Nachhausekommen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8075-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nachhausekommen -  Jan Peter Bremer
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Sechs Jahre jung ist der Erzähler, als ihn seine Eltern aus dem wilden Berlin der 1970er-Jahre ins dörfliche Gümse des niedersächsischen Wendlands verpflanzen. Nicht nur ist sein imposanter Vater ein erfolgreicher Künstler, auch wird ihr Zuhause ein regelmäßiger Treffpunkt für die Kunst- und Kulturszene der alten Bundesrepublik. Mit dem intellektuellen, politisch links stehenden Milieu der Eltern und dem ländlich-provinziellen Leben des Dorfes im »Zonenrandgebiet« prallen Welten aufeinander, zwischen denen der Junge Orientierung sucht - und schließlich im Schreiben findet. In einer großen Erinnerungsbewegung schildert Jan Peter Bremer eine Kindheit auf dem Land, seine literarisch meisterhaft erzählte, tragikomische, berührende Geschichte.

Jan Peter Bremer, 1965 in Berlin geboren, erhielt für einen Auszug aus seinem Roman »Der Fürst spricht« 1996 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Er nahm Aufenthaltsstipendien im In- und Ausland wahr, unterrichtete am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und veröffentlichte zahlreiche weitere ausgezeichnete Romane, Hörspiele und ein Kinderbuch. Sein Roman »Der amerikanische Investor« (2011) wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis, dem Mörike-Preis und dem Nicolas-Born-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien der Roman »Der junge Doktorand« (2019), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Jan Peter Bremer lebt in Berlin.

Jan Peter Bremer, 1965 in Berlin geboren, erhielt für einen Auszug aus seinem Roman »Der Fürst spricht« 1996 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Er nahm Aufenthaltsstipendien im In- und Ausland wahr, unterrichtete am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und veröffentlichte zahlreiche weitere ausgezeichnete Romane, Hörspiele und ein Kinderbuch. Sein Roman »Der amerikanische Investor« (2011) wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis, dem Mörike-Preis und dem Nicolas-Born-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien der Roman »Der junge Doktorand« (2019), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Jan Peter Bremer lebt in Berlin.

Obwohl ich wusste, dass er es schon seit Jahrzehnten aufgegeben hatte, war das Erste, was mir vor Augen stand, als meine Mutter mir am Telefon mitteilte, T. S. sei gestorben, die Art und Weise, wie er früher geraucht hatte. Sobald er an seiner filterlosen Zigarette gezogen hatte, öffnete sich sein Mund, und nun schwebte der Rauch einem Ballon gleich über die Oberlippe hinweg in den schwarzen Bart hinein. Dann urplötzlich sog er ihn von dort erneut ein und entließ ihn erst eine Ewigkeit später, von einem Schnauben begleitet, durch die Nasenlöcher.

 

Im Umfeld, in dem ich aufwuchs, wurde unentwegt geraucht, und wenn meine Eltern abends Besuch bekamen und der Fernseher, ganz gleich, was gerade lief, ausgeschaltet wurde, bestand meine Beschäftigung darin, zu beobachten, wer wann seine Zigarette ausdrückte und wer sich in der Zwischenzeit wieder eine neue angezündet hatte. Gekoppelt an diese Beschäftigung, entwickelte ich den Ehrgeiz, die Luft, wenn tatsächlich plötzlich keiner mehr rauchte, so lange anhalten zu können, bis sich wieder einer eine neue Zigarette ansteckte. Mit wachsender Zahl der Gäste wurde diese Aufgabe natürlich leichter, weshalb ich auch immer wieder ungeduldig zum Fenster blickte, ob nicht ein weiteres Scheinwerferpaar in unserer Einfahrt aufleuchten würde.

 

Dieses Wohnzimmer, der Hauptraum eines kleinen, mittelalterlichen Fachwerkschlösschens, war damals, etwa Mitte der Siebzigerjahre, mit seinen englischen Stühlen und Sesseln, die um einen großen, massiven Eichentisch herumstanden, das Zentrum einer gerade erst zusammengekommenen Künstlerkolonie in einem der abgelegensten Landstriche Westdeutschlands. Die Gäste, die abends, meist von ihren Frauen begleitet, dort eintrafen, waren größtenteils Schriftsteller und Journalisten oder, wie mein Vater, gestaltende Künstler, die sich ihrerseits in den umliegenden Dörfern Fachwerkhäuser gekauft hatten, in denen sie, im Gegensatz zu uns, jedoch meist nur einen Teil des Jahres verbrachten. Sie alle gehörten der gleichen Generation an und bildeten bereits seit den Sechzigerjahren einen Freundeskreis, der sich in West-Berlin gefunden hatte. Die Druckwerkstatt, benannt nach einem Berliner Stadtteil, die mein Vater dort mit drei Künstlerkollegen betrieben hatte, war ein wichtiger Teil dieses Umfelds gewesen. Unter anderem hatte sie auch eine Fußballmannschaft hervorgebracht, in der fast alle Gäste, die sich jetzt in diesem Wohnzimmer einfanden, schon damals mitgespielt hatten.

 

Jetzt war diese Druckwerkstatt im Nachbarhaus untergebracht, das ebenfalls zu unserem Besitz zählte, und auch das Fußballspiel wurde hier auf dem Land ausgetragen. Allerdings fand es nicht mehr jeden Sonntag statt, wie damals in West-Berlin, sondern nur einmal im Jahr, nämlich zu Pfingsten. Das war dann zum Beispiel ein Anlass, zu dem auch T. S. immer anreiste, und aus dem recht überschaubaren Kreis von Menschen, die sich regelmäßig auf dem Land aufhielten, wurden plötzlich viele, wenn der alte West-Berliner Freundeskreis zu diesem Spiel zusammenkam. Mir erschien es dann so, als hätten die, die auf unserem Grundstück nach etwa viereinhalbstündiger Fahrt ihren Autos entstiegen, alles, was es in den letzten Wochen und Monaten zu sagen gegeben hatte, nur für diesen Tag aufgespart, so laut und lebhaft ging es zu, und die Frauen kicherten über die Männer, die sich, von ihren Blicken getroffen, sogleich in Pose warfen, und die Torwartfrage war ja auch noch nicht ausgemacht, und irgendein Penner musste noch die steifbeinige Verteidigung verstärken, und dieser Penner musste einen Eisenfuß haben, und dann wurde auch gleich noch geklärt, wer denn eigentlich der mit Abstand Hässlichste von ihnen allen sei, und das war jedes Jahr der Gleiche, und allein der Abschreckung wegen wurde der dann auch der Verteidigung zugeteilt, und wie jedes Jahr war er auch dieses Mal wieder der Einzige, der nicht so laut darüber lachen konnte, und dann ging es wieder in die Autos, und nachdem auf irgendeinem Sportplatz im Umkreis das Spiel stattgefunden hatte, kehrten sie zu uns zurück, um sich jetzt in unserem Haus oder ums Haus herum umzuziehen, und die Hoden pendelten ihnen aus den schlabbrigen Unterhosen, und die Füße waren bei den meisten nach der Anstrengung käseweiß und wollten gar nicht mehr zum übrigen Körper passen, und weil das Spiel noch wie im Rausch über ihren Köpfen schwebte, wurde in scherzhaft aufbrausender Weise über Pässe und Anspiele gestritten und wild in die Luft gestikuliert, die nach Schweiß, Bier und Zigaretten roch, und auch wenn der Gegner, meist irgendein Dorfverein, wie immer gewonnen hatte, so hatte er doch trotzdem gegen diese Meute blass ausgesehen, die mit ihren Bärten und wilden Frisuren genauso gut der wildesten Bebilderung meines Schatzinsel-Buches hätte entstiegen sein können und die sich für mich, der ich mit meinen neun, zehn oder elf Jahren, mitgerissen von der Aufregung zwar, aber natürlich nur als Beobachter, irgendwo herumstand, wiederum in die Wichtigen, nicht ganz so Wichtigen und Unwichtigen aufteilte, denn es gab auch die, die nicht jeden Satz, der von irgendwoher geschmettert kam, lauthals parieren konnten, es gab auch die, die, so wie ich, mehr oder weniger am Rande vor sich hin lächelten und deren Äußerungen, wenn sie sich doch mal hervorwagten oder auf direkte Ansprache reagierten, im allgemeinen Lärm einfach übergangen wurden und, wie es schien, nur von mir wahrgenommen, noch eine Weile durch die Luft schwebten.

 

Dieses Fußballspiel, die Freundschaften, die Werkstatt, in der sich die Künstler in unregelmäßigen Abständen trafen, um zu viert oder mit einem Schriftsteller, den sie dazu eingeladen hatten, etwas für die Blätter, an denen sie arbeiteten, zu dichten, das heroische Skatspiel, zu dem als einer der Hauptakteure auch T. S. immer anreiste, die Feste, die hier meist in Scheunen gefeiert wurden und auf denen ab einem bestimmten Zeitpunkt immer dieselben von einer Bühne aus, die auch eine Bierkiste sein konnte, die gleichen Lieder schmetterten, die Aufregung um die Muhammad-Ali-Kämpfe herum und das Durchwachen dieser Nächte in einem größeren Kreis, all dieses knüpfte an die gemeinsam verbrachte West-Berliner Zeit an, in der ich zwar schon auf der Welt, aber noch zu klein gewesen war, um sie miterlebt zu haben. All diese Dinge und Ereignisse, die mir in ihrer ungeheuren Erscheinung und Wichtigkeit jederzeit vor Augen standen, weil sie hier, von ihrer eigenen Kraft getragen, weitergelebt und fortgesetzt wurden, hatten ihren Ursprung in Berlin. Wenn von Berlin die Rede war, wie wer wen kennengelernt hatte, was in dieser oder jener Kneipe passiert war, wer nachts mal nicht mehr nach Hause gefunden hatte oder von dem einen Balkon auf den benachbarten geklettert war, konnte ich gar nicht genug davon bekommen. Alles zum Beispiel, was ich an Anekdotischem aus den Gesprächen aufschnappte, die mein Vater und seine drei Künstlerkollegen führten, erschien mir als so wild und frei, so verrückt und verzaubert, dass ich mir Berlin darum wie eine Traumlandschaft baute, in der die Häuser nach Belieben ihre Plätze wechselten und die Bürgersteige durch sie hindurchführten und man von Menschen angesprochen wurde, die, wenn sie nicht sowieso auf dem Kopf standen, unmöglich schief an der Wand lehnten. Natürlich wusste ich, dass es nicht so war, aber gleichzeitig wusste ich, dass man es entdecken konnte. Nur war das schwer möglich, weil wir, obwohl noch so gut wie alle Kontakte dorthin verwiesen, fast nie nach Berlin fuhren. Es war einfach zu schön bei uns.

 

Am Rand des Dorfes lag unser Grundstück hinter einem großen, schmiedeeisernen Tor, zu dem ein schmaler Schotterweg hinführte. Wenn ich wusste, dass, wie zum Beispiel an Pfingsten, viele Gäste kommen würden, verbrachte ich, mit einem Plastikschwert bewaffnet, oft Stunden an diesem Tor, um denjenigen, die zu uns vorfuhren, einen kleinen Wegzoll abzupressen. Erst dann öffnete ich ihnen das Tor, das sonst nie geschlossen wurde.

War man durch das Tor hindurch und hatte sein Auto gleich auf der Wiese geparkt, lag rechts hinter großen Eichen das Schlösschen. Schaute man in die andere Richtung, so sah man auf eine alte Apfelplantage, die auch zu unserem Grundstück gehörte und hinter der dann wiederum das Dorf begann. Zwischen den Bäumen dieser Plantage weideten, weiträumig eingezäunt, unsere Schafe, und manchmal standen auch ein Pferd oder ein Esel oder beides dazwischen. Trat man von der...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtundsechziger • Anderssein • Außenseiter • Autobiografischer Roman • autofiktionales Erzählen • Coming of Age • eigene Stimme finden • Humor • Jugenderinnerungen • Kindheitserinnerungen • Kindheitsroman • Kindheit und Jugend • Kulturclash • Künstlerfamilie • Künstlergruppe • Künstlerleben • Künstlerwerdung • linkes milieu • literarischer Roman • Mobbing in der Schule • Rollenbilder • Schriftsteller werden • Selbstfindung • Vater-Sohn-Geschichte • Wendland • Witz
ISBN-10 3-8270-8075-4 / 3827080754
ISBN-13 978-3-8270-8075-2 / 9783827080752
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