Der Schacherzähler (eBook)

Roman | Ein versöhnliches Buch voller Glücksmomente
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3068-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Schacherzähler -  Judith Pinnow
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'Eine wunderbare Lektüre' Annemarie Stoltenberg, NDR Er lebt vor allem in seinen Erinnerungen, der Gegenwart kann er nicht viel abgewinnen. Als er beim Schachspielen unter seiner Kastanie von einem 9-jährigen Jungen angesprochen wird, stellt er sich nur als 'Oldman' vor und erklärt dem Kleinen, dass eh alles vor die Hunde geht. Doch Janne ist neugierig und will Schach spielen lernen. Oldman hat wenig Hoffnung, dass der Junge das lernen wird, er kann ja noch nicht mal still sitzen. Aber Janne lernt schnell, und Oldman beginnt zu reden. Erst über Schach, dann über das Leben. Und Janne hört zu und fühlt sich endlich richtig: Beim Schach und bei dem Alten. Doch eines Nachmittags sitzt Oldman nicht mehr da. Auch am nächsten und übernächsten Tag gibt es keine Spur von ihm. Janne ist voller Sorge und beginnt, ihn zu suchen ... Ein berührender Roman über die Magie der Freundschaft und des Schachs

Judith Pinnow, geboren 1973 in Tübingen, besuchte die Schauspielschule in Ulm und studierte am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Als Schauspielerin war sie in Fernsehserien und in Filmen zu sehen. Bekannt wurde sie als Fernsehmoderatorin. Mit ihrem Ehemann und Kollegen Stefan Pinnow und ihren drei Kindern lebt die Autorin in Schwerin.

Judith Pinnow, geboren 1973 in Tübingen, besuchte die Schauspielschule in Ulm und studierte am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Als Schauspielerin war sie in Fernsehserien und in Filmen zu sehen. Bekannt wurde sie als Fernsehmoderatorin. Mit ihrem Ehemann und Kollegen Stefan Pinnow und ihren drei Kindern lebt die Autorin in Schwerin.

Kapitel 1


Malu


Es ist halb elf an einem Donnerstag, als ich diese neue Macke an mir entdecke. Während ich die Milch aufschäume, schiebe ich meine untere Zahnreihe über die Oberlippe und lasse dann die Zähne über die Lippe gleiten. Ein kurzes, schönes Gefühl entsteht, und mir wird bewusst, dass es nicht das erste Mal ist, dass ich das mache. Gerade ist nicht so viel los, also kann ich mir etwas mehr Zeit lassen, die Milch einzugießen. Das ist nämlich der beste Moment, wenn Kaffee und Milch aufeinandertreffen und diese cremige Verbindung eingehen. Ich zeichne eine Blüte und reiche die Tasse der Kundin. Sie bedankt sich und setzt sich, ganz wie ich vermutet hatte, an den Tisch in der Mitte vom Raum. Nicht ans Fenster.

»Woher hast du es gewusst?«, brummt Hinnerk, mein Chef, hinter mir, der auf den Fensterplatz gewettet hat.

»Die Schuhe«, sage ich todernst. Hinnerk schaut auf die hellen Sneakers der Kundin, und es dauert eine Weile, bis er merkt, dass ich ihn auf den Arm nehme.

Ich lache, und er bewirft mich mit einer seiner Süßigkeiten, die er jeden Tag für alle mitbringt.

»Du liegst in 98 Prozent der Fälle richtig, warum, was siehst du, was ich nicht sehe?«

Seine blaugrauen Augen sehen mich interessiert an. Hinnerk ist groß, größer als die meisten. Er hat es sich deshalb angewöhnt, sich mit den Ellbogen am Tresen abzustützen, um mit mir auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Ich kann seine Frage nicht beantworten und säubere achselzuckend den Siebträger. »Ich finde, man sieht das einfach. An der Art, wie sie den Kaffee bestellen. Wie sie gehen, die Ausstrahlung.«

Hinnerk schiebt seine Baseballkappe über die Glatze. So sagt er, dass er mich nicht versteht.

Er und ich haben immer Spaß, wenn wir mal zusammenarbeiten, was nicht so oft vorkommt, weil er sich auch um alles andere kümmert, Einkauf, Buchhaltung und angeblich auch Marketing. Vielleicht meint er damit Instagram. Er postet sehr akribisch jeden Tag ein Bild aus dem Coffeeshop, der offiziell Blue Hour heißt, aber ich denke nicht, dass das mit den 26 Followern irgendeinen Effekt auf unsere Gästeanzahl hat. Wir können uns sowieso nicht beklagen. Wir sind der einzige Coffeeshop in Bad Altbach. Die Leute haben keine Alternative, außer sie möchten ihren Kaffee lieber zu Hause trinken oder in der Bäckerei Krösel. Gut, es gibt noch zwei andere Cafés. Aber eben keinen zweiten Coffeeshop. Unser Bananenbrot ist legendär und der Kaffee natürlich sowieso.

Mein Handy zeigt eine Nachricht an, und sofort zieht sich mein Bauch zusammen.

»Was ist es diesmal?«, seufze ich und öffne widerwillig die Nachricht.

Wut steigt in mir hoch. Seit ich Mutter bin, kenne ich Wut anders als vorher. Sie kommt schneller und hat mehr Macht. Sie schießt mir ins Blut und wird in Sekundenschnelle überall im Körper verteilt, bis sogar meine Haare und meine Zehenspitzen wütend sind. Meistens ist das ganz und gar nicht hilfreich, so wie jetzt. An einem Donnerstagvormittag wütend hinter dem Tresen zu stehen, während man Gäste bedienen soll, ist ungefähr so sinnvoll wie ein Pferd auf einem Gäste-WC. Es passt einfach nicht.

Ich klopfe energisch mit dem Milchkännchen herum, in dem sich gar keine Milch befindet. Hinnerk zieht eine Augenbraue hoch und sieht mich fragend an. Ich schüttle leicht den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass ich nicht darüber reden will. Dann kommt Herr Pelzer rein und drei weitere Gäste. Es gibt etwas zu tun, und das hilft mir, über die blöde Nachricht hinwegzukommen.

Ich habe mir damals Bad Altbach nur aus einem Grund ausgesucht. Hier gab es ein Jobangebot. Hinnerk hatte mir eine Chance gegeben, obwohl er wusste, dass ich schwanger war. Ich glaube, er hat es nicht bereut. Wenn nicht gerade Wut durch mich hindurchrauscht, mache ich einen ganz guten Job. Ich mag den Duft von Kaffee, ich mag die Gäste und finde es spannend, wer was bestellt. Es ist schön, zu sehen, wie viel entspannter sie nach einem Kaffee oder einem Muffin sind. Wir sind die kleine Oase von Bad Altbach. Hier kommen alle hin, wenn sie eine Auszeit brauchen vom Leben. Ich kann mir keinen schöneren Arbeitsort vorstellen.

In Bad Altbach gibt es sehr viele Einfamilienhäuser. Man könnte in manchen Wohngebieten den Eindruck haben, es gäbe hier nur Einfamilienhäuser. Außerdem sehr viel Wald, einen schönen Weiher und unseren Park, der im Verhältnis zu unserer Kleinstadt riesig ist. Es gab vor einhundertachtzig Jahren mal einen Bürgermeister, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, diesen Park anlegen zu lassen, und wir sind ihm bis heute alle dafür dankbar. Der Park ist das Herzstück. Hier findet alles statt. Märkte, Feste und einmal im Jahr sogar ein kleines Konzert.

Obwohl rund um Bad Altbach viel Wald ist, liebe ich besonders die Bäume im Park. Die großen Kastanien, die da so zuverlässig stehen. Egal, wann man kommt. Im Herbst werfen sie ihre Früchte ab, gut verpackt in eine stachelige Hülle. Ich sammle sie mit meinem Sohn Janne jedes Jahr um die Wette und verliere dabei immer, weil ich so viel Zeit damit verbringe, sie aus ihrer Hülle zu holen. Janne tritt drauf, zack, hebt sie auf und wirft sie in seinen Sammelkarton. Aber ich öffne sie vorsichtig und muss sie eine Weile anschauen, wie sie da so glänzend in ihrem weißen, sauberen Bett liegen. Wir lieben beide das Geräusch, wenn wir mit den Füßen durch das Laub laufen, es aufwirbeln und gucken, wer lauter rascheln kann.

Wenn im Winter Schnee liegt, ist der Park ganz still und majestätisch. Obwohl Kinder dann auch dort toben und Schneemänner bauen, schafft er es, sich nicht in seiner Winterruhe stören zu lassen. Diese Ruhe sickert dann in mich hinein, und ich nehme sie mit nach Hause.

Janne ist praktisch in diesem Park aufgewachsen. Ich sage immer zu Liv: Man kann einen Jungen nicht in einer kleinen Wohnung artgerecht halten. Sie stimmt mir zu, obwohl sie gar nicht weiß, wie das ist. Ihr Sohn Vincent ist in einem klassischen Bad Altbacher Einfamilienhaus mit Garten aufgewachsen. Janne und ich wohnen in einer gemütlichen, aber winzigen Dachgeschosswohnung, die ein Stück weit weg vom Park liegt. Zwanzig Minuten läuft man, neuerdings nur fünfzehn, wenn er mit seinem Roller fährt und ich im Stechschritt versuche mitzuhalten.

Der Stechschritt ist eigentlich schon meine normale Gehgeschwindigkeit. Ich könnte Zeit sparen und mit dem Fahrrad fahren. Aber ich erledige immer alles auf dem Weg nach Hause, und dann müsste ich jedes Mal das Fahrrad abstellen und abschließen. Ich laufe auch ganz gerne. Allerdings nicht mit zwei schweren Einkaufstüten. Der Supermarkt ist zwar um die Ecke, aber so eine Ecke ist ganz schön weit weg, wenn einem die Arme länger werden.

Immer wenn Janne nach Hause kommt, lasse ich alles, was ich gerade mache, liegen und schenke ihm eine halbe Stunde ungeteilte Aufmerksamkeit. Dreißig Minuten, in denen er normalerweise bestimmen kann, was gemacht wird. Kuscheln oder reden oder spielen.

Aber heute haben wir beide ein Grummeln im Bauch. Er erzählt nicht wie sonst schon im Flur, wie viele Teslas und Audis er auf dem Heimweg gesehen hat, sondern zieht stumm seine Schuhe aus.

Ich setze mich in dem kleinen Flur auf den Boden, muss dafür aber ein paar von meinen Schuhen beiseiteschieben, um Platz zu haben. Ich ziehe die Beine an mich heran und steige sofort mit der Frage ein, damit wir es hinter uns bringen. »Was war los?«

Ich schaue zu ihm hoch. Janne steht da. Den Schulranzen noch auf dem Rücken. Er schlägt mit seinem Kopf ganz leicht gegen die Wand vor ihm.

»Nichts«, sagt er trotzig.

Ich seufze. »Deine Lehrerin hat mir geschrieben, dass du in Mathe ewig rumgetrödelt hast, statt deine Aufgaben zu machen, und die Hälfte der Stunde unter dem Tisch gesessen hast.«

Sie schreibt mir häufig, und nie teilt sie mir mit, wie großartig Janne einen Fisch gemalt hat oder wie weit er in Sport gesprungen ist. Ich muss mir immer nur anhören, was er wieder falsch gemacht hat.

Jedes Mal denke ich: Was soll ich mit dieser Information anfangen? Ich weiß, dass Janne kein einfaches Kind ist. Keiner weiß das besser als ich. Aber es ist doch wohl ihr Job, ihn daran zu hindern, die Stunde unter dem Tisch zu verbringen. Wie soll ich das denn von hier aus beeinflussen? Ich hatte zu viele Gespräche mit Erziehern und Lehrern über Janne. Und das, obwohl er erst in der dritten Klasse ist. Jedes Mal höre ich den stummen Vorwurf: Erziehen Sie ihn doch besser.

Alleinerziehend zu sein ist ja heute keine Seltenheit. Aber es ist immer noch kein Aushängeschild für einen wilden Neunjährigen, der sich mit dem System schwertut. Dabei ist es streng genommen ja umgekehrt. Das System tut sich mit Janne schwer. Immer ist er für alle zu viel. Zu laut, zu wild, zu unaufmerksam, zu emotional. Eine zu geringe Frustrationstoleranz. Er sollte, er müsste, bla, bla, bla. Und ich soll dann immer mit ihm reden.

Als würden Janne und ich nicht reden.

»Sag was, Janne!« Er hebt die Schultern ein bisschen. Dann wirft er mir einen Blick zu. Scannt mich. Versucht einzuschätzen, wie sauer ich bin. Das Unfaire daran ist, dass ich eigentlich auf die Lehrerin wütend bin und nicht auf ihn. Ich weiß ja, wie er ist...

Erscheint lt. Verlag 28.12.2023
Illustrationen Vivien Thiessen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte alleinerziehend • Außenseiter • Buch als Geschenk • Bücher Neuerscheinung 2023 • buch für freundin • Buchspazierer • Deutsche Romane • Freundschaftsroman • Harold Fry • Inspiration • inspirational novel • Märchen für Erwachsene • Roman für Frauen • Roman über Schach • Sinnsuche • Wohlfühlbuch
ISBN-10 3-8437-3068-7 / 3843730687
ISBN-13 978-3-8437-3068-6 / 9783843730686
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