Meine Männer (eBook)
192 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12198-8 (ISBN)
Victoria Kielland, geboren 1985 in Norwegen, studierte Theaterwissenschaft. Für die Prosasammlung I lyngen wurde sie für den Debütantenpreis von Tarjei Vesaas nominiert, sie erhielt das wichtigste Schriftstellerstipendium des norwegischen Buchhandels. Für Meine Männer wurde sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet und erhielt hymnische Kritiken.
Victoria Kielland, geboren 1985 in Norwegen, studierte Theaterwissenschaft. Für die Prosasammlung I lyngen wurde sie für den Debütantenpreis von Tarjei Vesaas nominiert, sie erhielt das wichtigste Schriftstellerstipendium des norwegischen Buchhandels. Für Meine Männer wurde sie mit mehreren Preisen ausgezeichnet und erhielt hymnische Kritiken. Elke Ranzinger, geboren 1980 in Passau, studierte Theaterwissenschaft, Nordistik und Neuere Deutsche Literatur in München und Bergen. Sie ist Übersetzerin, Moderatorin und Dramaturgin und übersetzt aus dem Norwegischen und Schwedischen u. a. Merethe Lindstrøm, Helga Flatland und Tore Renberg.
»Tiefgehend, messerscharf, ergreifend: Dieses Buch erzählt die Geschichte [von Belle Gunness] unverkennbar neu.« Carys Davies, The Guardian, 13. Juli 2023
»Ein einzigartiger Roman von ungewöhnlicher Kraft von einer furchtlosen und bemerkenswerten Autorin.« Carys Davies, The Guardian, 13. Juli 2023
Brynhild hievte den Koffer an Bord des Zugs. In der Dämmerung sahen ihre Hände wie weiße Skeletthände aus, im Laternenlicht schimmerten die Knöchel durch die Haut, diese ewig zerbrechliche Struktur, die versuchte, einen Menschen aufrechtzuhalten. Diese Augenblicke von Nähe, der Glaube an etwas Größeres als man selbst, Brynhild musste weiter, sie musste nach Chicago, sie musste sich allein durchschlagen, das hatte Nellie gesagt, ein Schritt nach dem anderen, und sie musste auf ihr Geld aufpassen, Tür, Treppe, Abteil, den Koffer an Bord hieven und ihn nicht aus den Augen lassen. Dann erst konnte sie sich zurücklehnen und zusehen, wie der Zug weiter und weiter ins Land glitt, wie er Meile um Meile schluckte, wie Wald und Prärie in der Mitte verschmolzen, wie hier alles größer, breiter und weiter war. Nellie und ihr Mann hatten versprochen, sie aufzunehmen. Nellie hatte alles geschrieben, Brynhild müsse den Zug nehmen und dürfe mit niemandem sprechen, und an den Binnengewässern werde es womöglich schwül sein, Nellie hatte von Seen groß wie Meere berichtet, wunderschön und eisblau, die sich bis zum Rand ausfüllten. Michigan, Superior, Huron, Ontario und Eerie, von Menschenhand unberührt, es sei unbeschreiblich, in der Tat war alles größer und schöner, zwar gab es keine Fjordarme wie zu Hause, aber die Seen lagen wie tränenfeuchte Augen in der Landschaft. Bis sie an Bord des Schiffs gegangen war, hatte sie nie so viel Wasser gesehen. Brynhild umklammerte den Koffer, die Wochen auf dem Meer steckten noch in ihr, das schwache Wogen, für das es keine Worte gab. Endlich war sie auf der anderen Seite angekommen, endlich, und glitt tiefer und tiefer hinein, der Zug bohrte sich durch den Wald, und Hoffnung wallte in ihrem empfindsamen Gesicht auf. Die Dunkelheit flutete zwischen den Bäumen hervor. Brynhild legte die Stirn ans kühle Zugfenster, die Pupillen flatterten über jedes Detail dieser Welt, vor ihren Augen verschmolz alles in eins. Die Erde war fruchtbar, das hörte man überall, hier sei es möglich, quasi über Nacht reich zu werden, es gab endlose Ressourcen, massenhaft Norweger, massenhaft Ehemänner, hier konnte alles neu und ungleich besser erschaffen werden. Sie sah es mit bloßem Auge, kein Zweifel, hier konnte jeder Mensch bekommen, so viel er wollte. Ihre Augen zog es zu dem Wasser zwischen den Bäumen, zu allem, was zwischen den Stämmen verschwand und nie wieder herauskam, irgendwo weit dort drinnen glitzerte es, aber der Urwald stach wie Nadeln in den Augen, und in der Brust hämmerte fiebrig die Hoffnung.
Der Zug rollte am Bahnsteig ein, und der Bahnhof glühte im Licht des Sonnenuntergangs. Brynhild umklammerte das Geld in der Jackentasche und heulte beinahe los, als sie inmitten der Menschenmenge ihre mit den Armen wedelnde große Schwester entdeckte, sie streckte sich, ging auf die Zehenspitzen, und Nellie drängte sich zu ihr durch. Die Zeit flüsterte sanft in Brynhild, wie sie da mit beiden Beinen fest auf dem Bahnsteig stand. Aber sie spürte keinen Unterschied zwischen norwegischem und amerikanischem Boden. Sie kniff die Augen zusammen, die Sonne färbte den Lake Michigan gelb, und in diesem schmelzenden Licht sah die Schwester wunderschön aus, – Brynnigirl!, rief Nellie. Als Brynhild ihren Namen hörte, so laut und klar, zersprang im Bruchteil einer Sekunde irgendetwas in ihr, wie bei einem Gebet holte sie tief Luft, – das ist alles, was ich bin, das ist alles, was ich habe, bevor Nellie sie an sich zog und in die Arme nahm. Nellies Körper war wunderbar warm und weich, sie roch so gut, so rein, und Brynhild tauchte ganz ein, hielt sie fest, lange, und Nellie ließ nicht los. An der Einsicht, die Brynhild da und dort in Nellies Armen überfiel, war etwas, das alles auf den Kopf stellte, eine wilde Befreiung, das jähe Gefühl, sie wollte sich nur an Nellie klammern und nie mehr loslassen. Brynhild spürte, wie sich ihr Atem im Körper verteilte, als würden sämtliche Schmetterlingsflügel vereint ihre Seele aus dem Mund tragen, als erreichte die Luft endlich die Lunge.
Nellie hatte Brynhild bereits bei Freunden der Familie eine Stelle als Dienstmädchen besorgt, und als Näherin, falls ein zusätzliches Paar Hände gebraucht wurde. Offenbar wartete hier ein Leben. Sie musste nicht zurück, konnte einfach hineintauchen, in den See springen und alles annehmen, was Nellie ihr gab. Aber man konnte hier nicht stillhalten, diese norwegisch bleiche Haut vor den zarten Fäden, anscheinend sollte alles, was in ihr war, möglichst schnell ans Tageslicht. Brynhild barg die Grausamkeit der Welt unter der Haut, aber auch deren Schönheit. Sie benetzte den Silberfaden mit dem Mund, fädelte ihn durchs Nadelöhr, die Nadel glitt durch den Stoff, hinterließ unendliche Stunden pro Tag kleine, glitzernde Stiche. Aber es fühlte sich an wie ein Flimmern aus der alten Welt, ein Flimmern, das sich auf ihr Gesicht legte und sie lähmte, und die Lähmung breitete sich auf den ganzen Körper aus. Sie atmete ein, wie um sich länger, leichter und einfacher zu machen, als spräche ihr Körper die Bitte und zugleich die Erlaubnis aus, eine andere zu werden, doch die Ohnmacht der Arbeitsschürze leuchtete sie an, spuckte ihr ins Gesicht, sie musste nehmen, was ihr gegeben wurde und es sich straff um die Taille binden. Es war blanker Hohn. Aber sie musste weitermachen, sie konnte nicht ablehnen, was sollte sie sonst tun, und ständig war da Nellie mit ihrem fragenden Gesicht, als würde sie nur darauf warten, dass Brynhild platzte und aus ihr ein paar saftige Geheimnisse aus dem alten Land sprudelten. Als freute sie sich darauf. Es gab so viele kurze Augenblicke, in denen sich der Faden spaltete, in denen er dahinglitt, sich dann in der Mitte teilte, zerstört wurde, hässlich, so viele Schwierigkeiten, all ihre vergeblichen Versuche, etwas wieder aufzutrennen, all die Röcke und Unterhemden, Brynhild wollte nur, dass es schön aussah, ganz von selbst, warum konnte es nicht einfach schön aussehen? Brynhild versuchte ihr Bestes, versuchte alles, alles, damit es schöner werden würde, als es gewesen war, mit dem einfachsten begann sie und änderte ihren Namen in Bella. Und fast funktionierte es, fast wurde sie schöner, sie änderte sich fast ganz von selbst, wurde fast eine ganz neue Person, als würde ihr Gesicht noch etwas ebenmäßiger, noch etwas weniger wiedererkennbar. Bella las eine Wimper, die sich gelöst hatte, von Nellies samtweicher Wange, – es gibt keinen Grund, an sich zu halten, sagte sie zu ihr, – ja, Brynni, man muss sich nur etwas wünschen, sagte Nellie. – Ich heiße jetzt Bella, antwortete sie postwendend und pustete die kurze, dunkle Wimper in den Wind.
Es war hier drüben sagenhaft schön, über Nellies Haus am Wasser waberte jeden Morgen ein wundersamer Nebel, grau und bedächtig schwebte er über dem See und den Hausdächern, ein Abglanz der Dunkelheit. Bella sah sich um, betrachtete die Möbel in der Stube, der Nebel hing so tief, dass durchs Fenster nur das Wasser und die Vögel zu sehen waren, sie hörte keinen Laut, sah nur in der Ferne einen weiten, reglosen Wasserspiegel. Kein Zweifel, es war nun schöner, als es gewesen war, und abends zeigten sich die Seerosen und schaukelten auf den kleinen Kräuselwellen. Trieben wie leuchtende Laternchen durchs Abenddunkel, schwammen geradewegs zu ihr in der Tiefe von Nellies Stube. Bella spürte die elementare Bewegung der Existenz, kräftig und wogend. Die Worte waren winzig und die Zukunft fand sie überall, – wenn Gott will, das Wasser plätscherte glucksend. Sie schloss die Augen, Salzgeschmack heftete sich an die Lippen, und der Kiefer spannte sich an, bis er hart war wie Stein.
Irgendetwas war an den einfachen Bewegungen, die den Alltag jetzt füllten, Bella lernte rasch, ein Stück Stoff mit flinken Ellbogen zu drehen, eine Naht zu steppen, eine Schere zu gebrauchen, einen Schlitz zu schneiden, die Stecknadeln in ein Nadelkissen zu stecken, die Aufträge der Schneiderin auszuführen, einzustempeln, auszustempeln. Aber sie selbst sah den Stoff unter ihren Händen zerreißen, und wie alles immer kurz davor war, auseinanderzufallen, und allein, dass jemand auf die Idee kommen konnte, ihr eine Schere in die Hand zu geben, kam ihr grausam vor. Irgendetwas hatte diese Stille, die die Handarbeit begleitete, an den scharfen, blanken Scherenblättern und wie sie durch den glatten Stoff glitten. Ganz ohne Gegenwehr schnitt der Stahl durchs Gewebe wie ein warmes Messer durch Butter, wie konnte der Stoff so weich und die Schere so hart sein? Tränen traten ihr in die Augen. Um sie herum war ein Schwanken, ein schwindelndes Schwirren, Morgen für Morgen verschmolz es mit Körperwärme und Nebelschleier, und Bella wünschte sich nur, die Balance zu finden, jemanden, der sie halten konnte, der bedingungslos liebte wie Nellie, doch ohne das fragende Gesicht. Da saß sie, in einer Hand die Schere, in der anderen...
Erscheint lt. Verlag | 16.9.2023 |
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Übersetzer | Elke Ranzinger |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Belle Gunness • Dobloug Prize 2022 • Frau als Serienmörderin • Gewalt • Hell's Belle • Jahrhundertwende • literarischer Krimi • Meine Männer • Neue Bücher Herbst 2023 • Neue Literatur 2023 • Neuerscheinung 2023 • Norwegen • Norwegisch • obsessive Liebe • Seelenleben • Serienkillerin • Serienmörderin • Stig Saeterbakken Memorial Award • Thorleif-Dahl-Preis • Vicoria Kielland • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-608-12198-6 / 3608121986 |
ISBN-13 | 978-3-608-12198-8 / 9783608121988 |
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