ANTHROPOLIS (eBook)

Ungeheuer. Stadt. Theben.
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
416 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491665-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

ANTHROPOLIS -  Roland Schimmelpfennig
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Roland Schimmelpfennig wirft einen modernen Blick auf die Antike und auf die großen griechischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. Seine Übersetzungen sind von sprachlich unvergleichlicher Klarheit, seine Überschreibungen radikal, seine neuen Texte führen die Leser und das Theaterpublikum zurück zu den Ursprüngen des europäischen Theaters. Und ganz nebenbei schließt Roland Schimmelpfennig mit seiner eigenen Version des »Laios« eine zweitausendfünfhundert Jahre alte Lücke.  In »Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben.« sind die Neuübersetzungen, Überschreibungen und Neudichtungen »Dionysos«, »Laios«, »Ödipus«, »Iokaste« und »Antigone« zu finden.

Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: »Die Frau von früher«, »Trilogie der Tiere« und »Der goldene Drache«. 2016 erschien sein erster Roman »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts«, der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand, und 2017 sein zweiter Roman »Die Sprache des Regens«. Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin und Havanna.

Roland Schimmelpfennig, geboren 1967 in Göttingen, ist Autor, Regisseur und vor allem einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er studierte, nach einem längeren Aufenthalt als Journalist in Istanbul, Regie an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Seither schreibt er Theaterstücke für große Häuser wie das Deutsche Theater Berlin, das Burgtheater Wien, das Residenztheater München und das Schauspielhaus Hamburg – aber auch für internationale Bühnen in Stockholm, Kopenhagen, Toronto oder Tokio. Seine Theaterstücke – darunter auch vielgespielte Texte für das Kinder und Jugendtheater – werden immer wieder mit Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem renommierten Mülheimer Dramatikerpreis. Bei S. FISCHER erschien zuletzt Roland Schimmelpfennigs dritter Roman »Die Linie zwischen Tag und Nacht«. Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin.

6.


EIN MANN

Später an jenem Abend,

nach dem Fest, geht ein Mann

alleine durch die Stadt.

Er trägt einen Schleier

oder eine Maske

oder ein Gesicht,

das nicht das seine ist,

denn jeder, der sein wirkliches Gesicht sieht,

verbrennt.

 

An einer Ecke kauft der Mann

von einem Blinden

Zigaretten und die Abendzeitung.

EINE FRAU

Der Blinde

tastet nach der Hand des Mannes,

und dann sagt er:

Heute in neunzehn Jahren

wirst du dich verlieben.

 

Und dann wird die Frau, die du liebst,

in Flammen aufgehen, verbrennen –

 

und du wirst euren Sohn gebären.

 

So wird es sein.

 

EIN MANN

Der Mann läuft weiter

durch die Stadt bei Nacht,

allein,

 

EINE FRAU

und dann sieht er,

 

auf den Tag genau

neunzehn Jahre später,

 

auf einem Platz neben einem Brunnen

in einer Gruppe von Freundinnen und Freunden

eine junge Frau,

die ihn an ein Mädchen erinnert,

das er einmal gekannt hatte,

vor langer Zeit,

Europa.

EINE ANDERE FRAU

Er geht auf die Gruppe zu,

fragt nach Feuer,

und das Lächeln der jungen Frau

bricht für immer sein Herz.

 

Eine Frau gibt einem Mann Feuer.

 

EIN MANN

Wie heißt du, fragt der Mann.

Semele, sagt sie.

Und das ist meine Schwester, Agaue.

 

EINE FRAU

Ich heiße Semele,

und wie heißt du?

EINE ANDERE FRAU

Ich – sagt der Mann,

EIN MANN

Ich –

EINE FRAU

Ich bin –

EIN MANN

Ich bin –

EINE ANDERE FRAU

und dann spricht der Mann nicht weiter.

 

EINE FRAU

Ich verliebte mich in einen –

Ich weiß nicht, in wen ich mich verliebte –

 

Und er verliebte sich in mich,

das ging so schnell –

 

Wir mussten beide lachen,

so schnell ging das.

Das war wie ein Blitz.

 

Ein Mann nimmt die Hand einer Frau.

 

Stell dir vor,

wir hätten ein Kind,

sagte ich zu ihm.

 

Sie lacht. Er lächelt.

 

Das habe ich wirklich gesagt,

stell dir vor,

wir würden ein Kind bekommen,

du und ich.

 

EIN MANN

Semele – die junge Frau hieß Semele.

EINE FRAU

Und sie stand da an dem Abend auf dem Platz

mit ihren Freundinnen und Freunden,

und mit ihren drei Schwestern,

Agaue, Ino und Autonoë –

EINE ANDERE FRAU

Semele, Agaue, Ino und Autonoë,

das waren die vier Töchter des Kadmos

und der Harmonia,

EIN MANN

Prinzessinnen –

EIN ANDERER MANN

Richtige Prinzessinnen,

die Prinzessinnen von Theben –

Die treffen sich manchmal

in den warmen Sommernächten

mit ihren Freundinnen und Freunden

auf dem großen Platz,

und da rauchen sie heimlich

und reden über –

EINE FRAU

Und dann kommt ein Mann,

eines Abends,

den hier noch nie jemand zuvor gesehen hat,

und fragt Semele nach Feuer.

 

Einfach so.

 

EINE ANDERE FRAU

Und ein paar Wochen später ist sie schwanger.

 

Lange Pause.

 

EINE FRAU

Vater –

ich bin schwanger.

 

Pause.

 

Aber das Kind ist nicht von irgendwem,

das Kind ist von Zeus.

Also von Gott.

EIN MANN

Sie sagt, das Kind sei von Zeus.

EINE ANDERE FRAU

Klar –

klar ist das Kind von Zeus,

was soll sie auch sonst sagen.

EINE WEITERE FRAU

Nur dass das Kind natürlich nicht von Zeus ist,

sondern von irgendeinem Typen,

der sich wichtigmacht

und der sein Gesicht nicht zeigt,

und sie glaubt den Schwachsinn auch noch –

falls sie sich das Ganze

nicht selbst ausgedacht hat –

EINE ANDERE FRAU

und jetzt sollen die Geschichte alle glauben,

Entschuldigung,

geht’s noch,

als Nächstes schwimmt dann ein Stier vorbei –

EIN MANN

Na ja – die fünf Männer,

die fünf Männer,

die aus den Drachenzähnen gewachsen waren,

sagen, na ja –

EINE FRAU

Warum zeigt er denn nicht

sein wahres Gesicht,

dein angeblicher Gott,

woher willst du denn wissen,

wer das ist,

wenn du ihn nicht sehen kannst –

EIN ANDERER MANN

Die fünf Männer sagen,

was kann man wissen,

was muss man glauben,

wir wissen doch gar nicht,

woher wir kommen, woher

sollen wir denn wissen,

was richtig ist

und was falsch ist

und was wahr ist und was nicht –

das ist so schwierig,

eine Welt aus nichts als Zweifel

stürzt in sich selbst zusammen,

aber eine Welt, die nur

aus blindem Glauben besteht,

tut es auch –

und das eine führt ja dann zum nächsten

und immer so weiter und weiter,

ist Glauben ein Glück

oder eine Gefahr,

und können Götter überhaupt

mit Menschen Kinder kriegen,

ganz allgemein gefragt,

und was ist mit Fortpflanzung im Speziellen,

ist Fortpflanzung Fortschritt,

Sicherung des Fortbestands

der eigenen Art

oder deren Vernichtung,

und dann, dann flattert einem

so ein Katalog ins Haus,

oder es gibt ihn jetzt

nur noch online,

weil die von dem Katalog

jetzt alles besser machen wollen,

vielleicht wollen sie aber

auch nur Geld sparen,

die Frage aber bleibt dieselbe:

Ist das Sofa

mauve oder lila oder braun,

und müsste es nicht eine Instanz geben,

die uns von all diesen Fragen befreit?

Aber welche? Die Kunst?

Ist die Kunst frei

oder trägt sie Verantwortung?

Und was ist der Auftrag der Politik?

Hat Politik überhaupt

einen moralischen Auftrag?

Soll sie diesen Katalog

ermöglichen

oder sollte sie ihn nicht besser

verhindern?

Und welchen Auftrag

hat der Katalog selbst?

Was ist denn mehr wert:

der Markt

oder die Würde

oder das Leben?

Was brauchen wir?

Was brauchen wir wirklich?

Und was müssen wir wissen?

Sind wir glücklicher, wenn wir wissen,

ob das Sofa mauve oder lila ist

oder braun mit einem Stich ins –

wie heißt die Farbe? –

könnte auch Flieder sein.

Oder Lavendel??

Was ist Wohlstand?

Macht Wohlstand uns glücklich,

und, nächste Frage,

welchen Stellenwert

hat denn das persönliche Glück,

ist Wohlstand das höchste aller Güter,

und falls nein, was ist es dann?

Die Freiheit?

Angenommen, es gäbe Antworten

auf diese Fragen,

oder zumindest

an Wahrheit grenzende Überzeugungen

im Allgemeinen,

darf man lügen, um diese zu vertreten,

wenn sie doch wahr sind?

Ja oder nein?

Ist Gewalt zur Durchsetzung

dieser Wahrheiten oder Überzeugungen

erlaubt oder nicht

oder zerstört Gewalt am Ende auch das,

was es bewahren wollte?

 

Verzweifelte Pause.

 

Was darf man sagen?

Was darf man nicht sagen?

Was muss man benennen, aussprechen,

weil es da ist

und weil es immer da sein wird,

gerade, wenn man es nicht benennt?,

und was darf man nicht benennen,

weil es nur dadurch, dass man es benennt,

weiter in der Welt ist?

EINE FRAU

Und meine Schwester sagte,

der Vater dieses Kindes,

das ist ein Mann,

wie jeder andere,

nur dass du sein Gesicht nicht kennst.

Woher willst du wissen,

wer das ist,

das könnte sonst wer sein.

 

Pause.

 

EINE ANDERE FRAU

Einer, der rumfährt.

Ein Bauzimmermann, vielleicht.

Oder ein Schauspieler

oder ein Starkstromtechniker

vom Tourneetheater.

 

Oder vom Rummel.

 

EINE FRAU

Komm, Liebster,

sagt die junge, schwangere Frau

zu dem Vater ihres Kindes.

Komm.

Komm, zeig mir,

wer...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Aischylos • Antigone • Antike • Deutsches Schauspielhaus • Dionysos • Dramatik • Euripides • Griechenland • griechische Mythologie • iokaste • Karin Beier • Laios • Lina Beckmann • Ödipus • Sophokles • Theben
ISBN-10 3-10-491665-9 / 3104916659
ISBN-13 978-3-10-491665-1 / 9783104916651
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