Nightbitch (eBook)
304 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12207-7 (ISBN)
Rachel Yoder ist Gründerin des Magazins »draft, the journal of process«; ihre Erzählungen und Essays wurden u.a. in der New York Times veröffentlicht. Mit ihrem Debütroman Nightbitch gelang ihr ein weltweiter, aufsehender Erfolg. Das Buch wurde von mehreren US-amerikanischen Medien zum besten Buch des Jahres gekürt und wird mit Amy Adams in der Hauptrolle verfilmt. Rachel Yoder lebt mit ihrer Familie in Iowa City.
Rachel Yoder ist Gründerin des Magazins »draft, the journal of process«; ihre Erzählungen und Essays wurden u.a. in der New York Times veröffentlicht. Mit ihrem Debütroman Nightbitch gelang ihr ein weltweiter, aufsehender Erfolg. Das Buch wurde von mehreren US-amerikanischen Medien zum besten Buch des Jahres gekürt und wird mit Amy Adams in der Hauptrolle verfilmt. Rachel Yoder lebt mit ihrer Familie in Iowa City. Eva Bonné hat Amerikanistik und Lusitanistik studiert und übersetzt Literatur aus dem Englischen, u.a. von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie wurde mit dem Brockes-Stipendium und dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.
Aus der Ferne hörte sie ihren Mann, der im Garten stand und ihren Namen rief, aber sie war jetzt keine Ehefrau und Mutter mehr. Sie war Nightbitch, und sie war verdammt noch mal wunderbar. Anscheinend hatte sie sehr, sehr lange auf diesen Moment gewartet.
Auf ihrem Weg hielt sie sich stets im Schatten. Sie schlich zum Haus gegenüber und zertrampelte die sorgsam gepflanzten Petunien ihres Nachbarn. Der Mann hieß Stanley, wählte die Republikaner und hatte ihr noch kein einziges Mal ein Teil aus seiner umfangreichen Werkzeugsammlung ausgeliehen; wenn sie vorüberging, grüßte er kaum, und er duldete nicht, dass ihr Sohn seinen Rasen betrat, den er mit der Hingabe eines Kindermädchens pflegte, und wenn die Mutter dann mit ihrem Sohn schimpfte und ihn zu sich rief, funkelte er den Kleinen sogar böse an und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lächelte auch nie, wenn sie sich entschuldigte oder versuchte, darüber zu scherzen.
Der mit seinem blöden Gras, dachte sie, krümmte den Rücken und hinterließ einen monströs großen Scheißhaufen neben dem Haus. Sie zerkratzte den Rasen, bis er in Klumpen durch die Luft flog, dann lief sie zu den Erdflecken am Rand des Grüns, wo Stanley Grassamen ausgesät hatte, und scharrte sie auf den Gehweg.
Sie hielt sich von den Lichtkegeln unter den Straßenlaternen fern, lief durch fremde Gärten und an Zäunen entlang, durch den Tunnel unter den Bahngleisen und bis zu einem kleinen Park an einem Bach. Sie wusste, dass dort Obdachlose auf Bänken schliefen, und einmal hatte sie den Park auf dem Rad durchquert und junge Männer entdeckt, die eine Cannabis-Pfeife kreisen ließen. Normalerweise versuchte sie, die Gegend zu meiden, weil sie Angst hatte, ihr könnte dort etwas zustoßen, aber nun wollte sie nirgendwo lieber sein als dort. Der Geruch der wilden Tiere und der stinkenden Männer auf den Bänken ließ ihr Herz schneller schlagen.
Ich könnte ihnen im Schlaf die Kehle durchbeißen, dachte sie und fühlte einen wohligen Schauder der Macht. Sie war von ihrer eigenen Stärke überwältigt und badete in Gewaltfantasien. Am liebsten hätte sie laut geheult, aber stattdessen schlich sie auf einem Trampelpfad zwischen den Bäumen durch. Sie achtete auf jeden ihrer Schritte, um möglichst kein Geräusch zu machen. Am äußeren Rand ihrer Wahrnehmung plätscherte der kalte Waldbach. Sie dachte an seine mitternächtliche Kühle und sein verstohlenes, unablässiges Fließen. In gewisser Hinsicht war er wie sie.
Im Mondlicht sah sie die lebendige Nacht, für die ihr sonst die Sinne fehlten. Käfer krabbelten über Blätter, hoch oben in einem Baum erschrak ein Vogel. Verborgen von Gras und altem Laub schob sich eine Schlange auf eine Maus zu und versetzte die Luft in kaum spürbare Bewegungen. Die ganze Nacht schnalzte und schnurrte, das zittrige Mondlicht erweckte ausnahmslos alles zum Leben.
Als sie neben einer Schwarzpappel ein Kaninchen entdeckte, erstarrte sie zu absoluter Reglosigkeit. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, sie fletschte die Zähne. Sie hob einen Arm und senkte ihn wieder, dann den anderen. Ihre Bewegungen wurden fast mechanisch, langsam, gemessen. Sie wollte nur noch Schatten sein.
Das Kaninchen zuckte mit der Nase, mit einem Ohr und hoppelte in die Dunkelheit. Alle Muskeln in ihrem Körper spannten sich an, dann explodierte sie vor Bewegung. Sie schoss hinter dem Tier her, riss Zweige mit, zerfetzte das Unterholz und bekam es kurz vor einem Brombeerstrauch an den Hinterläufen zu fassen.
Sie schlug ihre Zähne in seinen Nacken und spürte seinen Atem in ihrem Maul. Sie schüttelte es heftig hin und her. Mit glühenden Augen schleuderte sie es zu Boden und wartete, ob es sich noch einmal regen würde, dann biss sie zu und schüttelte es abermals.
Der Moschusduft der Angst!
Das warme Blut!
Das Knacken, als der winzige Schädel zwischen ihren Zähnen zerbrach!
Sie nahm das tote Tier in den Fang und trug es durch die Nacht, quer durch die ganze Nachbarschaft, bis sie wieder zu Hause war. In der hintersten Ecke des Gartens buddelte sie ein flaches Loch und verscharrte das Kaninchen darin, ihren Schatz, ihre Trophäe.
Danach schlich sie über den Rasen. Sie beschnupperte die Stelle, an der ihr Sohn im Gras gelegen hatte, seinen Weg zum Haus und den blauen Ball, den seine Finger berührt hatten und der immer noch am Rand der Einfahrt lag. Sie roch die Erde und das Gummi der Autoreifen. Sie beschnupperte die Verandatreppe, auf der die Katze so gern in der Sonne saß, und folgte ihrer Spur über die Terrasse und den Rasen. Die Fährte endete unter dem Holzapfelbaum, wo es nach Holzäpfeln und den Phantomen von Streifenhörnchen, Eichhörnchen und Vögeln roch. Unter lustvollem Stöhnen wälzte sie sich im Gras, dann stand sie auf und lief zur Komposttonne und dem kleinen Steingarten, den sie liebevoll mit Blumen bepflanzt hatte, und da war er. Ihr Geruch. Ihr Menschengeruch. Sie erkannte ihn sofort.
Wer hätte ahnen können, dass sie die ganze Zeit keine Ärzte, keine Psychotherapie, keine bewusste Entscheidung für das Glück und kein positives Denken gebraucht hatte, sondern nur das hier – sie wollte ihre Zähne in einen kleinen, warmen Körper schlagen und fühlen, wie das Leben daraus wich und nur eine reglose, der Verwesung preisgegebene Hülle zurückblieb.
Sie hatte weder Eisenmangel noch eine psychische Störung. Mit ihr war nichts »falsch«; sie hatte nur eine Nacht wie diese gebraucht. Eine Nacht der Brutalität, in der ihr egal sein konnte, was die anderen über sie dachten; in der sie hinscheißen konnte, wo sie wollte, und in der niemand auf sie angewiesen war. Sie war bloß ein Geschöpf, das sich durch die Dunkelheit bewegte, ein Schatten, ein Geist ihrer selbst, der nur auf die Befehle ihres Körpers hörte.
Erschöpft rollte sie sich auf dem Rasen zusammen und schlief ein.
Am Morgen nach der nächtlichen Eskapade erwachte die Mutter – oder besser gesagt Nightbitch – nackt, zusammengekrümmt und von Tau bedeckt auf dem Rasen und spürte ein überwältigendes, bis dahin ungekanntes Wohlbefinden. Am Stadtrand ging die Sonne auf und tauchte den Garten in ein klares, ruhiges Licht. Jeder einzelne Grashalm funkelte. Alle Vögel sangen.
Trotz des zu kurzen Schlafs unter dem Holzapfelbaum war sie ausgeruht. Ihr Körper fühlte sich stark und lebendig an, und trotz ihrer Nacktheit war ihr nicht kalt. Eine solche Geistesgegenwart hatte sie seit der Geburt ihres Kindes nicht mehr empfunden, vielleicht nicht einmal davor. Sie war kein bisschen zerschlagen oder müde, sondern voller Energie und hatte sogar Lust auf eine frühmorgendliche Joggingrunde, obwohl sie noch nie in ihrem Leben gejoggt war. Ihre Nasennebenhöhlen waren frei, ihre Augen strahlten. Ihr Haar fühlte sich an wie frisch gewaschen, und ihre Haut wirkte so rosig und faltenfrei, als hätte sie nicht jahrelang auf ausreichend Schlaf, Wasser, Sonnenschutz und Salat verzichtet.
Sie dehnte ihre Glieder, streckte einen Arm und fühlte, wie die Haut sich spannte. Sie drückte langsam die Beine durch und wackelte mit den Zehen, bis sie knackten. Sie richtete sich auf, so dass alle Wirbel ploppten, einmal von unten nach oben, und dann reckte sie die Arme gen Himmel und gähnte herzhaft, wie es sonst nur Schauspielerinnen im Film tun.
Sie ließ den Blick durch den Garten schweifen. Bienen und Käfer rührten sich, zwischen den Zweigen und den großen glänzenden Blättern der Funkien lugte die Morgensonne durch. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie sich so gut fühlen konnte, so glücklich, wach und zufrieden.
Sie schlich zur Garage und tippte den Code ein, und das Tor öffnete sich unter viel zu lautem, mechanischem Scharren. Sie duckte sich darunter durch und griff nach dem Ersatzschlüssel. Sie huschte zur Haustür, sah sich verstohlen um und schloss dann auf. Sie kam sich vor wie Eva am ersten Morgen nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies, aber ganz ehrlich? Es war so unglaublich erleichternd, sich selbst endlich zu verstehen. Nicht länger in ein Was-wäre-wenn verstrickt zu sein. Einfach alles zu wissen.
Im Badezimmerspiegel erblickte sie ein unbekanntes Wesen mit verfilztem, schlammigem Haar und einem von Blut und Erde verschmierten Gesicht. Ihre Nasenflügel waren mit einer Art Ruß verklebt, ihre Hände sahen aus, als hätte sie wochenlang gegärtnert, und ihre Beine waren von einem roten Zickzackmuster bedeckt. Sie zog sich einen Dorn aus der Fußsohle und stellte sich unter die Dusche.
Das Wasser wärmte ihre Haut, während sie zuschaute, wie struppige Haare und Fellreste im Ausguss verschwanden. Dreck von ihren Händen und Füßen. Laubfetzen und Zweige aus ihren Haaren. Sie meinte, abgebrochene Hundezähne im Mund zu spüren,...
Erscheint lt. Verlag | 16.9.2023 |
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Übersetzer | Eva Bonné |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amerikanische Gegenwartsliteratur • amy adams • Befreiung • Bestseller • Bonnie Garmus • Bücher für Mütter • Eltern-Kind-Beziehung • Emanzipation • erschöpfte mütter • Familienroman • Feminismus • Feministische Literatur • Franz Kafka • Frauenbuch • Frau sein • Geburt • Gegenwartsliteratur • Geschenk für Frauen • Geschenk für Freundin • Gesellschaftsroman • Hund • Hündin • Identität • Junge Mütter • Kinderbetreuung • Kunst • Mombie • müde Mütter • Mutterrolle • Mutterschaft • Mutter sein • Neue Bücher Herbst 2023 • Neue Romane 2023 • Neuerscheinung 2023 • Neuerscheinungen 2023 • #neversleepagain • neversleepagain • Roman Neuerscheinung 2023 • schlaflos • schlaflose Nächte • Selbstbestimmtheit • #wowarstdunachts • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-608-12207-9 / 3608122079 |
ISBN-13 | 978-3-608-12207-7 / 9783608122077 |
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