Der Letzte seiner Art (eBook)
256 Seiten
Eisele eBooks (Verlag)
978-3-96161-182-9 (ISBN)
Sibylle Grimbert ist Schriftstellerin und Verlegerin. Für Der Letzte seiner Art war sie für den Prix Femina und den Prix Renaudot nominiert und wurde mit dem Prix Joseph Kessel und dem Goncourt des animaux ausgezeichnet. Sie lebt in Paris.
SYBILLE GRIMBERT ist Schriftstellerin und Verlegerin. Für Der letzte seiner Art war sie für den Prix Femina und den Prix Renaudot nominiert und wurde mit dem Goncourt des animaux ausgezeichnet. Sie lebt in Paris.
Nur die Bäuche hoben sich aus der Ferne wie weiße Flecken von der Felswand ab, darüber die glänzenden Schnäbel, krumm wie Raubvogelschnäbel, aber deutlich länger. Mit schaukelndem Gang tappten sie voran; sie schienen sich Zeit zu lassen, schienen vor jedem Schritt die Stabilität zu prüfen und den Körper mit einer Beckendrehung neu auszurichten. Auch die Männer kamen nur mühsam voran, suchten Halt auf dem klumpigen, aufgeweichten Boden der kleinen Insel, die Arme und Beine gespreizt, mit dem Rücken fast parallel zum Strand, wie überdimensionierte Krabben aufgereiht vor diesen Riesenalken, die dennoch bedächtigen Schrittes – was angesichts der Situation völlig unangebracht war – dem Ufer zustrebten.
Das Wetter war schön auf Eldey, diesem schroffen Felsen, von wo die Küste Islands noch gut zu erkennen war, jedenfalls besser als an gewöhnlichen Tagen, an denen die Wellen so hoch schlugen, dass auch ohne Regen immer etwas Feuchtes, Kaltes in der Luft lag und die Sicht trübte. An diesem Tag war der Himmel durch und durch grau. In seinem homogenen Licht war deutlich zu erkennen, wie sich am Meeresufer die Umrisse der Menschen und Tiere aufeinander zubewegten und wie sich die Männer - plötzlich sehr schnell - auf die Vögel stürzten, sie mit Knüppeln totschlugen oder unter ihren Körpern begruben und den noch zappelnden Tieren die Hälse umdrehten. Als sich die Mörder wieder aufrichteten, in ihren Fäusten die Köpfe der baumelnden Riesenalken, warfen sie die Tiere auf einen Haufen, wo die weißen Flecken zwischen Schnabel und Augen wie Schmetterlinge aussahen, die auf einem Aashaufen gelandet waren.
Die Szene dauerte nicht lange, ein paar Minuten vielleicht. Wie immer, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, kreisten die anderen Vögel, die noch fliegen konnten, deren Flügel nicht im Laufe friedlicher, glücklicher Jahrhunderte verkümmert waren, über dem Felsen und schrien. Während der Boden das Blut aufsog – von Weitem war jedenfalls nicht ein einziger roter Fleck zu sehen –, hinterließen die von den Männern achtlos zertrampelten Eier ihre glänzenden, glitschigen Spuren auf dem schwarzen Vulkangestein. Die meisten sammelten die Männer allerdings ein und legten sie vor die aufgetürmten Leichen derer, die ihre Eltern waren oder gewesen wären.
Je länger man die Szene an Bord des Fischerbootes oder der auf halber Strecke wartenden Schaluppe verfolgte, desto abstrakter wurde das Geschehen: Punkte unterschiedlicher Größe, die sich hinter dem durchsichtigen grauen Vorhang des Lichts auf geometrischen, monotonen Linien bewegten. Darüber vergaß man, dass es Lebewesen waren, Männer und Riesenalken. Die anfangs so fesselnde Szene wurde ein wenig langweilig. Doch dann brachte der Blick aufs Detail die Dinge wieder auf den Punkt, ein Bein, ein Schnabel, ein Vogel, übers Ufer geschleift wie ein totes Kind. Die Erinnerung an die Gesichter der Männer kehrte zurück, und einen Moment lang pochte der Puls dieser nie berührten, nie gespürten Tiere in der Brust und bis in die Hände der Seeleute hinein, die sich auf der Schaluppe und dem Fischerboot an der Reling festhielten.
Plötzlich war alles wieder still. Sogar die Männer auf der Felseninsel verstummten. Die Störung dessen, was wie eine kurze Ruhepause nach getaner Arbeit schien, kam von links: ein Felssturz, bei dem ein Stück aus der Steilwand brach. Dann ein unterdrückter Schrei. Ein Matrose ging auf die Felsen zu, nahm einen Stein, beugte sich nach vorn und wich so abrupt zurück, dass ihm der Stein aus der Hand fiel. Ein Schnabel hatte nach ihm geschnappt. Der Mann hob den Stein wieder auf, riss ihn in die Höhe und schleuderte ihn auf den Vogel. Ein dumpfes Geräusch folgte. Später auf dem Fischerboot würde er erzählen, dass ihn der Riesenalk, anstatt zu fliehen, regungslos angestarrt hatte, den krummen Schnabel über das Ei geschoben, das er ausbrütete. Der Mann bückte sich dann noch einmal und nahm den toten Vogel und das heil gebliebene Ei, das der Riesenalk mit seinem Körper geschützt hatte.
Nun gab es auf der Insel kein einziges lebendes Tier mehr. Wobei es natürlich nur eine kleine Kolonie von allenfalls dreißig Riesenalken gewesen war. Einige der Matrosen, die sie im Vorjahr schon gesehen hatten, sagten, seitdem seien es noch weniger geworden. Mit den toten Tieren beladen gingen die Männer wieder an Bord der Schaluppe. Man hörte sie singen. Sie wussten, dass an diesem Abend eine üppige Mahlzeit auf sie wartete, das zarte Alkenfleisch und die Proteine eines riesigen Omeletts, das sie hinunterschlingen würden.
Als die Schaluppe, von der aus Auguste das Geschehen beobachtet hatte, wieder zum Fischerboot fuhr, bemerkte er im Meer ein schwarzes Etwas, das an ihnen vorbeitrieb. Es erinnerte ihn an den Putzlappen, mit dem Mrs Bridge den Boden wischte. Er beugte sich vor, bekam den Riesenalk zu packen und spürte die Nervosität des Tiers, seine Kraft, selbst in diesem schwachen Moment – denn er war geschwächt, sonst hätte er sich nicht so treiben lassen. Als Gus den Vogel, dessen linker Flügelstummel gebrochen war und schlaff herabhing, ins Boot zog, gab das Tier einen Schrei von sich, riss dabei den gesunden Flügel hoch und versuchte, Gus zu beißen. Sein Körper, der Gus fast bis zur Taille reichte und ihm sofort aus den Händen glitt, war so fest wie ein Muskel. Doch wie alle Vertreter seiner Art war auch dieser Riesenalk außerhalb des Wassers unbeholfen und plump. Jemand warf ein herumliegendes Netz über ihn, mit dem er vergebens kämpfte, sich darin verhedderte und dabei in regelmäßigen Abständen einen krächzenden Schrei ausstieß, der an den einer Hexe erinnerte, wie einer der Matrosen bemerkte.
Auf dem Fischerboot sperrte man den Vogel in einen Käfig. Er hörte sofort auf zu schreien; als man ihm einen Fisch brachte, weigerte er sich, ihn anzunehmen. Hinter den Gitterstäben blickte er Gus so wütend, ja hasserfüllt an, dass Gus die Hand zitterte, als er ihm einen weiteren Fisch vor die Füße legte. Bis zu diesem Moment hatte er bei dem Tier keinerlei Mimik feststellen können. Er fragte sich, ob er dem Naturforscher, für den er arbeitete, sagen würde, dass der Blick eines Riesenalks anklagend sein konnte. Offen gestanden hätte Auguste niemals damit gerechnet, dass er die Chance haben würde, einen dieser Alkenvögel zu fangen. Er hatte eher damit gerechnet, dass er einen toten Vogel nach Lille schicken und man ihn dort ausstopfen würde. Dies war ja auch der Grund, warum er an Bord des Fischerboots gegangen war: weil die Route dieser Seeleute an Eldey vorbeiführte, wo im Sommer die letzte in der Region bekannte Kolonie nistete. Aber er hätte niemals gedacht, dass er mit einem lebendigen Tier an Land gehen würde oder zumindest mit einem Tier, das er gewiss noch umfassend untersuchen und beobachten konnte, ehe es in Gefangenschaft an Schwermut verenden würde – womit ja zu rechnen war.
Später schlief der Vogel oder gab vor zu schlafen. Gus beobachtete ihn durch die Gitterstäbe aus der Nähe und dachte darüber nach, dass er zwar vom Gefieder dieses Tiers immer gewusst hatte, seine Daunen ihn nun jedoch überraschten. Er hatte ihn bisher als ein eher öliges, der Robbe verwandtes Tier wahrgenommen. Als er beim Abendessen ein Stück Riesenalkfleisch aß, kam ihm dann auch der Gedanke, dass Robbenfleisch vermutlich ähnlich schmeckte wie das, woran er gerade herumkaute. Es war ein widerlich fettes Fleisch; er nahm nicht nach.
Die Rückreise zu den Orkney-Inseln dauerte fast zwei Tage. In dieser Zeit wandte sich der Riesenalk ununterbrochen zur Schiffsreling, sodass weder Gus, der sich dafür interessierte, noch die Matrosen, denen es gleichgültig war, mehr von ihm sahen als den Rücken, den eingezogenen Nacken, der das Trugbild erzeugte, dass er keinen Kopf besaß, und den reglosen Schwanz. Niemand fragte sich, ob der Käfig zu eng war, mit Ausnahme eines Matrosen, der sogar vorschlug, ihm eine Leine ums Bein zu binden und ihn im Meer schwimmen zu lassen, was Gus aber nicht wollte, weil er fürchtete, er könnte ausreißen. Zum Glück wurde das Tier durch den Regen, die Gischt und die Feuchtigkeit des kalten Meers immer wieder durchnässt.
In Stromness, der wichtigsten Stadt der Orkney-Inseln, wo sich Gus vor sechs Monaten, im Januar 1834, einquartiert hatte, um die Fauna zu erforschen, fand er einen etwas größeren Käfig, sperrte den Riesenalk darin ein und stellte ihn in eins der Zimmer des Hauses, das er gemietet hatte. Mrs Bridge, die für ihn kochte und putzte, war schockiert über die Anwesenheit eines Tiers, das sie in den Innenräumen eines Hauses als beängstigend, ekelerregend und anstößig empfand. Gus musste ihr versprechen, dass er niemals von ihr verlangen werde, sich in seine Nähe zu begeben. Nach zwei Tagen stellte er den Käfig in ein ausreichend großes Zimmer im Erdgeschoss und beschloss, von nun an dort außerhalb der Reichweite ihrer Putzlappen zu arbeiten. Er untersagte der alten Frau den Zutritt.
Tag für Tag kippte er kannenweise Wasser über den Käfig. Der Vogel breitete dann minutenlang seine Flügel aus, reckte den Hals und fuhr sich mit dem Schnabel über Rücken und Bauch. Es waren die einzigen Momente, in denen er sich bewegte, außer natürlich, um die Fische zu vertilgen, die Gus vor ihm auf den Boden legte. Dann wich der Riesenalk mit einem kleinen, etwas trägen Sprung zurück, senkte den Schnabel zwischen seine mit Schwimmhäuten versehenen Füße und schnappte nach den Fischen. Die restliche Zeit blieb er unbeweglich, den Schnabel an die Brust gedrückt, der Körper zusammengesunken und fest in den Füßen verankert. Manchmal, wenn Gus ihn im Profil sah, merkte er, dass ihn ein dunkelbraunes, nahezu schwarzes Auge mit unverhohlener Feindseligkeit...
Erscheint lt. Verlag | 27.7.2023 |
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Übersetzer | Sabine Schwenk |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuer • Abenteuerroman • Abenteuerromane für Erwachsene • Artenschutz • Artensterben • Artenvielfalt • artenvielfalt buch • Aussterben • Berührend • bewegend • Biologie • Buchclub • Buchempfehlung • Darwin • Dodo • Eldey • Emotional • Empfehlung • ergreifend • Fiktion • Forschung • Französisch • Französische Literatur • Französischer Roman • Freundschaft • Geschenk • Geschenkbuch • Kommunikation • Leinen • Leseempfehlung • Lesekreis • Lieblingsbuch • Mensch Tier Beziehung • mensch tier kommunikation • Natur • Naturroman • pinguin roman • poetisch • prix renaudot 2022 • Riesenalk • Roman • Schön • Tierliebe • Verbundenheit • Vertrauen • Vogel • Zoologe • Zusammenleben |
ISBN-10 | 3-96161-182-3 / 3961611823 |
ISBN-13 | 978-3-96161-182-9 / 9783961611829 |
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