Die bekannte Welt (eBook)

Roman | Einer der besten Romane des 21. Jahrhunderts (BBC)
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2023 | 1. Auflage
448 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3045-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die bekannte Welt -  Edward P. Jones
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»Eines der seltenen Bücher, die Wunden aufreißen und zugleich heilen.« Oprah Magazine  Henry Townsend, ein ehemaliger Schuhmacher und Sklave, ist selbst Sklavenhalter und Besitzer einer Farm geworden. Als er stirbt, zerbricht das fragile Gefüge. Seine Witwe Caldonia erstarrt in Trauer; Sklaven entfliehen; Familien, die unter dem Gewicht der Unfreiheit zusammenhielten, beginnen einander zu betrügen; weiße Patrouillen sehen zu, wie freie Schwarze in die Sklaverei verkauft werden.   Edward P. Jones' Meisterwerk handelt davon, wie die Institution der Sklaverei ihre eigene Welt errichtet, wie sie die Gedanken, Körper und Seele eines jeden Menschen - frei oder unfrei - durchdringt. Die bekannte Welt ist einer der bedeutendsten amerikanischen Romane der vergangenen Jahrzehnte - eine bleibende, leuchtende Charakterstudie, die eine ganz und gar spezifische, glaubwürdige und komplexe Welt in vollendet schöner Prosa erschafft. 

Edward P. Jones, 1951 geboren, arbeitete über zehn Jahre lang als Lektor und Korrektor bei dem Wirtschaftsmagazin 'Tax Notes'. Für sein Romandebüt 'Die bekannte Welt' erhielt er 2004 den Pulitzerpreis für Literatur. 2015 wurde dieser Roman von der BBC-Auswahl der besten 20 Romane von 2000 bis 2014 zu einem der bislang bedeutendsten Werke dieses Jahrhunderts gewählt. Jones lebt in Washington, D.C.

Edward P. Jones, 1951 geboren, arbeitete über zehn Jahre lang als Lektor und Korrektor bei dem Wirtschaftsmagazin "Tax Notes". Für sein Romandebüt "Die bekannte Welt" erhielt er 2004 den Pulitzerpreis für Literatur. 2015 wurde dieser Roman von der BBC-Auswahl der besten 20 Romane von 2000 bis 2014 zu einem der bislang bedeutendsten Werke dieses Jahrhunderts gewählt. Jones lebt in Washington, D.C.

1


Eine Liaison. Die Wärme der Familie. Stürmisches Wetter.

Am Abend, als sein Herr starb, arbeitete er wie immer weiter, nachdem er die anderen Erwachsenen, darunter seine Frau, nach beendetem Tagwerk hungrig und erschöpft zu ihren Hütten zurückgeschickt hatte. Die Kleinen, unter ihnen auch sein Sohn, waren etwa eine Stunde vor den Erwachsenen von den Feldern geschickt worden, um das späte Abendessen vorzubereiten und, falls genügend Zeit blieb, die letzten paar Minuten in der Sonne zu spielen. Als er, Moses, sich endlich von dem uralten, brüchigen Geschirr befreite, das ihn an das älteste Maultier seines Herrn fesselte, war von der Sonne nur noch ein schmaler Saum rotoranger Erinnerung zu sehen, der zwischen zwei Bergen zur Linken und einem zur Rechten in reglosen Wellen über dem Horizont lag. Vierzehn lange Stunden hatte er auf den Feldern verbracht. Eingehüllt von der Abendstille, hielt er einen Moment inne, bevor er die Felder verließ. Das Maultier zitterte, es wollte nach Hause und sich ausruhen. Moses schloss die Augen, bückte sich, nahm eine Handvoll Erde auf und verzehrte sie ebenso gedankenlos, als wäre sie ein Stück Maisbrot. Er schob die Erde im Mund hin und her und schluckte sie hinunter, dabei neigte er den Kopf zurück und öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der Sonnenstreif dunkelblau verfärbte und dann auflöste. Er war in der Gegend der einzige Mann, ob versklavt oder frei, der Erde aß; doch während die Sklavinnen, besonders die Schwangeren unter ihnen, sie aus einem unerklärlichen Bedürfnis nach dem nährenden Etwas verspeisten, das Maiskuchen, Äpfel und Rückenspeck ihren Körpern vorenthielten, aß er sie nicht nur, um die Stärken und Schwächen des Ackers zu prüfen, sondern weil ihr Verzehr ihn an das Einzige band, das ihm in seiner kleinen Welt fast ebenso viel bedeutete wie das eigene Leben.

Es war Juli, und die Juli-Erde schmeckte fast noch stärker nach gesüßtem Metall als die Erde im Juni oder Mai. In den wachsenden Feldfrüchten wurde etwas Metallisches freigesetzt, das sich erst gegen Mitte August zu verströmen begann und sich zur Erntezeit ganz verflüchtigen würde, abgelöst von einem säuerlichen Moder, den Moses mit dem Nahen von Herbst und Winter verband, dem Ende einer Beziehung, die mit dem ersten Erdgeschmack im März, vor dem ersten heftigen Frühlingsregen, begonnen hatte. Jetzt, da die Sonne untergegangen war und ihn ein mondloses Dunkel angenehm umfing, lief er, das Maultier am Schwanz haltend, bis zum Ende der Furche. Auf der Lichtung ließ er den Schwanz los und ging um das Maultier herum zum Stall.

Das Maultier folgte ihm, und als Moses das Tier für die Nacht versorgt hatte und wieder ins Freie trat, roch er den kommenden Regen. Er atmete tief ein und spürte, wie die Luft ihn durchströmte. Da er sich allein glaubte, lächelte er. Er kniete nieder, um der Erde näher zu sein, und atmete ein weiteres Mal tief ein. Als die Wirkung nachzulassen begann, stand er schließlich auf und wandte sich, nun schon zum dritten Mal in dieser Woche, von dem Pfad ab, der zu der schmalen Gasse der Sklavenquartiere und zu seiner eigenen Hütte, seiner Frau und seinem Jungen führte. Seine Frau wusste bereits, dass sie mit dem Essen nicht auf ihn zu warten brauchte. In einer Mondnacht konnte er von der Gasse, die seine Welt war – Unterkunft, Verpflegung, Nachtruhe und das, was in vielen Hütten als Familienleben galt –, einige Rauchfahnen aufsteigen sehen. Er neigte den Kopf leicht nach rechts und glaubte den Lärm spielender Kinder zu hören, doch als er ihn wieder hob, vernahm er weit deutlicher den letzten Tagesvogel, der fernab, in dem kleinen Wäldchen links von ihm, sein Abendlied zwitscherte.

Moses lief geradeaus zum äußersten Rand der Maisfelder und zu einem Waldstück, das noch keinen rechten Ertrag geliefert hatte, seit sein Herr es einem bankrotten Weißen abgekauft hatte, der nach Irland zurückgekehrt war. »Ich hab’s zu was gebracht da drüben«, hatte der Mann seine Verwandten in Irland angelogen, während seine todkranke Frau zusammengekrümmt neben ihm stand, »aber ich hab mich so nach euch gesehnt und nach dem Reichtum meiner Heimat.« Das nicht mehr als drei Morgen große Waldstück brachte weiches Blaugras hervor, das kein Tier anrührte, und zahlreiche Bäume, die niemand zu bestimmen vermochte. Kurz bevor Moses in den Wald trat, setzte der Regen ein, und während er weiterging, wurde der Regen immer stärker. Als er schon ein Stück weit im Wald war, strömte der Regen sintflutartig durch das mächtige Sommerlaub der Bäume, und nach einer Weile blieb Moses stehen, streckte die Hände aus und sammelte etwas Wasser, mit dem er sich das Gesicht wusch. Dann zog er sich splitternackt aus und legte sich hin. Damit der Regen nicht in seine Nase lief, rollte er sein Hemd zusammen und stopfte es sich unter den Kopf. Dadurch neigte sich dieser gerade so weit nach vorn, dass der Regen an Moses’ Gesicht herabfloss. Als alter Mann, wenn das Rheuma seinen Körper in Ketten legte, würde er zurückblicken und sie Abenden wie diesen anlasten, Nächten, in denen er sich vollkommen vergaß und einnickte und erst am Morgen wieder zu sich kam, vom Tau bedeckt.

Der Erdboden war fast aufgeweicht. Das Laub schien den heftigen Fall des Regens zu mildern und auf seinen Körper und sein Gesicht nicht stärker einzuprasseln als sanftes Fingergetrommel. Er öffnete den Mund: Es geschah nur selten, dass er und der Regen sich so begegneten. Die Augen behielt er offen, und nachdem er sich, ohne den Kopf zu wenden, in alle Richtungen umgeschaut hatte, nahm er sein Ding in die Hand und tat es. Als er nach nur wenigen rhythmischen Bewegungen fertig war, schloss er die Augen, legte sich auf die Seite und döste vor sich hin. Nach etwa einer halben Stunde hörte der Regen unvermittelt auf, es trat eine tiefe Stille ein, und diese Stille weckte ihn. Widerstrebend wie immer rappelte er sich auf. Um seinen Körper herum war alles Schlamm und Laub und abgebrochene Zweige, denn ein Wind hatte den Regen durch den Wald gejagt. Als er sich mit der Hose abwischte, musste er daran denken, wie er das letzte Mal so dagelegen hatte. Damals hatte der Regen lange genug angedauert, um ihn sauber zu waschen. Und er war von einem noch größeren Glücksgefühl erfasst worden, lachend war er so ungestüm herumgewirbelt, dass ein Beobachter es für eine Art Tanz hätte halten können. Er wusste es nicht, doch genau in diesem Augenblick beobachtete ihn Alice, eine Frau, von der es hieß, sie habe den Verstand verloren. Zum ersten Mal in den sechs Monaten, da sie nachts umherirrte, war sie auf ihn gestoßen. Selbst wenn er sie in der Nähe gewusst hätte – so viel Verstand, um zu durchschauen, was er da trieb, hätte er ihr nicht zugetraut; zu fest hatte, wie man sich erzählte, das Maultier sie getreten, damals auf der Pflanzung in einem fernen County, an dessen Namen nur sie sich erinnerte. In ihren lichteren Momenten, die, seit Moses’ Herr sie gekauft hatte, nur noch sehr selten waren, konnte Alice jenen Sonntag, als das Maultier ihr einen Tritt gegen den Kopf versetzt und sie um den gesunden Menschenverstand gebracht hatte, in allen Einzelheiten schildern. Niemand zog ihre Geschichte in Zweifel, da sie so anschaulich, so traurig war – eine weitere Sklavin ohne Freiheit, und jetzt war ihr Verstand so verwirrt, dass sie durch die Nacht irrte wie eine Kuh ohne Glocke. Den Ort, aus dem sie stammte, kannte niemand gut genug, um zu wissen, dass ihr früherer Herr panische Angst vor Maultieren gehabt hatte und deshalb auf seinem Hof keine hielt; sogar Bilder von Maultieren und Bücher über sie hatte er aus seiner kleinen Welt verbannt.

Moses verließ den Wald und schritt durch noch tiefere Finsternis zu den Quartieren. Er brauchte keinen Mond, der seinen Weg erhellte. Er war fünfunddreißig Jahre alt und jede Minute seines Lebens jemandes Sklave gewesen, erst der Sklave eines Weißen, dann der Sklave eines anderen Weißen und jetzt, seit nunmehr fast zehn Jahren, Sklavenaufseher eines schwarzen Herrn.

Caldonia Townsend, die Gattin seines Herrn, hatte in den vergangenen sechs Tagen und Nächten, da ihr Mann seine schwere Todesreise antrat, nur ein wenig dösen können. Ihrer Mutter zu Gefallen, die an die Zauberkunst der Weißen glaubte, war am Morgen des ersten Tages der Arzt der Weißen eingetroffen, doch der hatte lediglich verkündet, Moses’ Herr, Henry Townsend, leide unter einem schlimmen Anfall, von dem er alsbald genesen werde. Weiße und Schwarze hatten unterschiedliche Krankheiten; von jemandem, der sich auf die einen spezialisierte, wurde nicht verlangt, dass er sich auch bei den anderen auskannte, und das hätte Caldonia, wie er meinte, wissen können, auch ohne es eigens gesagt zu bekommen. Falls ihr Mann im Sterben lag, wusste der Arzt jedenfalls nichts davon. Und in der Hitze des Tages fuhr er wieder fort, nicht ohne von Caldonia 75 Cent eingestrichen zu haben, 60 Cent dafür, dass er Henry untersucht hatte, und 15 Cent für die Strapazen, die er, sein Einspänner und sein einäugiges Pferd auf sich genommen hatten.

Henry Townsend – ein Schwarzer von einunddreißig Jahren mit dreiunddreißig Sklaven und mehr als fünfzig Morgen Land, was ihn in Manchester County, Virginia,...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2023
Mitarbeit Anpassung von: Anna Jäger
Übersetzer Hans-Christian Oeser
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • Amerikanisch • Baumwollplantage • Bürgerkrieg • Entdeckung • Freiheit • Gewalt • Gewinner • historisch • literarische Sensation • Literatur • Preisgekrönt • Pulitzer • Roman • Sklaverei • Südstaaten • Unterdrückung • USA
ISBN-10 3-8437-3045-8 / 3843730458
ISBN-13 978-3-8437-3045-7 / 9783843730457
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