem kleinen Jungen da und hielt seine Wange mit meiner Hand.

Als mein Vater wieder einstieg, sagte er: »Es geht nicht mehr. Wir müssen zu Fuß weiter.«

»Was? Wie weit?«

Er fragte den Kutscher. »Zwei Meilen, ein bisschen mehr.«

»Wir sind eine Frau und ein Kind«, rief ich. »Von uns kann doch nicht erwartet werden …«

»Dummkopf! Die Pferde rutschen weg, wenn wir weiterfahren. Die Kutsche wird umstürzen. Du begibst dich offenbar lieber in Gefahr, als es ungemütlich zu haben.«

Wenn das so wäre, hätte ich sagen können, wäre ich noch zu Hause. Aber ich biss mir auf die Zunge und machte mich daran, Stanley zu wecken, der sein Gesicht nur noch tiefer in meinen Mantel grub und seine Finger mit meinen verschränkte. »Wir müssen ein Stück zu Fuß gehen«, sagte ich. »Kannst du das?«

»Mama, nein!«

»Ich trage ihn«, sagte mein Vater. »Du nimmst deine Reisetasche, die Truhe muss zurückbleiben.« Sie war aufs Dach der Kutsche geschnallt, und ich rang die Hände bei dem Gedanken daran – meine Kleider, meine Nadeln, meine Tücher, Stanleys Spielzeug und seine Bücher, das alles rutschte da oben auf der Kutsche hin und her, Regenwasser sickerte durch die Ecken und Fugen der Truhe und beschmutzte, was gut und schön war.

Ich hob Stanley von meinem Schoß und gab ihn meinem Vater. Er schrie verängstigt auf, der kleine Kerl, doch ich fand keine Worte, um ihn zu trösten. Niemand reichte mir die Hand, um mir aus der Kutsche zu helfen, ich sprang praktisch ins Nichts und landete stolpernd auf der Straße. Ich kam mir auf der Stelle komplett durchnässt vor, aber als die Kutsche im Regen verschwand und wir die abzweigende Straße weitergingen – schmal, ungepflastert, bergauf führend –, bekam ich erst einen Begriff davon, wie nass ein Mensch wirklich werden kann. Das Wasser drang unter meine Haube und in mein Haar, es lief mir zwischen den Schulterblättern hinab und fing sich zwischen den Knochen meines Korsetts, aus dem Luftblasen aufstiegen, als wären es fleischliche Wesen. Meine Röcke klebten mir an den Beinen, und jeder Schritt war mit der Angst verbunden, der Boden unter meinen Füßen würde nicht halten. Das Wasser rauschte durch meine Stiefel, und ich dachte: Jetzt ist alles ruiniert.

Blind, taub, stumm, ich folgte der dunklen Silhouette meines Vaters, der sich, Stanleys kleinen Körper tragend, vor mir vorankämpfte. Mir kamen die Tränen, nicht meinetwegen, sondern wegen meines kleinen Jungen, der nichts von dem hier gewollt hatte, der glücklich gewesen war, wo er war, mit seinen Spielzeugen und seinem Lieblings-Kletterbaum, mit Dash, seinem Hund, seinem Kindermädchen und – Gott vergib mir! – seinem Vater. Welches Recht hatte ich, ihn hierher zu zerren, wo er doch nichts mit dem Streit zu tun hatte? War ich so selbstsüchtig, wie mein Vater sagte?

Ich zitterte am ganzen Leib, als wir das Haus erreichten. Es gab eine schmale Zufahrt zwischen hohen Mauern und dann Steinstufen, alle unterschiedlich hoch, die mich stolpern und wegrutschen ließen. Mein Vater hatte seinen Wetterumhang um Stanley gezogen, und ich sah die winzigen blassen Händchen, die sich an seinen Hals klammerten, den blonden Kopf, der auf seiner Schulter lag. Oh, was habe ich getan?

Das alte Haus der Thwaites stand bei mir und meiner Schwester in zweifelhaftem Ruf. Wir selbst waren nie dort gewesen, aber unser Vater, und das öfter, als wir es für nötig hielten. Manchmal fuhr er ein Jahr oder länger nicht hin, aber wann immer er sagte, er habe »bei Skipton zu tun« oder »Geschäfte in Bradford zu erledigen«, wechselten Mariana und ich einen Blick, denn in der Richtung, das wussten wir, lag auch das alte Haus der Thwaites. Mein Vater war in jungen Jahren einmal ein gut aussehender Mann gewesen – war es immer noch –, und es schien offensichtlich, was er dort zu tun hatte. Ich stellte mir das Haus kitschig und überladen vor, mit dicken Teppichen und schweren Vorhängen, Schränken voller exotischer alkoholischer Getränke und raschelnder, kaum getragener Kleider, und so mögen Sie mir meine aufflackernde Neugier vergeben, als mein Vater die Tür aufschloss.

Es war ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Eine einzelne Kerze brannte in der schmalen Eingangshalle, deren unruhig graue Wände so sauer rochen, als wohnte hier nur selten jemand; durch eine Tür ging es in ein dunkles Wohnzimmer, das so karg wie hässlich altmodisch möbliert war. Hierher würde sicher keine Mätresse gern gebracht werden. Mein Vater legte Stanley auf das Sofa, während ich noch bestürzt in der Eingangshalle stand. Wasser tropfte von meiner Haube, meiner Nase, meinen Händen. Ich legte meinen Umhang ab und drapierte ihn über einen rauchgeschwärzten alten Stuhl im krummen, unschönen Stil von vor zweihundert Jahren.

»Nun denn, Miss«, sagte mein Vater und betonte das Miss dabei auf eine steife, gebieterische Weise, als wäre ich eine Fremde, die er in seinem bevorzugten Zugabteil angetroffen hatte. »Ich lasse euch dann in Ruhe.«

»Geh nicht bei diesem Wetter«, bettelte ich. Die Aussicht, allein mit Stanley an einem so ungastlichen Ort zu sein, erfüllte mich mit fürchterlicher Angst. »Bleib. Bitte. Es muss doch Platz für dich geben.«

»Ich muss zurück zur Kutsche, zum Gasthof, wenn sie denn so weit gekommen ist. Wenn nicht, könnte meine Hilfe vonnöten sein.« Er seufzte, und sein Seufzer besagte: Natürlich kannst du jetzt ausruhen, Lucinda. Natürlich ist dein Tag hiermit beendet.

»Oh, Pa«, sagte ich. Ich sah auf den steinernen Boden und ließ den Blick durch die so trübe, leere Halle gleiten, ohne Blumen, um mich willkommen zu heißen. Ein braunfleckiger Druck des Floßes der Medusa in einem schwarzen Rahmen hing an der Wand, sonst nichts. »Willst du uns wirklich hier zurücklassen? So ganz allein?«

Er sagte nichts.

»Pa«, sagte ich noch einmal und löste mich in Tränen auf. Er ertrug es nicht, mich weinen zu sehen, und ich kannte keine andere Möglichkeit, ihn zu rühren. Hilflosigkeit war meine einzige Rhetorik. »Kannst du mir nicht helfen?«

»Mein Mädchen«, sagte er, »das hier ist die Hilfe.«

Stanley zitterte, als ich ihn vom Sofa holte, das Haar klebte ihm am Kopf, und er strömte den erbärmlichen Welpengeruch aus, der mich an die Zeit erinnerte, als er ein Säugling gewesen war. Stumm stand er da, ohne jede Neugier, das Haus zu erkunden, wie er es in dem hübschen Hotel in Scarborough getan hatte, wohin ich zunächst mit ihm gezogen war, in den Urlaub, hatte ich gesagt, oder in Marianas Haus, wohin wir uns geflüchtet hatten, als kein Geld mehr da war. Ich hatte angenommen, Ausgelassenheit sei sein natürlicher Zustand, ich könnte ihn überall mit hinnehmen und er wäre dort glücklich, doch jetzt hatte ihn alle Begeisterung verlassen. Wir wagten uns nach oben und fanden zwei Schlafzimmer vor. Eines war groß, aber seltsam, mit dunklen Holzverkleidungen, und erst dachte ich, es hätte kein Fenster, sah dann aber, dass es sogar ein großes hatte, das allerdings mit Brettern vernagelt war, nur ganz oben gab es einen schmalen Spalt. Das andere Zimmer, gleich an der Treppe, war kleiner und einladender.

»Das wird dein Zimmer«, sagte ich. Er steckte den Daumen in den Mund.

Das Wasser im Becken war eisig kalt, aber es half nichts. Ich zog Stanley aus, und er zitterte und wimmerte, als ich ihm mit einem Schwamm zu Leibe rückte. Er verschränkte die Arme vor der kleinen, weißen Brust.

»Nicht, Mama«, rief er. Er wehrte sich, aber ich gab nicht nach und war vielleicht etwas grob, um es hinter mich zu bringen – er stieß mich weg, mit aller Kraft. »Nicht!«

»Was erlaubst du dir?«, rief ich. Meine Augen brannten, wie auch die Stellen an meinen Schultern, wo mich seine Hände getroffen hatten.

»Ich will nach Hause!« Seine Stimme überschlug sich. Ich konnte es kaum ertragen. »Warum sind wir hier?«

Ich fasste ihn bei der Schulter, aber er schrie und machte sich los. »Sei brav!«, sagte ich, doch er schrie...

Erscheint lt. Verlag 19.9.2023
Reihe/Serie Schaurige Geschichten
Übersetzer Werner Löcher-Lawrence
Sprache deutsch
Original-Titel The Haunting Season. Ghostly Tales for Long Winter Nights
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ähnlich Charles Dickens • Britischer Cozy Crime • Cozy Crime England • Cozy Crime Großbritannien • Erzählungen für die Feiertage • Geistergeschichten • Geschichten mit Gruselfakor • gothic noir • Gruselgeschichten • Jess Kidd neues Buch • Krimis Feiertage • Krimis mit Wohlfühlfaktor • Schauermärchen • Spukgeschichten • The Haunting Season • unheimliche Geschichten • Weihnachten • Weihnachtsgeschichten • Weihnachtskrimis • Winterkrimis
ISBN-10 3-8321-6078-7 / 3832160787
ISBN-13 978-3-8321-6078-4 / 9783832160784
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