ANTHROPOLIS (eBook)
416 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491665-1 (ISBN)
Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: »Die Frau von früher«, »Trilogie der Tiere«, »Der goldene Drache« und »Anthropolis«. 2016 erschien sein erster Roman »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts«, der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand. Es folgten die beiden Romane »Die Sprache des Regens« (2017) und »Die Linie zwischen Tag und Nacht« (2021). Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin.
Roland Schimmelpfennig, geboren 1967 in Göttingen, ist Autor, Regisseur und vor allem einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er studierte, nach einem längeren Aufenthalt als Journalist in Istanbul, Regie an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Seither schreibt er Theaterstücke für große Häuser wie das Deutsche Theater Berlin, das Burgtheater Wien, das Residenztheater München und das Schauspielhaus Hamburg – aber auch für internationale Bühnen in Stockholm, Kopenhagen, Toronto oder Tokio. Seine Theaterstücke – darunter auch vielgespielte Texte für das Kinder und Jugendtheater – werden immer wieder mit Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem renommierten Mülheimer Dramatikerpreis. Bei S. FISCHER erschien zuletzt Roland Schimmelpfennigs dritter Roman »Die Linie zwischen Tag und Nacht«. Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin.
6.
EIN MANN
Später an jenem Abend,
nach dem Fest, geht ein Mann
alleine durch die Stadt.
Er trägt einen Schleier
oder eine Maske
oder ein Gesicht,
das nicht das seine ist,
denn jeder, der sein wirkliches Gesicht sieht,
verbrennt.
An einer Ecke kauft der Mann
von einem Blinden
Zigaretten und die Abendzeitung.
EINE FRAU
Der Blinde
tastet nach der Hand des Mannes,
und dann sagt er:
Heute in neunzehn Jahren
wirst du dich verlieben.
Und dann wird die Frau, die du liebst,
in Flammen aufgehen, verbrennen –
und du wirst euren Sohn gebären.
So wird es sein.
EIN MANN
Der Mann läuft weiter
durch die Stadt bei Nacht,
allein,
EINE FRAU
und dann sieht er,
auf den Tag genau
neunzehn Jahre später,
auf einem Platz neben einem Brunnen
in einer Gruppe von Freundinnen und Freunden
eine junge Frau,
die ihn an ein Mädchen erinnert,
das er einmal gekannt hatte,
vor langer Zeit,
Europa.
EINE ANDERE FRAU
Er geht auf die Gruppe zu,
fragt nach Feuer,
und das Lächeln der jungen Frau
bricht für immer sein Herz.
Eine Frau gibt einem Mann Feuer.
EIN MANN
Wie heißt du, fragt der Mann.
Semele, sagt sie.
Und das ist meine Schwester, Agaue.
EINE FRAU
Ich heiße Semele,
und wie heißt du?
EINE ANDERE FRAU
Ich – sagt der Mann,
EIN MANN
Ich –
EINE FRAU
Ich bin –
EIN MANN
Ich bin –
EINE ANDERE FRAU
und dann spricht der Mann nicht weiter.
EINE FRAU
Ich verliebte mich in einen –
Ich weiß nicht, in wen ich mich verliebte –
Und er verliebte sich in mich,
das ging so schnell –
Wir mussten beide lachen,
so schnell ging das.
Das war wie ein Blitz.
Ein Mann nimmt die Hand einer Frau.
Stell dir vor,
wir hätten ein Kind,
sagte ich zu ihm.
Sie lacht. Er lächelt.
Das habe ich wirklich gesagt,
stell dir vor,
wir würden ein Kind bekommen,
du und ich.
EIN MANN
Semele – die junge Frau hieß Semele.
EINE FRAU
Und sie stand da an dem Abend auf dem Platz
mit ihren Freundinnen und Freunden,
und mit ihren drei Schwestern,
Agaue, Ino und Autonoë –
EINE ANDERE FRAU
Semele, Agaue, Ino und Autonoë,
das waren die vier Töchter des Kadmos
und der Harmonia,
EIN MANN
Prinzessinnen –
EIN ANDERER MANN
Richtige Prinzessinnen,
die Prinzessinnen von Theben –
Die treffen sich manchmal
in den warmen Sommernächten
mit ihren Freundinnen und Freunden
auf dem großen Platz,
und da rauchen sie heimlich
und reden über –
EINE FRAU
Und dann kommt ein Mann,
eines Abends,
den hier noch nie jemand zuvor gesehen hat,
und fragt Semele nach Feuer.
Einfach so.
EINE ANDERE FRAU
Und ein paar Wochen später ist sie schwanger.
Lange Pause.
EINE FRAU
Vater –
ich bin schwanger.
Pause.
Aber das Kind ist nicht von irgendwem,
das Kind ist von Zeus.
Also von Gott.
EIN MANN
Sie sagt, das Kind sei von Zeus.
EINE ANDERE FRAU
Klar –
klar ist das Kind von Zeus,
was soll sie auch sonst sagen.
EINE WEITERE FRAU
Nur dass das Kind natürlich nicht von Zeus ist,
sondern von irgendeinem Typen,
der sich wichtigmacht
und der sein Gesicht nicht zeigt,
und sie glaubt den Schwachsinn auch noch –
falls sie sich das Ganze
nicht selbst ausgedacht hat –
EINE ANDERE FRAU
und jetzt sollen die Geschichte alle glauben,
Entschuldigung,
geht’s noch,
als Nächstes schwimmt dann ein Stier vorbei –
EIN MANN
Na ja – die fünf Männer,
die fünf Männer,
die aus den Drachenzähnen gewachsen waren,
sagen, na ja –
EINE FRAU
Warum zeigt er denn nicht
sein wahres Gesicht,
dein angeblicher Gott,
woher willst du denn wissen,
wer das ist,
wenn du ihn nicht sehen kannst –
EIN ANDERER MANN
Die fünf Männer sagen,
was kann man wissen,
was muss man glauben,
wir wissen doch gar nicht,
woher wir kommen, woher
sollen wir denn wissen,
was richtig ist
und was falsch ist
und was wahr ist und was nicht –
das ist so schwierig,
eine Welt aus nichts als Zweifel
stürzt in sich selbst zusammen,
aber eine Welt, die nur
aus blindem Glauben besteht,
tut es auch –
und das eine führt ja dann zum nächsten
und immer so weiter und weiter,
ist Glauben ein Glück
oder eine Gefahr,
und können Götter überhaupt
mit Menschen Kinder kriegen,
ganz allgemein gefragt,
und was ist mit Fortpflanzung im Speziellen,
ist Fortpflanzung Fortschritt,
Sicherung des Fortbestands
der eigenen Art
oder deren Vernichtung,
und dann, dann flattert einem
so ein Katalog ins Haus,
oder es gibt ihn jetzt
nur noch online,
weil die von dem Katalog
jetzt alles besser machen wollen,
vielleicht wollen sie aber
auch nur Geld sparen,
die Frage aber bleibt dieselbe:
Ist das Sofa
mauve oder lila oder braun,
und müsste es nicht eine Instanz geben,
die uns von all diesen Fragen befreit?
Aber welche? Die Kunst?
Ist die Kunst frei
oder trägt sie Verantwortung?
Und was ist der Auftrag der Politik?
Hat Politik überhaupt
einen moralischen Auftrag?
Soll sie diesen Katalog
ermöglichen
oder sollte sie ihn nicht besser
verhindern?
Und welchen Auftrag
hat der Katalog selbst?
Was ist denn mehr wert:
der Markt
oder die Würde
oder das Leben?
Was brauchen wir?
Was brauchen wir wirklich?
Und was müssen wir wissen?
Sind wir glücklicher, wenn wir wissen,
ob das Sofa mauve oder lila ist
oder braun mit einem Stich ins –
wie heißt die Farbe? –
könnte auch Flieder sein.
Oder Lavendel??
Was ist Wohlstand?
Macht Wohlstand uns glücklich,
und, nächste Frage,
welchen Stellenwert
hat denn das persönliche Glück,
ist Wohlstand das höchste aller Güter,
und falls nein, was ist es dann?
Die Freiheit?
Angenommen, es gäbe Antworten
auf diese Fragen,
oder zumindest
an Wahrheit grenzende Überzeugungen
im Allgemeinen,
darf man lügen, um diese zu vertreten,
wenn sie doch wahr sind?
Ja oder nein?
Ist Gewalt zur Durchsetzung
dieser Wahrheiten oder Überzeugungen
erlaubt oder nicht
oder zerstört Gewalt am Ende auch das,
was es bewahren wollte?
Verzweifelte Pause.
Was darf man sagen?
Was darf man nicht sagen?
Was muss man benennen, aussprechen,
weil es da ist
und weil es immer da sein wird,
gerade, wenn man es nicht benennt?,
und was darf man nicht benennen,
weil es nur dadurch, dass man es benennt,
weiter in der Welt ist?
EINE FRAU
Und meine Schwester sagte,
der Vater dieses Kindes,
das ist ein Mann,
wie jeder andere,
nur dass du sein Gesicht nicht kennst.
Woher willst du wissen,
wer das ist,
das könnte sonst wer sein.
Pause.
EINE ANDERE FRAU
Einer, der rumfährt.
Ein Bauzimmermann, vielleicht.
Oder ein Schauspieler
oder ein Starkstromtechniker
vom Tourneetheater.
Oder vom Rummel.
EINE FRAU
Komm, Liebster,
sagt die junge, schwangere Frau
zu dem Vater ihres Kindes.
Komm.
Komm, zeig mir,
wer...
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | Aischylos • Antigone • Antike • Deutsches Schauspielhaus • Dionysos • Dramatik • Euripides • Griechenland • griechische Mythologie • iokaste • Karin Beier • Laios • Lina Beckmann • Ödipus • Sophokles • Theben |
ISBN-10 | 3-10-491665-9 / 3104916659 |
ISBN-13 | 978-3-10-491665-1 / 9783104916651 |
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