Gstaad (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
368 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3377-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gstaad - Arnon Grünberg
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Das frühe Meisterwerk des niederländischen-Bestseller-Autors - erstmals auf Deutsch

Menschen, die nichts werden können, müssen das werden, was sie spielen. Für den jungen François Lepeltier, der hier scheinbar unbedarft seine Lebensgeschichte ausbreitet, ist das die Essenz des Überlebens. Von der Mutter, einem Zimmermädchen mit kleptomanischen Anwandlungen, wird François in der Pension Sonnenhügel in Baden-Baden aufgezogen. In Stuttgart gibt er sich als Zahnarzt aus, bevor er als Portier und Skilehrer reüssiert - Etappen auf dem Weg zum Gipfel seiner Karriere: François wird Sommelier im noblen Palace Hotel, hoch oben in den Bergen von Gstaad in der Schweiz. Doch wer so hoch aufgestiegen ist, der kann nur fallen. Im Gewand eines Schelmenromans wirft Arnon Grünberg einen tiefen Blick in menschliche Abgründe. Entstanden ist ein rabenschwarzer, sarkastischer Roman, der seine Leser abwechselnd lachen und schaudern lässt. 

»Ein Buch wie ein Beil. Nach der Lektüre spürt der Leser in sich einen unermesslichen, gähnenden Abgrund.« NRC Handelsblad

»Voll grimmiger Komik und Unerbittlichkeit« The New York Times



Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, wohnt in New York und Amsterdam. Seine Bücher wurden mit allen großen niederländischen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt (2022) erhielt er den mit 100.000 Euro dotierten Johannes Vermeer Preis. Neben seinen literarischen Arbeiten schreibt Arnon Grünberg für internationale Zeitungen und Magazine. 2016 hielt er die Eröffnungsrede auf der Frankfurter Buchmesse zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern. Sein Werk erscheint weltweit in 27 Sprachen.

Es gibt notwendige und weniger notwendige Sünden.

Mein Leben bestand hauptsächlich aus Ersteren, obwohl ich bei deren Auflistung auch die weniger notwendigen nicht vergessen möchte. Die aus Spaß an der Freud oder in der Tradition stehend: Noch eine zum Abgewöhnen. Eine Sünde wie ein Samstagabendspaziergang am Neckar, ein Spaziergang mit Hund. Als ich den noch hatte. Und dann einen Schnaps, eine Zigarette, ein paar Scheiben Parmaschinken, ein kleines Glücksspiel, einen Riegel Toblerone. Und danach? Die Sünde, die alle anderen überflüssig macht. Weiße Schuhe, grobe Wolldecken, Badeschaum, die Berge, die Wispilenstraße, immer wieder die Wispilenstraße, die Augen meines Kindes, eine letzte Liebkosung. Was schmeckt herrlicher als die letzte Sünde?

Ich habe gelebt, um es mir abzugewöhnen.

Was ich jetzt noch zu verlieren habe, will ich verlieren. Die letzten Reste eines Besitzes erinnern einen nur an all das, was man verloren hat.

Ich bin in Heidelberg geboren, und mein Name ist François Lepeltier. Eine schöne Stadt, Heidelberg. Sagt man. Was für Frauen gilt, gilt genauso für Städte. Die anderen, die, in denen man nicht geboren ist, wo man nie gewohnt, in denen man nur ein paar Tage auf der Durchreise verlebt hat, sind immer viel schöner.

Mein Herr Papa stammte aus der Bretagne. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er starb drei Wochen vor meiner Geburt. Kein tragischer Unfall, keine Verzweiflungstat, nein: eine schleichende Krankheit. Er war auch nicht mehr der Jüngste. Sagten die Leute. Damit wollten sie andeuten, dass auch der Tod eine notwendige Sünde ist. Bloß, für manche ist der Tod etwas notwendiger als für andere.

Die Liebe hatte meinen Papa nach Heidelberg getrieben, und dort hat sie ihn auch begraben. Bei passendem Wetter: Nieselregen, der in nassen Schnee überging. Genau einundzwanzig Tage später kam ich zur Welt.

Meine Geburt betrachte ich als die Sünde, die alle anderen erst möglich machte. Oder lassen Sie es mich anders ausdrücken: Noch vor meiner Geburt hatte ich meine erste Sünde begangen, natürlich eine notwendige …

Zuerst kommt stets die Verirrung, dann das Nachdenken über diese Verirrung. Das Nachdenken hat meine Verirrung jedoch nicht korrigiert, wie es das doch eigentlich sollte, vielmehr hat es den Reflex nur verstärkt.

Jeder Fehltritt ist für mich ein Reflex. So wie man mit der Hand zurückzuckt, wenn man eine heiße Pfanne berührt, so überkommen mich meine Fehltritte.

Was man im Volksmund »die schiefe Bahn« nennt, war für mich der einzig mögliche Weg.

Während der Entbindung kam es zu Komplikationen. Ich war kerngesund, wenn auch etwas zu mager, und hatte viel zu große Hände. Ansonsten war alles an mir, wie es sein sollte. Der Arzt konnte nichts anderes feststellen: »Ein gesunder Junge, gnädige Frau.«

Meine liebe Mutter war bei der Entbindung nicht unversehrt geblieben. Ihr musste etwas entfernt werden. Eine Woche später sagte der Doktor: »Das war Ihr erstes und letztes Kind, gnädige Frau.«

Mit meinen großen Händen hatte ich etwas in ihrem Bauch zerrissen.

Man hat mich vom Gegenteil zu überzeugen versucht. Dass es die Natur war, Veranlagung, Zufall, Schicksal. Alles Worte für ein und dasselbe: das Unvermeidliche, mit dem man sich nun mal abfinden muss, weil jeder Widerstand lächerlich ist. Heroisch vielleicht in den Augen von Romantikern und heißblütigen Adoleszenten, doch jene, die wissen, dass Sterben eine genauso praktische Angelegenheit ist wie das Leben, können diesen Widerstand höchstens mitleidig belächeln.

Dabei weiß ich genau, dass ich aus Wut, aus reiner Eifersucht den Uterus meiner Mutter zerrissen habe. Ich wollte nicht, dass außer mir noch andere jemals dort wohnten. Ich wollte die Gebärmutter für mich allein, ganz allein nur für mich.

Hier geht es nicht um Schuld oder Unschuld. Vielmehr geht es um Zufall versus Berechnung.

Zufall mag eine Entschuldigung sein, doch als Entschuldigung ist er mir zu dürftig. Außerdem, womit sollte ich mich entschuldigen können? Was für eine Beleidigung wäre das, was für eine Lüge um der bloßen Konvention willen.

Wenn ich krank war, bin ich das noch immer, und zwar schlimmer denn je. Ich glühe vor Fieber. Doch bin ich vollkommen zurechnungsfähig, ich brauche kein Mitleid.

Wo Mitleid beginnt, endet die Liebe, oder das, was wir so nennen, mangels besserer, originellerer Bezeichnungen. Mitleid ist der Totengräber des Begehrens, und was für ein tattriger, erbärmlicher Totengräber ist das! Ein trauriges, selbstgefälliges Männchen. Ein unwürdiger, armseliger Feind aller Lust.

Man verstehe mich nicht falsch, ich ziehe hier nicht gegen jegliches Mitleid zu Felde. Wenn ich von vier Pferden auseinandergerissen werde, ist Mitleid vielleicht angebracht. Dann vielleicht. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt? Nein, danke!

Ich will nicht auf das Bild eines zum Tode Verurteilten reduziert werden, in dem Befürworter dieser Strafe bloß die Züge eines Menschen erkennen, der sich als zum Unvorstellbaren imstande erwies, Nase, Lippen und Mund eines Perversen. Das Böse, das Fleisch wurde und darum vor aller Welt bekämpft und vertilgt werden muss.

Das Unvorstellbare wird nur darum unvorstellbar genannt, um es auf Distanz zu halten, um nicht mehr darüber nachdenken zu müssen. Auf keinen Fall befindet es sich im eigenen Hinterhof, schließlich kann man sich den gut vorstellen.

Doch auch das Unvorstellbare muss endlich vorstellbar werden.

Dabei will ich hier keine Propaganda für dieses oder jenes Anliegen betreiben, auch nicht für mich selbst. Wennschon Propaganda, und manchmal fürchte ich, dass dem nicht zu entgehen sein wird, dann für meine Krankheit, mein Fieber – etwas, das größer ist als mein Leben, als meine Geschichte, die von eifrigen Sachverständigen rekonstruiert wird, reduziert auf Fakten, denen wieder andere Fakten widersprechen. Meine Geschichte ist hoffnungslos, sagen die Gutachter.

Ja, für dieses mein Fieber, das vielleicht das Fieber anderer ist, auf jeden Fall das Fieber der Zukunft, von Kindern und Kindeskindern, von all unseren Nachkommen, für dieses Fieber soll dieser Katalog notwendiger Sünden Propaganda sein. Würde einer der Sachverständigen die Hand auf meine glühende und schweißnasse Stirn legen, so würde er diese Zukunft erspüren.

Für mich hält die Zukunft zwei Möglichkeiten parat: Paradies oder Hölle. Mir ist es gleich. Was immer Sie wollen. Ich bin kein Wortkünstler. Wenn nur ein Sachverständiger die Hand auf meine Stirn zu legen wagt.

Nichts ist schrecklicher als die Nähe des anderen. Nach nichts sehnt man sich zugleich mehr. Ich betrachte den Tod nicht als Auflösung der individuellen Existenz, das Ende des Ichs oder, etwas bescheidener gesagt, die Auflösung des physischen und unbedeutenden Körpers. Alles Unsinn. Der Tod ist die Unmöglichkeit, noch eine Nähe zum anderen herzustellen. Die schreckliche, verbrecherische Nähe, mit der alle Lust anfängt und endet.

Wenn ich gesündigt habe, dann nur, weil ich die Nähe des anderen gesucht habe. Gesucht und gefunden.

Alles Leben verlangt nach Schmerz. Sonst wäre ich allein geblieben, hätte man mich gemieden oder mich sofort aus aller Gemeinschaft verstoßen.

Man mag es vielleicht nicht zugeben, schließlich gibt es anerkannte Grundsätze und Weisheiten, Kollegen und Familienangehörige, auf die man Rücksicht nehmen muss, Dogmen, die niemand zu hinterfragen wagt, Tabus, die sich ganz zufällig, so scheint es, in das x-te Goldene Kalb verwandelt haben – aber der größte und tiefste Schmerz ist die Abwesenheit jeglichen Schmerzes, die völlige Schmerzlosigkeit, die Abwesenheit jeglichen Dramas und damit jeglicher Art von Geschichte.

Was mir am Sichabfinden mit dem Zufall immer am meisten widerstrebte, ist der erbärmliche Charakter dieses Zufalls. Sich von vornherein zu ergeben, noch bevor ein einziger Schuss gefallen ist.

Bis auf meine Zeugung hat der Zufall in meinem Leben keine bedeutende Rolle gespielt. Ich habe mir den Zufall gefügig gemacht, ich habe mit ihm gespielt. Und das tue ich noch immer.

Von meinem Vater erbte ich meinen Namen: François Lepeltier, sprich: Löpöltieh, doch in Heidelberg sagten alle konsequent »Lepel-Tier« (wie »Faultier«), darum tat ich das nach und nach...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2023
Reihe/Serie Die Andere Bibliothek
Die Andere Bibliothek
Mitarbeit Designer: Hanna Zeckau
Übersetzer Rainer Kersten
Sprache deutsch
Original-Titel Gstaad
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Baden-Baden • Bestseller-Autor • Christian Kracht • Daniel Kehlmann • Felix Krull • Grand Hotel • Hochstapler • Ironie • Julia Franck • Karriere • Leben im Hotel • Lebensgeschichte • picaresque • Schelmenroman • Schwarzer Humor • Schweiz
ISBN-10 3-8412-3377-5 / 3841233775
ISBN-13 978-3-8412-3377-6 / 9783841233776
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