Hundert Jahre Blindheit (eBook)

Roman

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2023 | 1. Auflage
584 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12199-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hundert Jahre Blindheit -  Roman Rozina
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Die große slowenische Familiensaga »Hundert Jahre Blindheit« erzählt vom Aufstieg und Niedergang einer Familie. Die massiven gesellschaftlichen Umbrüche, die den Vorabend der Moderne prägen, machen auch vor dem blinden Matija und dessen Umfeld nicht halt. Ein monumentaler Familienroman aus Slowenien, der das europäische Erbe des 20. Jahrhunderts aufleben lässt. Als am 24. Mai 1900 ein Kind in der Familie Knap geboren wird, ahnt noch niemand, dass der kleine Matija sein Leben lang blind bleiben wird. Und doch, so stellt es sich später heraus, ist er der Einzige, der den Herausforderungen, die der Familie bevorstehen, wirklich ins Auge blickt. Das Unwetter, das bei Matijas Geburt in Podgorje getobt hat, scheint ein böses Omen zu sein. Der Grundbesitz der Familie wird fast vollständig zerstört und die Knaps sind bald gezwungen, sich in der neu entstandenen Bergbausiedlung als Arbeiter zu verdingen. Während die Industrialisierung den sozialistischen Arbeiterkampf immer stärker befördert und die Emanzipationsbewegung Familienstrukturen über den Haufen wirft, rufen die Kriege des 20. Jahhrunderts die Soldaten wie böse Geister auf den Plan. Roman Rozina hat einen meisterhaft erzählten Roman geschrieben über ein Jahrhundert, dem wir heute noch oft mit Blindheit gegenüber stehen. »Der Roman Hundert Jahre Blindheit zeugt von der außerordentlichen Erzählkraft des Autors. Die Saga der Familie Knap mit ihren zahlreichen historischen Bezügen entwickelt sich zu einem monumentalen Fresko der slowenischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts.« - Julija Ur?i?, Bukla

Roman Rozina, geboren 1960, war zunächst im Zeitungs- und Fernsehjournalismus tätig, bevor er sich vor mehr als zehn Jahren der Schriftstellerei zuwandte. Heute ist er einer der bedeutendsten Schriftsteller Sloweniens, sein Roman »Hundert Jahre Blindheit« wurde mit dem wichtigsten slowenischen Literaturpreis, dem Kresnik Preis 2022, ausgezeichnet.

Roman Rozina, geboren 1960, war zunächst im Zeitungs- und Fernsehjournalismus tätig, bevor er sich vor mehr als zehn Jahren der Schriftstellerei zuwandte. Heute ist er einer der bedeutendsten Schriftsteller Sloweniens, sein Roman »Hundert Jahre Blindheit« wurde mit dem wichtigsten slowenischen Literaturpreis, dem Kresnik Preis 2022, ausgezeichnet.

24. MAI 1900


Bleischwere Wolken ballten sich über Podgorje, doch jedes Mal, wenn sie zu einer düsteren Masse verklumpten, zu schwer selbst für ein fest gewebtes Tuch, kam ein heftiger Wind auf und wehte sie wieder fort. Seit zwei Tagen schon spielte der Himmel den Menschen diese Posse, die Hängepartie zerrte so an ihren Nerven, dass einige sogar ihre Angst vor Wolkenbrüchen vergaßen und laut riefen, diese bedrohliche Gräue soll endlich weiterziehen oder abregnen, man kann schließlich nicht den ganzen Tag in den Himmel starren.

Verglichen mit den Nachbardörfern, hatte sich in Podgorje in den letzten Jahren vieles verändert. Während anderswo schlimme Dürre herrschte und man inständig um Regen flehte – der Ackerboden war knochentrocken, Windstöße hoben Staubwolken von den Feldern, und aufgrund der drückenden Luft krümmten sich die alten Männer mit Rheuma vor Schmerz –, fürchtete man an den verwundeten Hängen von Podgorje jeden Niederschlag. Noch der kleinste Regenschauer schuf tiefe Risse und ließ Erdrutsche drohen, und niemand wusste, ob sein Haus der kommenden Verschiebung standhalten oder ob sie es gänzlich plattmachen würde, es war unmöglich abzuschätzen, was die habgierigen Spalten wohl als Nächstes verschluckten.

Als sich die Nacht übers Dorf legte, spielte der Himmel noch immer mit ihnen. Aufgrund der dichten Wolkendecke brach sie früher an und war dunkler als sonst. Als sie sich in ihre Betten legten, schlich sich in die unheilverkündende Stille das verspielte Rascheln junger Bäume, das unter der Wucht des Sturms bald umschlug in einen wilden Tanz und ein schauerliches Stöhnen alter Stämme und Äste. Eine weitere Nacht, in der die Augen blind in die Dunkelheit starren und die Ohren nach den Geräuschen gieren werden, aus denen die Angst erdrückende Vorstellungen formt: Wird der Sturmwind die drohende Sintflut über ihnen vertreiben, oder schwemmt es sie endgültig hinfort?

Ignacij Knap blickte zur Decke empor und versuchte vergebens zu entschlüsseln, was die Nacht rief. Zum bestimmt hundertsten Mal beschloss er, dass er den zehrenden Nervenkrieg leid war. In den vier Jahren, seit ihm sein Vater das Landgut überschrieben hatte, war er um vierzig Jahre gealtert, das fortwährende Lauschen und machtlose Warten hatte ihn völlig ausgelaugt. Er wurde Besitzer des größten Bauernhofs, doch damit nicht sein eigener Herr, er war die Geisel eines Ackers, der mörderisch wegbrach. Unter seinen Füßen war alles ausgehöhlt, die Eingeweide seines Grundes waren wie von Motten zerfressen, nie wusste er, wie tief die Erde unter seinem nächsten Schritt einbrechen würde. Genug, das ist doch kein Leben, befand er, seine Schwester Zofija, die schon seit Jahren auf ihn einredet, dass er den Hof verlassen und ins Tal ziehen soll, hatte recht.

Schon morgen wird er zur Bergwerksverwaltung gehen, gleich in der Früh macht er sich auf. Sie werden ihn mit offenen Armen empfangen, Arbeit und Wohnung anbieten. Alle vierzehn Tage bekommt er seinen Lohn, er wird wieder ruhig schlafen können. An die Schwerstarbeit in der Grube wird er sich gewöhnen, Anstrengungen sind ihm vertraut, auch auf diesem verfluchten Stück Land schuftet er von früh bis spät. Er wird die Klage zurückziehen, die sein Vater angestrengt hat – sie ist aussichtslos, schon fast zehn Jahre zieht sich der Prozess hin und frisst nur Geld –, er wird ihnen das Grundstück verkaufen, das schon jetzt mehr ihnen gehört als ihm. Sie rauben es ihm von unten, sie wühlen tief im Erdinnern und höhlen den Boden unter seinen Füßen aus. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die wenigen Häuser einstürzen, die in diesem verlorenen Schützengraben geduckt ausharren. Ganz Podgorje rutscht zu Tal, der Teufel wird sich alles holen. Morgen bereitet er dieser Qual ein Ende.

Seine nächtlichen Überlegungen führten ihn immer zum selben Entschluss, am Tag jedoch verflog sein trotziger Wille. Der übliche Zweifel meldete sich, es tat ihm leid um das Land, so widerborstig es war. Auch die Grube verlor am Morgen all ihren überhöhten Reiz, er ärgerte sich über Zofijas Besuche, weil sie ihm Lügen auftischte und übertrieb, wenn sie Wohlstand und Glück des Bergmanns beschrieb, sodass ihm Terezija noch den ganzen Tag mit vorwurfsvollen Blicken zu verstehen gab, wie gleichgültig sie und die Kinder ihm waren und es ihm einzig um diese wertlosen Felder ging. Wenn sie sich wenigstens laut beklagen würde, sodass er sie anbrüllen und ohrfeigen könnte, aber sie machte ihm immer nur Vorwürfe, ohne ein einziges Wort zu sagen.

Da macht er sich schon wieder etwas vor, dachte er, es gibt genau einen Grund, warum er an diesem wackeligen Hügel klebt, ein einziges Hindernis hat ihn immer davon abgehalten, dass er das alles nicht schon letztes Jahr oder vor zwei Jahren aufgegeben hat. An allem kommt er vorbei, nur nicht an seinem Vater und dem Versprechen, das er ihm gab. Obwohl sein Vater inzwischen schwer von Begriff ist, alles Mögliche vergisst und nicht einmal mehr weiß, wie die Nachbarn heißen, wird er sich bis zu seinem letzten Atemzug daran erinnern, was sein Sohn ihm geschworen hat. Beim Leben seiner Erstgeborenen, der damals noch nicht einjährigen Frančiška, hat er gelobt, den Hof niemals an das Bergwerk zu verkaufen. Dieses Hindernis vermag er nicht zu überwinden, diesen Eid kann er einfach nicht brechen. Es stimmt, fast alle anderen verkaufen, das Bergwerk hat schon mehr als die Hälfte des Dorfes in seinem Besitz, doch das ändert nichts, Ignacij ist zu sehr an das seinem Vater gegebene Versprechen gebunden. Ihm hatte er gesagt, dass er auf dem Bauernhof nur bleiben wird, wenn sein Vater ihm diesen überschreibt, und er, Jakob, hatte ihn schwören lassen, dass er dem Bergwerk dafür keinen Fußbreit Land verkauft. Dann hatten sie einander die Hände gereicht.

Er ist in eine Falle getappt, aus der es kein Entrinnen gibt, seine zahllosen Beschlüsse, diese unglückliche Geschichte zu beenden, sind nur hohles Geschwätz. Mit jedem Tag klarer sagte ihm sein gesunder Menschenverstand, dass sein Ausharren auf dem Hof ohne Perspektive war, und doch forderte sein männlicher Stolz, sich an sein einmal gegebenes Wort zu halten. Er fand keinen Ausweg aus der Zwickmühle, dabei ist das Leben zu einer sinnlosen Tortur, einem qualvollen Warten auf den sicheren Untergang geworden, in den er nun noch Frau und Kinder mit hineinziehen wird. Der Winter hat den linken Teil des großen, vor Jahren noch stabilen Hauses zerstört und unbewohnbar gemacht, weshalb alle in einer stickigen Kammer aufeinanderhockten. Die Risse hat er notdürftig saniert und die Decke abgestützt, die jedoch schon morgen erneut einstürzen kann. Man müsste sie von Grund auf reparieren, aber er hat nicht mehr den dazu nötigen Willen aufgebracht, es war ja doch nur eine Frage der Zeit, wann das Haus einstürzt und sie fortgehen müssen. Das halbe Dorf steht bereits leer, viele Häuser sind schon eingestürzt, alle anderen sind verfallen oder haben Risse.

Er blickte zu Terezija, die stumm neben ihm lag, wie um bei ihr die Antwort zu finden. Aber die Dunkelheit war so undurchdringlich, dass sich selbst ihr großer, runder Bauch nirgendwo abzeichnete. Es machte ihn wütend, dass sie so ruhig schlafen konnte, während er sich mit der Suche nach einem Ausweg aus dem Teufelslabyrinth quälte, in dem sie feststeckten.

Ignacij hat sich schon oft geirrt, und so auch diesmal. Terezija, die nur eine Handbreit von seinem Körper entfernt war, lauschte schlaflos dem Atem Frančiškas und der Zwillinge, die aneinandergedrängt im Bettkasten lagen, sie drückte die zarte Angelina an ihre Brust und strich mit der anderen Hand sanft über ihren Bauch, in dem sich ein übermütiges Wesen reckte und streckte. Es wurde zunehmend mühsam mit diesem üppigen, ungelenken Körper, wenigstens war es bis zur Niederkunft nur noch eine Frage von Tagen.

Schon ihr fünftes Kind, fünf Schreihälse in nicht mehr als fünf Jahren. Frančiška ist fünf, Alojzij und Ludvik sind drei, Angela ist gut ein Jahr alt, und schon ist ein neues Kind unterwegs. Wie schnell sie kommen, viel zu schnell, wenn das so weitergeht, wird sie denken müssen, dass sie das ständige Gebären noch umbringt. Sie hatte einen starken, straffen Körper, nun ist sie ausgelaugt und krank, manchmal kann sie den Urin nicht halten, die Kinder haben ihr die Brüste leer getrunken. Jetzt sind sie wieder groß und prall, schwer sind sie und tun weh, bald aber werden sie wieder wie leere, schlaffe Säcke an ihr herabhängen. Ständig muss sie sie füttern, die kleinen Biester, sie fressen sie auf, werden sie noch komplett verschlingen.

Sie zog sich krampfartig zusammen, weil Ignacij sich rührte. Sie spürte seine wachsende Ungeduld, sie wusste, er wartet nicht mehr...

Erscheint lt. Verlag 16.9.2023
Übersetzer Alexandra Natalie Zaleznik
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Arbeiterklasse • Bergbau • Blindheit • Bücher Neuerscheinungen 2023 • Buchmessen Gastland • Ehrengast • Familiengeschichte • Familienroman • Familiensaga • Feminismus • Gastland • Industrialisierung • Klimawandel • Kohle • Liebe • Moderne • Natur • Roman Neuerscheinung 2023 • Slowenien • slowenien buchmesse • Sozialismus • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-608-12199-4 / 3608121994
ISBN-13 978-3-608-12199-5 / 9783608121995
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