Geschwister im Gegenlicht (eBook)
320 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12197-1 (ISBN)
Sabine Bode, Jahrgang 1947, begann als Redakteurin beim »Kölner Stadt-Anzeiger«. Seit 1978 arbeitet sie freiberuflich als Journalistin und Buchautorin und lebt in Köln. Sie ist eine renommierte Expertin auf dem Gebiet seelischer Kriegsfolgen. Ihre Sachbücher »Die vergessene Generation«, »Kriegsenkel«, »Nachkriegskinder« und »Kriegsspuren« sind Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Sabine Bode, Jahrgang 1947, begann als Redakteurin beim »Kölner Stadt-Anzeiger«. Seit 1978 arbeitet sie freiberuflich als Journalistin und Buchautorin und lebt in Köln. Sie ist eine renommierte Expertin auf dem Gebiet seelischer Kriegsfolgen. Ihre Sachbücher »Die vergessene Generation«, »Kriegsenkel«, »Nachkriegskinder« und »Kriegsspuren« sind Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Es ist Samstag, früher Nachmittag, die Sonne scheint, und ich bin Zeugin eines zaghaften Saisonbeginns. Ausflugsgäste schlendern über die Uferpromenade. Vor meinem Fischbrötchen-Kiosk hat sich eine kleine Schlange gebildet. Die jüngsten Mitglieder einer Drei-Generationen-Gruppe betteln um ein Eis. Während die Eltern noch zögern, hat Opa schon das Portemonnaie aufgemacht, mit der Begründung, einen so schönen, warmen Tag sollten auch die Kleinen feiern.
Eines der zwei Hotels hat seine Terrasse geöffnet. Man erreicht sie von der Einkaufsstraße aus über eine kurze Treppe. Ich habe mich an einen Tisch am Geländer gesetzt und schaue hinunter auf Blumenbeete mit den letzten Narzissen und den ersten Tulpen. Die Fliederbüsche, die überall im Ort zu finden sind, stehen kurz vor der Blüte. Ein Spatz hockt auf der Stuhllehne neben mir, bereit, sich auf Kuchenkrümel zu stürzen. Die Schokoladentorte ist ein einziger Genuss. Entwöhnt, wie ich bin, hätte ich am liebsten noch eine zweite bestellt. Aber ich habe einen Termin.
Vergeblich warte ich darauf, dass jemand erscheint, damit ich bezahlen kann. Eine Frau vom Nachbartisch, die meine Unruhe bemerkt, rät mir, ins Hotel hineinzugehen und an die Tür neben der Kuchentheke zu klopfen. So weit kommt es nicht. Die junge Bedienung steht neben der Kasse, in enger Umarmung mit einem jungen Mann. Als sie mich kommen sieht, löst sie sich von ihm mit einer Serie kleiner Küsse. Dann wendet sie sich mir zu, lächelt mich offen an und druckt den Kassenbon aus. Erst da erkenne ich, dass es Britta ist, die im Winter, bei dem Karaoke-Geburtstag, von den Gästen so schäbig behandelt wurde. Es freut mich für sie, dass sie in einer gepflegten Umgebung arbeitet. Vielleicht werde ich sie später einmal darauf ansprechen. Sie macht einen netten Eindruck, und falls ich nicht abreise, werde ich noch öfter auf der Terrasse sitzen und ein Stück Schokoladentorte genießen.
Wenig später treffe ich im Friseursalon von Giovanni Fiore ein. Als ich vor dem Spiegel Platz nehme, klingelt mein Handy. »Gehen Sie ruhig ran«, sagt der elegante, weißhaarige Meister. »So viel Zeit muss sein. Wahrscheinlich ist es die Nichte.«
»Machen Sie Spaß!? Sind Sie Hellseher?«
»Keineswegs.« Er lächelt amüsiert. »Ihre Nina und ich haben einige Male telefoniert.«
»Wie soll ich das verstehen? Warum?!« Das Handy klingelt weiter.
»Das wird sie Ihnen schon selber sagen.« Er zündet sich eine Zigarette an und will sich diskret entfernen, als ihm mein sehnsüchtiger Blick auffällt. Mit einem »Pardon« hält er mir seine Packung hin, er raucht meine Marke. Ich bediene mich, er gibt mir Feuer und versorgt mich mit einem Aschenbecher. Als ich endlich den Anruf annehmen will, hat Nina oder wer auch immer aufgelegt. Gut so. Ich werde nicht zurückrufen. Wenn mich Geheimnisse umwabern, kann ich mich nicht konzentrieren, schon gar nicht auf ein Telefonat, bei schlechter Handyverbindung in Konkurrenz mit der mir wohlbekannten Hintergrundmusik, den italienischen Schlagern. Im Spiegel sehe ich, dass sich Signore Fiore hinter seine Theke zurückgezogen hat und mit weit ausgebreiteten Armen bei Volare mitsingt. Sein junger Mitarbeiter, der ein weißes Rüschenhemd trägt, und dessen Kundin, die eine Farb-Packung auf dem Kopf hat, begleiten ihn in voller Lautstärke: »Nel blu dipinto di blu.« Woher die Fröhlichkeit? Feiern sie im Norden Karneval später als am Rhein? Aber wo sind die Luftschlangen? Wenn ich verwirrt bin, stelle ich mir immer die dümmsten Fragen.
Ich verlasse den Salon mit einem frechen Haarschnitt und neugierig wie ein Kind. Ich möge mir keine Sorgen machen, hat mir der Chef mit einem breiten Lächeln mit auf den Weg gegeben. Und ich könne stolz auf meine Nichte sein. Auf die Schnelle kaufe ich einen Strauß mit blauen und rosa Anemonen, stelle ihn zu Hause auf den Esstisch und mache es mir mit Kaffee und Zigarette gemütlich. Das Handy klingelt.
»Hallo, Sonja.«
Ich lege die Zigarette ab. »Hallo, Nina. Na? Was läuft da hinter meinem Rücken? Wo bist du?«
»In Berlin.«
»Aha. Was machst du da?« Ich lehne mich im Stuhl zurück.
»Mama und Papa sind auch hier.«
»Sie sind wieder zusammen! Das ist ja eine gute Nachricht, und …«
»Zweimal nein«, unterbricht mich Nina. »Mama arbeitet in Berlin, und Papa geht in eine Tagesklinik oder wie man das nennt.«
»Wohnt er denn bei Jenny?«
»Er wohnt bei einem Freund. Da hat er Glück. Ein Zimmer ist frei. Der Sohn ist als Austauschschüler in Amerika.«
»Und wo wohnst du?«
»Bei einer Freundin.« Ihrer Stimme nach zu urteilen, ist sie davon nicht begeistert.
»Du hast eine Freundin in Berlin? Davon wusste ich ja gar nichts. Dann siehst du also deine Eltern abwechselnd am Abend?« Ich drücke die Zigarette aus.
»Entweder Mama und ich gehen mittags zusammen essen, oder ich sehe sie abends bei Omi und Opa in Brandenburg. Papa treffe ich auch abends.«
»Und tagsüber läufst du mit deiner Freundin in Berlin herum?«
Nina seufzt. »Nur am Wochenende. Sie hat eine Ausbildungsstelle. Aber dieses Wochenende ist sie nach Hause gefahren. Ihre Mutter hat Geburtstag.«
»Arme Nina. Dein Leben scheint kompliziert zu sein. Aber ich wette, du zeigst deinen Eltern ein fröhliches Gesicht.«
Ich höre ein müdes »Na ja«. Aus dem, was meine Nichte erzählt, schließe ich, dass ihr das Pendeln zwischen Eberswalde und Berlin und die Rolle der heiteren Tochter zu anstrengend wird. Tagsüber allein in einer Millionenstadt, als Landkind, wie soll sie das aushalten? Aber Nina erzählt weiter: Vorläufig will sie sich in Wassenhorst nicht blicken lassen. Sie hat nicht damit gerechnet, dass der Rausschmiss aus dem Gymnasium sie zur Außenseiterin machen würde. Sie weiß nicht, welcher Freundin sie noch vertrauen kann. Am meisten fehlt ihr das Boxen. Niko, der Trainer, hat seinen Schuppen aufgegeben und arbeitet als Surflehrer auf einer griechischen Insel. Und dann bin ich ihr eingefallen, die »coole Tante Sonja«.
»Kann ich zu dir kommen? Ich meine, wir beide haben uns doch gut verstanden, oder?« Nina klingt verzweifelt. »Und ich dachte, ohne Papa würde es zwischen uns vielleicht sogar noch besser laufen.«
Gerade noch rechtzeitig, bevor ich vor Ungeduld platze, versuche ich es noch einmal: »Aber was hat das alles mit dem Friseur zu tun?«
»Ich habe ihn angerufen und gefragt, ob es zufällig bei ihm in der Nähe ein Boxtraining für Jugendliche gibt.«
Es überrascht mich, wie entschlossen Nina ist. »Du hast dich an seinen Namen erinnert?«
»Salon Fiore«, sagt sie mit einem triumphierenden Unterton. »Das ist mir aufgefallen. Fiore, das heißt Blume.« Ihre Stimme wird aufgeregt. »Es ist der Hammer! Im Nachbarort gibt es ein Boxzentrum. Und das Geilste ist, sie trainieren dort auch Mädchen! Ich habe angerufen. Ich kann zu einer Probestunde kommen. Wie findest du das?«
»Uff.« Umständlich zünde ich eine Zigarette an. »Wie ich das finde? Eine große Überraschung. Und was das Boxen angeht: Wissen deine Eltern inzwischen Bescheid?«
»Puh! Mama und Papa würden aufschreien, wenn sie es wüssten.«
»Also, Nina«, sage ich gedehnt. »Ich muss über alles nachdenken. Ich bin nicht so schnell wie du. Aber versprochen, in einer Stunde rufe ich zurück.«
»Vielleicht schon ein bisschen eher …?«
Ich muss lachen, und meine Nichte kichert.
»Okay, Tante Sonja. Dann renne ich jetzt ein paar Runden um den Block.«
Ich lege auf und leere die lauwarme Kaffeetasse. Nina braucht Hilfe, so viel ist klar. Sie ist einsam. Ihre Eltern sind mit sich beschäftigt. Erstens der Vater mit seiner Krise, von der ich hoffte, er hätte sie hinter sich. Und zweitens die Mutter, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hat: neuer Wohnort, neuer Arbeitsplatz, die Trennung von ihrem Ehemann. Was bleibt da übrig für ein pubertierendes Mädchen, das nicht weiß, wo es hingehört? Unwahrscheinlich, dass Jenny mitbekommt, dass der Boden unter den Füßen ihrer Tochter nachgibt.
Ninas Vertrauen freut mich und auch ihre Begeisterung, was den Sport angeht. Aber jedes Mal, wenn bei ihr das Wort Boxen fällt, muss ich schlucken. Meine wunderbare Nichte auf dem Weg, andere Menschen gezielt zu verprügeln und selbst verprügelt zu werden … Ich sehe die Szene mit Muhammad Ali vor mir, wie er, schwer gezeichnet von Parkinson, das Olympische Feuer in Atlanta entzündet. Noch nie habe ich mir im Fernsehen einen Boxkampf angesehen. Ich finde es einfach nur abstoßend. Dass ich hinter dem Rücken meines Bruders Ninas Komplizin werden soll, passt mir auch nicht. Und wer, wenn nicht ich, wäscht ihre verschwitzten Sportsachen? ...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2023 |
---|---|
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bestsellerautorin • Christian Berkel • Die vergessene Generation • Edgar Selge • Elternhaus • Erinnerung • Familiengeschichte • Familienroman • Geschenk Freundin • Geschenk für Mama • Geschenk für Mutter • Geschwisterbeziehung • Inneres Kind • Kriegsenkel • Mutter • Nachkriegskinder • Neue Romane 2023 • Neuerscheinung 2023 • NS-Zeit • Ostdeutschland • Roadtrip • Schuld • Seele • Spiegel Bestseller Autorin • Susanne Abel • Trauma • Traumabewältigung • Vergangenheitsbewältigung • VW-Bus • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-608-12197-8 / 3608121978 |
ISBN-13 | 978-3-608-12197-1 / 9783608121971 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,5 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich