Kiki Man Ray (eBook)

Kunst, Liebe und Rivalität im Paris der 20er Jahre

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
350 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77632-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kiki Man Ray - Mark Braude
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Man nannte ihn »Man Ray« und sie die »Königin von Montparnasse«: Emmanuel Radnitzky und Alice Ernestine Prin.
Kiki de Montparnasse begeisterte als Sängerin in Nachtclubs, plauderte mit Jean Cocteau und Marcel Duchamp in den angesagten Cafés von Paris und saß Malern wie Modigliani, Calder und Soutine Modell. Ihre Autobiografie - mit einem Vorwort von Ernest Hemingway - kam in Frankreich ganz groß raus und in Amerika auf den Index. Und das alles noch vor ihrem dreißigsten Lebensjahr.
Als Kiki und Man Ray sich kennenlernen, ist sie 20 und eine feste Größe in der Montparnasse-Bohème, er 31, ein namenloser Fotograf aus Amerika, gerade erst in Paris angekommen. Er fotografiert sie, sie werden ein Paar, es folgt eine acht Jahre währende stürmische Liebesbeziehung. Mit ikonischen Aufnahmen wie »Violon d'Ingres« und »African mask« - ihr Rücken, ihr makelloses Gesicht - begründet Man Ray seine Karriere, sie öffnet ihm die Türen zu Galeristen und Künstlern. Er ermuntert sie, selbst zu malen: Alltagsszenen, Erinnerungen an ihre Kindheit im Burgund. Aber als sie auch damit Erfolg hat, ist er eifersüchtig und macht sie klein.

Wa war es, das diese junge Frau wie keine andere zur Verkörperung einer ganzen Ära machte? In seinem akribisch recherchierten, glänzend geschriebenen Buch versucht Mark Braude, dem Mythos Kiki auf die Spur zu kommen, das Rätsel ihrer Anziehungskraft zu entschlüsseln. Erstmals wird Kikis prägender Einfluss nicht nur auf Man Ray, sondern auf die gesamte Künstlerszene vom Montparnasse deutlich.



Mark Braude, mehrfach ausgezeichneter kanadischer Sachbuchautor und Universitätsdozent, lebt in Vancouver.

1

Gassenhauer vom Marmortisch herab


Der Mann, den man Kiki als ihren Vater benannte, verkaufte Holzkohle vom Pferdewagen. Wenn er zu Lieferungen unterwegs war, verkündete er sein Kommen mit einer Blechtrompete. Die Holzkohle stellte er in Meilern tief in dem Wald her, der hinter dem Dorf begann. Kiki erinnert sich, dass er sie oft in den Wald mitnehmen wollte und dass sie sich stets weigerte. Denn sie wusste nie, ob er ihr etwas antun oder sie einfach nur in die Arme nehmen wollte, um sie endlich, ohne Beobachter und an einem sicheren Ort, als seine Tochter anzuerkennen.

Sie wurde am 2. Oktober 1901 als Alice Ernestine Prin in Châtillon-sur-Seine geboren, einem Dorf in der Bourgogne, 230 Kilometer südöstlich von Paris und knapp 50 Kilometer nördlich von der Quelle der Seine. In dieser Gegend bestimmte das bäuerliche Leben den Tagesablauf, wie fast überall in Frankreich, abgesehen von der Hauptstadt. Alice erzählte gern, dass sie es mit ihrer Geburt so eilig hatte und in ihrer Mutter so heftige Wehen auslöste, dass diese einfach auf der Straße niedersank. Es sah schon so aus, als würde das Kind auf dem Bürgersteig das Licht der Welt erblicken, doch schließlich trug sie jemand nach Hause. Während der Geburt hatte sich bei Alice die Nabelschnur um den Hals gewickelt, und sie lief bereits blau an, doch das »Schicksal hatte gewollt, dass ich eine Chance bekam«. Sie wurde nach einer Tante benannt, deren trauriges Leben in einer Erziehungsanstalt endete, in der sie unter Umständen, die ihre Namensvetterin nie genau erfuhr, gerade achtzehnjährig starb.

Marie Prin, ihre Mutter, war achtzehn Jahre alt und arm. Kikis um zehn Jahre älterer Vater Maxime Legros war ein bisschen besser gestellt. Marie Prin war bereits zweimal von ihm schwanger gewesen, ein Mädchen war als Totgeburt auf die Welt gekommen, ein weiteres hatte nur vier Monate überlebt. Ihre dritte Schwangerschaft hatten die beiden so lange wie möglich verheimlicht. Maximes Eltern waren gegen diese Beziehung und setzten ihn irgendwann unter Druck, eine Frau aus einem anderen Dorf zu heiraten, die offenbar eine bessere Partie abgab als Marie. Sie brachte eine Mitgift von tausend Francs und ein Schwein mit in die Ehe.

Alice gesellte sich zu ihren fünf Cousinen und Cousins – zwei Mädchen und drei Jungen, die unehelichen Kinder ihrer beiden Tanten –, die allesamt zur Großmutter Geneviève Prin gegeben wurden, in deren Haus in der Rue de la Charme sie aufwuchsen. Marie ging nach Paris und arbeitete als Krankenschwester in einer Entbindungsstation, wie so viele unverheiratete Mütter, die in derartige Einrichtungen geschickt wurden, um in der Heimat den Skandal zu vermeiden. Deren Leitung hoffte, die Schreie und das Blut würden die Mädchen an das gemahnen, was sie erwartete, falls sie ihre Missetaten wiederholten.

Marie schickte jeden Monat fünf Francs nach Hause. Großmutter Prin übernahm derweil für die Nachbarn die Wäsche und Näharbeiten. Großvater Prin war Hilfsarbeiter im Straßenbau und somit der erste männliche Prin, der seinen Lebensunterhalt nicht als Schafhirte verdiente.

Zwei Mal in der Woche stellten sich Alice und ihre Cousinen und Cousins bei den Töchtern der Christlichen Liebe vom heiligen Vinzenz von Paul an und ließen sich Gemüsebrühe und Reis zuteilen. Die Familie, aus der sie stammten, gehörte nicht zu den praktizierenden Christen, und so bekamen sie mit der Brühe von den Nonnen stets auch eine Portion bissiger Worte serviert. Wenn die Mutter in der großen Stadt bei den Reichen ihr Leben genoss, fragten sie Alice, warum stand ihre Tochter dann hungrig und in Lumpen vor ihnen? In einer Zeichnung, die sie Jahre später aus dem Gedächtnis anfertigt, bildet sich Alice als mageres Kind am Ende einer Schlange von Menschen ab, die auf ihre Mahlzeit von einer Nonne warten. Diese ist von furchterregender Gestalt, drei Mal so groß wie die von ihr versorgten Dorfbewohner, und ihre weiße Cornette, die Flügelhaube, ragt weit über die breiten Schultern hinaus. »Und was sie alles gesagt haben, diese Vertreter Gottes auf Erden«, schreibt Alice später in ihren Memoiren. »Mit diesen schmallippigen Mündern, verkniffen von all der Bitterkeit und Bosheit, die aus ihnen herausdrang.«

Alice verschaffte sich Momente des Glücks, wo sie sie finden konnte. Allein die Bohnensuppe, die sie bekam, als sie in die Vorschule ging, machte sie glücklich. Sonst aber gab es nur wenig in der öffentlichen Schule ihres Dorfs, was ihr Freude bereitete. Sie spürte, dass die Lehrerin die Wohlfahrtszöglinge mit ihren zerlumpten Kleidern und den spindeldürren Beinen hasste, die sie in den hinteren Teil des Klassenzimmers verbannt hatte. Sie kratzte Alice, wenn sie mit ihren scharfen Nägeln bei ihr auf Läusesuche ging, obwohl ihr die Großmutter in weiser Voraussicht die Haare kurz geschnitten hatte wie bei einem Jungen. Wenn sich Alice gegen die grobe Behandlung wehrte, musste sie mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen.

Die anderen Kinder bewunderten sie. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihnen Angst einzujagen, indem sie gegenüber vom Schulhof auf der niedrigen Kalksteinmauer am Ufer der Seine auf Zehenspitzen balancierte. Auf der anderen Seite ging es drei Meter weit in die Tiefe.

Als sie zehn war, schwänzte sie häufig die Schule. Niemand könne sie dazu zwingen, hatte sie sich zurechtgelegt. In diesen Jahren bestand in Frankreich bereits Schulpflicht; die Grundschule sollte als Eckpfeiler der Modernisierung die Entwicklung des Nationalgefühls befördern, was hieß, der bäuerlichen Bevölkerung die Werte der Republik einzutrichtern und den Einfluss volkstümlicher Traditionen und der »rückständigen« ländlichen Dialekte zu beschneiden. Doch niemand setzte gegenüber Alice die Regeln durch. »Die Großmutter hat uns oft angeschrien«, schreibt sie über ihre Kindheit mit den Cousinen und Cousins. »Wir aber schrien lauter als sie.« Nachbarn warfen Großmutter Prin vor, zu nachgiebig mit ihren Zöglingen umzugehen. Um sie zu täuschen, hieb sie hinter dem Haus mit einem Besenstiel auf einen Tisch, während ihre jungen Komplizen aufheulten, als würden sie grün und blau geschlagen.

Alice verbrachte ihre Zeit am liebsten im Freien, wo sie immer etwas zu essen auftreiben konnte. Nach heftigen Regengüssen grub sie aus frisch geschlagenen Gräben Schnecken aus und zog dann, die Finger erdverkrustet, weiter, um noch mehr in den Ritzen alter Häuser zu suchen. Sie pflückte wilde Erdbeeren und sammelte erdig schmeckende Pilze. Außerdem gab es überall Löwenzahnwurzeln, die sie, gewaschen und von Blättern und Stängeln befreit, schüsselweise verkaufen konnte, weil man daraus Tee kochte.

Alice war das einzige der Kinder bei der Großmutter, deren Vater noch am Leben war. Einmal schnappte sie ein Gespräch auf, in dem ein Mann einem anderen erzählte, eins der Mädchen im Dorf sei ihre Halbschwester. Die Ähnlichkeit sei unverkennbar, meinte er, denn »die eine ist genauso hässlich wie die andere«. Wann immer Alice und dieses Mädchen aufeinandertrafen, gab es nahezu unweigerlich und fast schon instinktgetrieben eine Prügelei. Wenn die andere drohte, es ihrem Vater zu sagen, schleuderte Alice ihr entgegen, das sei ihr egal, er sei auch ihr Vater. Großmutter Prin warnte Alice, wenn sie ihn jemals aufsuchte, würde er sie »umbringen, genau wie die anderen«. Als Erwachsene folgerte sie, das habe sich wohl auf die beiden Schwestern bezogen, die Marie und Maxime vor ihrer Geburt verloren hatten und für deren Tod ihre Großmutter irgendwie Maxime verantwortlich machte.

Ein anderer Mann – von Alice in ihren Erinnerungen nur »mein Pate« genannt – übernahm in ihrer Kindheit die Rolle, ihr beizustehen. Er sammelte mit seinem Pferdekarren den Müll des Dorfes. Wenn er ihn gefüllt hatte und zu einem weit entfernten Feld fuhr, um ihn dort abzuladen, kam Alice oft mit, wühlte in Lumpen und Flaschen und »spielte Alice im Wunderland«. Nach der Arbeit gingen sie beide in ein Bistro, wo sie sich aus noch nicht gespülten Gläsern die letzten Tropfen Pernod ergaunerte, während ihr Pate, ein Alkoholschmuggler, seinen Geschäften nachging. Gelegentlich stieg sie auf einen Marmortisch und stimmte ein paar alte Gassenhauer an, röhrte durch ihren Lakritzatem die abgenudelten Melodien, um anschließend herumzugehen und sich mit ein paar Münzen oder einem Schluck Wein belohnen zu lassen. ...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2023
Sprache deutsch
Original-Titel Kiki Man Ray. Art, Love an Rivalry in 1920s Paris
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Afrikan mask • aktuelles Buch • Alice Prin • Biographie • Bohème • bücher neuerscheinungen • Emmanuel Radnitzky • Fotografie • Gesang • Kiki de Montparnasse • Kiki Man Ray. Art Love and Rivalry in 1920s Paris deutsch • Königin von Montparnasse • Künstlerpaar • Liebespaar • Malerin • Man Ray • Muse • Nachtclub • Neuerscheinungen • neues Buch • Paarbiographie • Paris • Paris (Region) • Sängerin • violon d'Ingres • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-458-77632-X / 345877632X
ISBN-13 978-3-458-77632-1 / 9783458776321
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