Nicht ich (eBook)
208 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8078-3 (ISBN)
Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe - «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» - wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane »Schmerz« und »Schicksal«. Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.
Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane »Schmerz« und »Schicksal«. Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.
Genau sieben Monate nachdem ich der Liebe meines Lebens begegnet war, gingen wir, mein Mann und ich, uns heilen lassen. Der Heiler war ein Greis mit zitternden Fingern und einem depressiven Mund. Hättet Ihr uns drei so gesehen, Ihr hättet gedacht, wir seien gekommen, um ihn zu heilen. Wir trugen saubere schwarze Hemden, was unsere weißen und mutigen Gesichter betonte. Wir waren weiß vor Problemen, er blau vor Hoffnung. Heraus kam bei dieser Mischung ein süßlich helles Himmelblau. Sonst nichts. Hellblaue Vorhänge, ein hellblauer Langhaarteppich, hellblaue Kissen. Alles, was ein Mensch durch einen einzigen Fehler verlieren kann. Am Rand saß schweigend ein weiterer glatzköpfiger Mann und schrieb auf hellblauem Papier eine ziemliche Latte zusammen. Ich sagte: »Wie kann das sein? Wie viele Probleme können zwei Menschen denn haben?«
Der Heiler nahm einen Schluck Wasser und schüttete sich das ganze Glas über die Hose. Er schrumpfte vor Scham. Sofort stand mein Mann auf und trocknete ihn ab. Danach gab er ihm löffelweise zu trinken. Ich sagte: »Woher nähme ich das Recht, ihm ein Kind zu verweigern?« Viele Möglichkeiten gab es also nicht. Ich saß da, die ganze Situation war absolut unglaublich. Unten auf der Straße stand jemand, der billig Kreisel verkaufte. Er rief: »Die Preise kreiseln und drehn sich wie verrückt! Die Welt ist aus den Fugen, das ganze Haus steht Kopf!«
Die Operation, die sie vorschlugen, war absolut unzumutbar. War sie wirklich notwendig? Mein Mann und der Heiler beobachteten mich neugierig. Der Heiler setzte sich auf den weichen Schoß meines Mannes und strahlte vor Glück. Er sagte: »Schauen Sie, einen defekten Kopf muss man operieren. Einen Kopf, der in Ordnung ist, muss man nicht operieren.« Er holte einen riesigen Spiegel aus der Schublade und stellte ihn vor mich hin: »Entscheiden Sie, ob Ihr Kopf in Ordnung ist oder defekt.«
Der Spiegel blendete mich, ich konnte nichts sehen. Ich schaute zu meinem Mann. Schon sieben Jahre und sieben Monate traf er alle Entscheidungen für mich. »Was meinst du?«, fragte ich ihn, und er lächelte brutal. »Eine Frau, die sich von mir trennt, verzichtet auch darauf, meine Meinung zu hören.« Ich schaute zu dem Heiler. Er meinte: »Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich bin vor Alter blind.« Ich ging hinunter auf die Straße und rief den Kreiselverkäufer. Der sagte: »Tut mir leid, aber alles, was nicht die Form eines Kreisels hat, sieht für mich defekt aus. Kommen Sie, ich kleb Ihnen einen Kreisel an den Kopf; das löst alle Ihre Probleme.«
Im Kindergarten des Mädchens sangen sie bereits Chanukkalieder, aber geregnet hatte es noch nicht, und es war heiß. Im Radio sprach man von den Gefahren, die bei Chamsin-Wind von brennenden Kerzen ausgingen, und empfahl, die Chanukkaleuchter auf Eiswürfel zu stellen. Die Kreisel aus Blei zerschmolzen den Kindern in den Händen. Wenn Ihr auf der Straße ein Kind mit verbundenen Händen saht, wusstet Ihr gleich, warum. Man sah kaum noch Kinder ohne Verband. Deshalb streckte mein Mann plötzlich den Kopf aus dem Fenster und rief herunter: »Dass du es nicht wagst, bei dem einen Kreisel zu kaufen.«
Ich entschuldigte mich eilig und ging zurück ins Zimmer des Heilers. Ich sah, der Mann am Rand hatte schon lange Zahlenreihen geschrieben. Mein Mann wiegte den Heiler in seinen Armen. Er sagte zu ihm: »Schon immer wollte ich stillen, und noch mehr wollte ich Kinder kriegen.« Der Heiler kicherte genüsslich. Er versprach: »Das können wir heute alles lösen.«
Als wir bei ihm rausgingen, war mein Mann schwanger und ich ohne Gebärmutter. »Es gab keine andere Wahl«, hatte der Heiler sich entschuldigt. »Solange Sie noch verheiratet sind, sind Sie eine Einheit. Was ich ihm gegeben habe, musste ich bei Ihnen wegnehmen.« Ich sagte zu meinem Mann: »Konntest du damit nicht warten, bis wir geschiedene Leute sind? Ausgerechnet meine Gebärmutter wolltest du haben?« Sein Bauch schwoll schon an. Nacheinander sprangen die Knöpfe seines Hemdes ab.
»Na schön.« Ich gab klein bei. »Ich geb dir auch meine Umstandskleider, die brauchst du jetzt nötiger als ich.« Auf einen Schlag war meine Wut vorüber, sie schlug sogar um, in Mitleid. Keiner außer mir wusste es, aber in meiner Gebärmutter lag schon ein kleines, bösartiges Geschwulst. Nun bekam mein Mann von mir als Scheidungsgeschenk die Gebärmutter und dazu gleich noch das Geschwulst.
Als wir runtergingen, sahen wir den Kreiselverkäufer weinend vor einer Pfütze aus kochendem Brei sitzen. »Alle Kreisel sind auf einen Schlag geschmolzen«, jammerte er, »ich steh da und rufe noch: ›Die Welt ist aus den Fugen, das ganze Haus steht Kopf!‹, und indessen zerschmilzt mir das eigene Haus vor den Augen. Was mach ich denn jetzt?«
»Sehen Sie, mein Freund«, sagte mein Mann zu dem Kreiselverkäufer, in seinen schwarzen Augen glänzte religiöser Eifer, »dort oben wohnt der Heiler, der löst alle Ihre Probleme. Gehn Sie zu ihm hoch, er wird schon wissen, welche Operation die richtige für Sie ist.« – »Eine Operation?!«, schrie der Kreiselverkäufer. »Mir schmilzt das Haus weg! Was für eine Operation kann da noch helfen?«
Genau darauf hatte mein Mann gewartet. »Die Operation«, erklärte er geduldig, »wird Ihnen helfen, das Haus in Ihnen selbst zu finden. Er wird Ihnen ein Haus einpflanzen, dann brauchen Sie keine Häuser mehr aus gegossenem Blei.«
Das geschah, nur einen Monat bevor das Mädchen in Gefangenschaft geriet. Mein Mann war davon überzeugt, ich hätte sie ihnen ausgeliefert, aber es gibt drei Zeugen, die unter Eid aussagen können, dass sie entführt wurde. Die haben gesehen, wie die Soldaten sie in ihrem Tanzröckchen vom Spielplatz wegholten und über die Grenze brachten. Bei ihren Verhören sagte das Mädchen: »Ich habe keinen Vater, ich habe keine Mutter, ich habe keinen Bruder, ich habe keine Schwester«, doch sie glaubten ihr nicht.
Ihr könnt es glauben oder nicht, Hauptsache, endlich war etwas passiert. So hatte es nicht mehr weitergehen können. Ich hatte schon seit Jahren einen deprimierenden Tageslauf. Mein Mann wunderte sich, dass ich morgens nicht aufstand, und ich antwortete ihm: »Dich möcht ich sehen, wie du mit einem so deprimierenden Tageslauf morgens aus dem Bett kommst.« Also weckte er das Mädchen immer, zog ihr ein geblümtes Kleidchen an, putzte ihr die Zähne und fütterte sie mit Haferbrei, flocht ihr zwei Zöpfe und setzte ihr den kleinen Rucksack auf. So, mit den zwei Zöpfen und der Tasche auf dem Rücken, kam sie sich bei mir verabschieden.
Ein Mädchen, um das du dich nicht kümmerst, sagte ich mir, wirst du nicht lieben. Ein Mädchen, dem nicht du die Zöpfe geflochten hast, ist nicht deine Tochter. Wie Besuch, der nur kurz hereinschaut, kam sie in mein Zimmer, gab mir einen kleinen Kuss und sagte: »Steh endlich auf.« Ich musste mich schützen. Ich wusste nicht, wozu sie noch fähig war. Es heißt, die harmlosesten Gesichter verbergen die entsetzlichsten Gedanken, und sie, sie hatte das argloseste Gesicht, das man sich vorstellen kann.
Sie war eine Puppe, die man verzaubert hatte, sodass sie plötzlich zu atmen begann. Ich wusste nicht, wie lang ihr Motor laufen würde. Manchmal, wenn sie nachts aufwachte und weinte, sagte ich zu meinem Mann: »Schalt sie endlich aus. Wie lang soll das noch so gehen?« Schockiert sah er mich an und nahm sie in den Arm. Ich wusste, er würde sie entführen und bei der ersten Gelegenheit in ein Flugzeug setzen. In einem Puppenkarton wäre niemand draufgekommen, dass sie lebt. Als Geschenk war sie makellos, aber mir war klar, sie wusste zu viel.
Was hätte ich dann machen sollen? Jahre auf einen Anruf von ihm warten, dass er mir sagt: »Heut sind wir in Uruguay, morgen in Paraguay«, und das Mädchen mich mit fremdem Akzent ermahnt: »Steh endlich auf«? Dieses Leben ist nichts für mich. Jeder, der mich kennt, sagt mir: »Also du, du musst ja auf einem Fluss treiben und brauchst jemanden, der dir mit dem Fächer die Fliegen verjagt.«
Am Tag, an dem mein Mann auszog, rief ich ihn in seiner neuen Wohnung an und sagte: »Du hast hier eine Socke vergessen.« Er fragte: »Welche Socke?« Ich sagte: »Die weiße mit dem Loch.« Er sagte: »Wirf sie weg.« Ich sagte: »Einfach so wegwerfen? Jahre hast du auf ihr rumgetrampelt, und jetzt willst du sie wegwerfen?« Er sagte: »Jahre hast du auf mir rumgetrampelt, und jetzt wirfst du mich weg?« Ich...
Erscheint lt. Verlag | 2.1.2024 |
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Übersetzer | Anne Birkenhauer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Betrug • Ehe • Liebe • Scheidung • Trennung |
ISBN-10 | 3-8270-8078-9 / 3827080789 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8078-3 / 9783827080783 |
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