Die Lügnerin (eBook)

Der neue Roman des Bestseller-Autors

***

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3020-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Lügnerin -  Friedemann Karig
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In einer abgeschiedenen Privatklinik sitzt eine Frau und behauptet schier Unglaubliches: Sie könne so gut lügen, dass alles, was sie erzählt, über kurz oder lang wahr wird. Mit jeder Sitzung, in der sie ihre Lebensbeichte ablegt - eine spektakuläre Geschichte voller Betrug und Bereicherung, unheimlicher Zufälle und überirdischen Glücks - wird ihre Therapeutin unsicherer. Was, wenn die Frau die Wahrheit sagt?  Und auch sie selbst kann sich dem Einfluss dieser hochbegabten Erfinderin alternativer Realitäten kaum mehr entziehen. Als in der Klinik selbst die seltsamsten Dinge geschehen, beginnt die Therapeutin, das Ausmaß dieser fantastischen Kraft zu verstehen. Und auch, dass sie längst Teil davon geworden ist.

Friedemann Karig, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt. Er  moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format 'Jäger&Sammler' von 'funk', dem jungen Online-Angebot von ARD und ZDF. Mit Samira El Ouassil betreibt er den Podcast 'Piratensender Powerplay'. Dschungel war sein literarisches Debüt, zuvor erschien 2017 sein Buch Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Das von ihm 2021 zusammen mit Samira El Ouassil verfasste Buch Erzählende Affen wurde zum Bestseller und für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Karig lebt in Berlin und in München.   

Friedemann Karig, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt. Er  moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format "Jäger&Sammler" von "funk", dem jungen Online-Angebot von ARD und ZDF. Mit Samira El Ouassil betreibt er den Podcast "Piratensender Powerplay". Dschungel war sein literarisches Debüt, zuvor erschien 2017 sein Buch Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Das von ihm 2021 zusammen mit Samira El Ouassil verfasste Buch Erzählende Affen wurde zum Bestseller und für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Karig lebt in Berlin und in München.   

1


Ich sitze auf dem Bett meines Bruders. Er ist an seinem Computer und sieht mich nicht an, hört mir aber zu. Seit zwei Wochen habe ich nicht mehr geschlafen. Ich bin zum ersten Mal verliebt. Was soll ich tun?

Was mag er?, fragt mein Bruder.

Wasserball.

Dann magst du das jetzt auch.

Am nächsten Tag gehe ich in die Schwimmhalle. Das Wasser ist kühl, auch hier drinnen, wo sonst alles zu warm ist. Er schaut mich an wie einen entlaufenen Hund. Alle anderen im Wasser können perfekt schwimmen. Ich ertrinke fast, oder tue nur so. Er zieht mich aus dem Wasser, reißt sich die blaue Badekappe vom Kopf, drückt mir auf die Brust. Ich stelle mich bewusstlos, sehe durch den Spalt meiner Lider seine blonden Haare, er hält mir die Nase zu und presst seine Lippen auf meine. Ich atme ihn ein. Komme zu mir. Küsse ihn zurück, er setzt sich auf. Seine Augen weit. Alle hauen ihm auf die Schulter. Ich lege meinen Kopf in seinen Schoß. Hat er etwas gemerkt? Wer weiß das schon. Wir gehen zwei Monate miteinander.

Zehn Jahre nach dem Hallenbad wurde ich entlarvt. Als ich aus dem Bus stieg, wartete die Frau schon auf mich. Es war ein kalter Tag im Januar. Die Sterne standen im Zeichen des Wassermanns, dem Haus der einfallsreichen, erfinderischen Menschen. Unser Element ist die Luft und unsere Waffe der Wind, unsichtbar und doch mächtig wie ein Zauberspruch, der Bäume ausreißt und Meere aufpeitscht und erst zu entlarven ist, wenn es zu spät ist. Welches ist Ihr Zeichen? Waage, habe ich recht? Sagen Sie es mir später, wenn Sie verstehen, was mir die Sterne bedeuten. Mein siebenundzwanzigster Geburtstag lag knapp zwei Wochen zurück, als mich die Frau aufspürte.

Kaum stieg ich aus, traf mich ihr Blick, und ich wusste sofort, was sie wollte. Wie oft ich mir diesen Moment ausgemalt hatte. Wie oft ich in Gedanken geflohen war. Seit Jahren träumte ich davon, schreckte nachts auf und wollte rennen. Immer begann die Jagd mit der Unsicherheit, ob es jetzt wirklich so weit war. Jetzt genügte ein Blick. Ihr Wunsch, auf der Stelle mit mir zu sprechen, koste es, was es wolle, spiegelte sich neben ihr im Glas der Haltestelle. Widerwillig erkannte ich in der Silhouette mich selbst. Ich erkannte die junge Frau, die ich damals war: dunkle Kleidung, schwarze Haare, spitze Nase, bleiche Haut und die großen, immer etwas verschreckt wirkenden Augen, wie man sie nachts im Scheinwerferlicht sieht. Ich sah meinen eigenen Geist und erschrak. Woher kannte sie mich? Was wusste sie von mir? Das Aufleuchten in ihrem Gesicht bei meinem Anblick genügte, um mich fliehen zu lassen.

Ich verließ den Bus und lief in Richtung der Treppen in den Untergrund. Während der Fahrt hatte ich gestanden, zwischen Menschen, die geschäftig die Stirn runzelten und dabei schon morgens erschöpft wirkten. Getrieben vom Gefühl, bei der Arbeit erwartet zu werden, von einer existenziellen Eile, nur weil einige zufällige Zahlen die Zeit einteilten und darüber richteten, ob man pünktlich oder zu spät kam, deshalb schneller eine Treppe hinunterlief, eine abfahrende Bahn verfluchte, alle zwanzig Sekunden auf die Uhr starrte. Ich liebte dieses Theater. Oft kam ich zu spät, wenn ich auch hätte pünktlich sein können. Aber jeder braucht eine Rolle, und mir standen die Falte auf der Stirn, die schnellen Schritte, die hektischen Bewegungen und gemurmelten Entschuldigungen besonders gut.

Ich eilte die Stufen hinunter zur U-Bahn. Die Frau nahm sofort die Verfolgung auf, ich spürte ihre Blicke in meinem Rücken. Durch das Zwischengeschoss und weiter hinab zu den Gleisen, die Bahn stand schon bereit. Ich sprang hinein und lief nach links, durch den leeren Gang; nicht zu schnell, damit nicht auffiel, dass jemand hinter mir her war und mich ein braver Bürger womöglich noch festhielt. An dieser Endstation wartete der Zug einige Minuten, bevor er die Richtung wechselte. Als die Stimme des Zugführers erklang – Zurückbleiben bitte –, war ich bereit. Ich sprang durch die schließenden Türen wieder hinaus. Ich riskierte einen Blick, sah niemanden auf dem Bahnsteig, lief die Treppen hoch ins Freie, ins Licht. Ich wollte den Sternen gerade wieder einmal versprechen, mit allem aufzuhören, mich zu bessern, und abzubitten und fürzubitten und alle meine unehrlichen Umtriebe einzustellen, wenn sie mich noch einmal davonkommen ließen – da hörte ich die Absätze der Frau auf den unteren Stufen. Wie geistesgegenwärtig war sie? Und wieso trug sie für eine Verfolgung hohe Schuhe?

Da rief sie zum ersten Mal nach mir, außer Atem, aber freundlich. Als ginge es hier nicht um eine Treibjagd, sondern als hätte sie gute Absichten.

Clara Konrad?

Er hatte mir immer gefallen, dieser Name. Er hatte einen öffnenden Beginn und einen sanften Abschluss, einen Rhythmus: Clara, Pause, Konrad – so wurde er zu Melodie. Als kleines Mädchen freute ich mich, ihn zu sagen, wenn mich jemand fragte: Und, wer magst du wohl sein?, säuselten die Verkäuferinnen und Kassiererinnen selbst in den Läden, die wir besuchten. Clara, strahlte ich ihnen entgegen, sie strahlten zurück, nur meine Mutter wunderte sich über mich. Sag deinen richtigen Namen, zischte sie. Sie dürften es schon wissen, Clara ist ein, sagen wir: Künstlername. Auch wenn mich nur spezielle Menschen als Künstlerin bezeichnen würden. Menschen aus ähnlichen Berufen, falsche Propheten und fahrendes Volk. Aber was ist das schon, Kunst? Eine Behauptung, die man rahmt? Und was ist ein Name mehr als ein Rahmen um einen Menschen? Wir bekommen diese paar Buchstaben hingeschmissen wie einen Packen Gefängniskleidung. Ein Name kann erdrücken, Hän­-
seleien anziehen, eine Wunde schlagen, in die immer wieder Salz gestreut wird, zu einem Stigma der Fremde werden, aus der man kommt. Nur gar kein Name ist schlimmer. Ohne sind wir nicht ansprechbar, und wer nicht ansprechbar ist, von dem wird geschwiegen, und von wem geschwiegen wird, der ist kein Mensch. Pfercht man die Leute in Lager, was nimmt man den Insassen als Erstes? Sie werden zu Nummern, zu Strichen in einer Tabelle, bevor sie Staub werden.

Clara Konrad jedoch, das gefiel mir, weil es nichts vorbestimmte, ich sogar mein Geschlecht wechseln konnte, indem ich ein paar Zeichen verschob: Konrad Clara, noch besser: Konrad Klarer, so konnte es gehen. Noch einmal hörte ich es hinter, unter mir: Clara Konrad! Aus ihrem Mund klang mein Name wie eine Diagnose, nach allerlei Tests über ein Röntgenbild gesprochen. Clara Konrad? zum dritten Mal, nun lag ein Hauch Befehl darin. War sie gewohnt, dass man auf sie hörte?

Wichtiger: Wie hatte sie mich gefunden? Was wusste sie? Wie gefährlich konnte sie mir werden? An diesem Tag war ich eine Frau von durchschnittlicher Größe und Gewicht, nicht mehr ganz jung, noch nicht alt. Hatte nie Kampfsport betrieben, kannte weder Griffe noch Schläge, hatte Angst vor Schmerzen wie wir alle. Zu selten musste ich Gewalt erdulden, um ein Gefühl von ihr zu haben jenseits des metallischen Geschmacks auf der Zunge bei einer der seltenen Ohrfeigen, die meine Mutter verteilte. Einmal machte ich, nachdem ich meinen Namen gesagt hatte, einen Knicks an der Supermarktkasse, wie ich es im Fernsehen gesehen hatte. Ihr Schlag fegte mich um. Hör auf mit dem Theater, zischte sie in unserer alten Sprache und rieb ihre Hand. Ich weinte nicht einmal, verstummte nur und knickste nie wieder.

Verzeihung. Sie wollen, dass ich weitererzähle. Also: An der Erdoberfläche angekommen, hastete ich über die Straße, in das Vergnügungsviertel hinein. Ich wohnte am Stadtrand, deshalb die Busfahrt, danach einige Stationen mit der Bahn bis zum Zentrum, das war mein Weg. Ansonsten hatte ich hier wenig verloren. Wahllos bog ich in die erste kleine Straße, Kopfsteinpflaster, kurze Treppen hoch zu Cafés und Restaurants mit Fensterfronten. Die meisten waren noch geschlossen. Ich beschleunigte meinen Schritt auf ein Tempo, das bei Olympia gerade noch als Gehen gegolten hätte. Manchmal hoben beide meiner Füße gleichzeitig ab, ich wäre disqualifiziert worden, so wie seinerzeit Lionel Libuda, bester Läufer in der Geschichte der Sowjetunion, der sich auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges anschickte, als erster Kommunist und Russe olympisches Gold im Laufen zu holen, den der Schiedsrichter aber aus dem Wettbewerb verbannte, eben weil er angeblich zu weit abgehoben habe, mit den Worten Du bist Sportler, kein Sputnik. Für mich genügte es, um eilig, aber nicht panisch zu wirken. Fight or flight, sagt man. Ich verteidige mich selten, greife nie an. Ich laufe weg.

Frau Konrad?, schallte es hinter mir über das Pflaster, und ich zuckte zusammen. Rechts hinter den Fenstern war schon Licht, oder immer noch? Was auch immer passieren würde, dort waren Zeugen.

Ich zog die Tür halb auf und glitt hindurch. Vielleicht würde sie mich aus den Augen verlieren. Dahinter ein länglicher Raum mit einem Holztresen, unzählige Flaschen vor Spiegeln. Hunderte Arten, sich zu verlieren: Wodka, Rum und Whiskey, Amaretto, Martini, Campari und Kirschwasser, Strohrum, Likör und Gin. Daneben die Gläser, aufgereiht nach Einsatzgebiet. An den Wänden Spirituosenwerbung. Die Theke zum Verschanzen, dahinter eine Frau, unschätzbar alt mit den gelblichen Locken, die ihren...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählende Affen • Fake News • Friedemann & Freunde • Gegenwart • Gegenwartsliteratur • Glücksspiel • Horoskope • influencer • Podcast • Roman • Spiel mit Realität
ISBN-10 3-8437-3020-2 / 3843730202
ISBN-13 978-3-8437-3020-4 / 9783843730204
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