Frühstück am Rande der Apokalypse (eBook)

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2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30399-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frühstück am Rande der Apokalypse -  Wladimir Kaminer
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Was haben Familienalltag und Weltuntergang, globale Krisen und Mutters Kreuzworträtsel, Putin und Pilzsaison gemeinsam? Sie existieren gleichzeitig und schaffen damit eine Normalität, die vielen nicht ganz normal erscheint. Und doch haben wir uns irgendwie darin eingerichtet. Tatsächlich war die Sorge, der Himmel könne uns auf den Kopf fallen, hierzulande schon immer weit verbreitet. Dabei liegen die Herausforderungen des Lebens oft in der Suche nach dem Ladekabel oder einem Tenor mit neun Buchstaben. Ein Glück, dass es einen Chronisten gibt, der diese eigenartige Situation mit Humor beschreibt und mit unbeirrbarem Optimismus zu verstehen versucht ...

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.

100 Sekunden vor dem Weltuntergang
Der Urlaub versaut


Die meisten Menschen in meiner Umgebung tragen Brillen, und sie teilen sich in Optimisten und Pessimisten. Die weitsichtigen Optimisten schauen gern in die Ferne. Sie glauben, dass die Welt sich unaufhaltsam verbessert, egal was passiert. Alles, was mit uns geschieht, ist ein Fortschritt. Mit jedem neuen Krieg, mit jeder Revolution oder jedem Aufstand erobert sich die Menschheit ein bisschen mehr Freiheit, mit jedem neuen Job entsteht mehr Wohlstand, und jeder Verlust schenkt einem zum Ausgleich ein Stück Weisheit und Gelassenheit.

Die anderen, die kurzsichtigen Pessimisten, sehen die Menschheit auf dem absteigenden Ast und die Vernunft als zur Neige gehende Requisite. In ihren Augen schwebt die Menschheit ständig über einem Abgrund. Sie balanciert auf einem dünnen Seil, gestrickt aus Eitelkeit und Neid – unmöglich, darauf die Balance zu halten. Jeder Versuch, das Zusammenleben einigermaßen vernünftig zu organisieren, ist vergeblich, jedes neue Projekt zum Scheitern verurteilt, und jeder neue Tag auf dem Planeten ist ein Geschenk, das wir nicht verdient haben. Diese Menschen tragen die Weltuntergangsuhr quasi am Handgelenk.

Ich bin der Meinung, wir tun es unserem Planeten nach: Wir drehen uns im Kreis. Dadurch ist es mal kalt und stockfinster, mal heiß und hell. Wir sind Pflanzen mit Beinen, auch unser Lebenslauf wird von den Jahreszeiten geregelt, zumindest bei Menschen in meinem Beruf. Die Rhododendren blühen im Mai, die Chrysanthemen im September, und die Bühnenkünstler tragen ihre Blüten im Winter auf die Bühnen. Traditionell sind die Wintermonate für Künstler die Hauptblütezeit. An zweiter Stelle kommt der Sommer, denn der ist in Deutschland immer ein »Kultursommer«. Doch am liebsten gehen die Menschen zu Lesungen und in Konzerte, wenn es draußen dunkel und kalt ist. Deswegen war ich die letzten Jahre im Dezember und Januar pausenlos unterwegs und machte dann im Februar reichlich Urlaub, am liebsten dort, wo es warm war.

Die Nachricht vom Krieg hat uns daher in Las Palmas, der Hauptstadt von Gran Canaria, erreicht. Die russische Armee war über die ukrainische Grenze marschiert, und die Bevölkerung Russlands stand angeblich geschlossen hinter ihrer Führung. Sie begrüßte die »Spezialoperation«, wie der russische Präsident seinen Krieg nannte. In einer einstündigen Fernsehansprache versuchte er, die Gründe für den Einmarsch und seine Ziele zu formulieren.

»Der Krieg des Westens gegen Russland und die Sanktionen waren unvermeidlich. Um meine Entscheidung zu erklären, muss ich weit ausholen, in die Geschichte unserer Heimat«, begann er seine Ansprache. Menschen, die ihn kannten, wussten, dass das kein gutes Zeichen war. Wenn der Präsident ausholen muss, bedeutet das, dass er selbst von seiner Entscheidung überrascht ist. Er sorge sich um die Ausdehnung der NATO, wolle mehr Anerkennung für die russische Welt auf dem Planeten, mehr Autorität für sein Land in Europa erreichen und außerdem die russische Sprache in der Ukraine und die russischsprachigen Bewohner in der Ostukraine schützen. Es ginge darum, das ukrainische Volk aus der amerikanischen Knechtschaft zu befreien und die wirtschaftliche Kompetenz seines Landes auszubauen.

Der Anti-Midas war voll in seinem Element. Jedes Gold, das er anfasste, verwandelte sich beinahe automatisch in Scheiße. Schon damals ahnte ich, was mit seinen »Zielen« passieren würde. Er würde genau das Gegenteil erreichen: Finnland und Schweden geben ihre Neutralität auf und wollen der NATO beitreten, die sich noch enger um Russland schlingt. Die russische Sprache und Literatur werden aus den Unterrichtsplänen der Ukraine verbannt, und die russische Wirtschaft nähert sich dem Kollaps. Die Sanktionen des Westens schließen das Land aus jenem Ressourcenmarkt aus, an dem sich der Kreml jahrelang dumm und dämlich verdient hatte, und alle Männer in den russischsprachigen Gebieten von Donezk und Luhansk werden im Krieg als Erste verheizt. Ihnen bleibt nur die Wahl zwischen Flucht oder Tod. Wäre Putin ein CIA-Agent, könnte er in Langley stolz vermelden: Russland ist am Ende. Auftrag erfüllt.

Überall auf der Welt waren die Menschen über Russlands Kriegstreiberei empört. Von Neuseeland bis Norwegen befestigten sie ukrainische Flaggen an Balkonen und Hausfassaden und gingen auf die Straße, um zu demonstrieren. In Las Palmas hatte es zeitgleich mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu regnen begonnen, mitten im Februar, in der schönsten Urlaubssaison. Aber auch hier fand eine Antikriegsdemo statt, der sich meine Frau und ich anschlossen. Zwei Stunden lang hielten die Menschen im strömenden Regen Reden auf Spanisch und winkten mit ukrainischen Flaggen. Neben uns standen mehrere Ukrainer und Ukrainerinnen, die mitten im Urlaub vom Krieg überrascht worden waren.

»Was soll ich denn jetzt tun?«, fragte mich eine junge Frau, Swetlana, auf Russisch. Sie war klatschnass, eindeutig für den Strand angezogen, und trug ein Babytragetuch am Bauch, in dem ein ziemlich großes Kind hing. Swetlana aus Charkiw hatte zwei Wochen Urlaub gebucht, das Hotelzimmer war nur noch bis zum nächsten Tag reserviert. Jetzt hatte sie erfahren, dass ihre Stadt von der russischen Luftwaffe bombardiert wurde und russische Panzer an der Stadtgrenze standen.

»Komm auf gar keinen Fall zurück!«, befahl ihre Mama am Telefon. »Bleib, wo du bist!«

Swetlana wirkte verloren. Sie hatte doch bloß ein wenig Sonne tanken und am Strand liegen wollen. Stattdessen stand sie nun in Badelatschen und Bikini auf einer verregneten Antikriegsdemo mitten in Las Palmas.

»Was soll ich nur tun?«, wiederholte sie immer wieder.

Ich wusste es auch nicht. »Hören Sie auf Ihre Mutter, wir verlängern das Hotel«, riet ich fürs Erste.

Mein Telefon klingelte ununterbrochen. Innerhalb eines Tages bekam ich zwei Dutzend Anfragen von deutschen Medien mit der Bitte um einen Kommentar.

»Was ist mit den Russen los, Herr Kaminer? Warum wollen sie Krieg?« »Mit welchem Gefühl haben Sie die Nachrichten gelesen?« »Schämen Sie sich?«

Ich schämte mich. Im Lauf der 33 Jahre, die ich mittlerweile in Deutschland lebte, hatte ich so viel und lange über Russland und das Leben in der Sowjetunion geschrieben, dass die Geschichte meiner Heimat meine eigene Geschichte geworden war, ein wichtiger Bestandteil meiner Identität. Die Heimat und ich, wir waren verschmolzen. Insofern betrachtete ich auch meine eigene Auswanderung als eine Annäherung Russlands an Europa. Jahrzehntelang hatte ich Deutschland und die Welt bereist und überall erzählt, wie europäisch die Russen waren: ein kreatives, offenes Volk, ein lustiger Nachbar, der ab und zu vielleicht ein bisschen zu viel trank und laut wurde, aber seiner Natur nach herzensgut war. Ja, das Land machte gerade eine schwierige Phase durch und hatte vorübergehend Probleme mit der politischen Führung, aber wer hatte das nicht? Das konnte jedem Land und jedem Volk passieren.

Aber auf einmal griff meine Heimat ein Nachbarland an, weil dieses Land in die EU wollte, beschoss zivile Objekte, Kindergärten und Krankenhäuser, und im russischen Propagandafernsehen zeigte man Schlangen von Freiwilligen vor den Mobilisierungspunkten. Waren das alles etwa Schauspieler, oder wollten die Russen wirklich Krieg? Laut offiziellen Umfragen befürworteten zwischen siebzig und achtzig Prozent der Russen die »Spezialoperation« ihres Präsidenten. Man sollte diese Ergebnisse mit Vorsicht zur Kenntnis nehmen. Immerhin wurde in Russland gleich am ersten Tag nach dem Einmarsch die Kriegszensur eingeführt. Jede kritische Meinung konnte als Heimatverrat und »Beleidigung der Streitkräfte« ausgelegt werden, wofür einem bis zu fünfzehn Jahre Knast blühten.

Je mehr aktuelle Berichte ich aus der Heimat las, umso klarer wurde mir, dass in einem unfreien Land jede soziologische Untersuchung mit ihren Umfragen scheitern musste. Die Menschen beantworten ungern Fragen, die ihnen von Fremden gestellt werden. Das ist auf der ganzen Welt so, und ich kannte es auch aus eigener Erfahrung: Selbst wenn die Deutsche Bahn in ihren Zügen eine Umfrage zum Komfort der Passagiere durchführen will, ducken sich die meisten weg, weil sie niemandem etwas erzählen wollen. Die Russen waren durch die »Spezialoperation« ihres Präsidenten zu Weltmeistern im Schweigen geworden. 95 Prozent wollten nicht reden, und von den restlichen fünf Prozent unterstützten die meisten bedingungslos alles, was ihr Führer vorhatte. Doch die schweigende Mehrheit stellte die angebliche Unterstützung der Bevölkerung für das Regime infrage.

Meine Landsleute verhielten sich wie die Anonymen Alkoholiker, nach dem berühmten Gelassenheits-Gebet: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.« Sie hatten keine Möglichkeit, sich in die politischen Angelegenheiten ihres Landes einzumischen, also taten die meisten so, als gäbe es diesen Krieg gar nicht. Das russische Fernsehen unterstützte sie in dieser Vogel-Strauß-Politik: Es wurden keine Leichen gezeigt, keine zerbombten Wohnhäuser, keine Flüchtlingsströme. Nur aufsteigende Flugzeuge und große Kanonen, die in die Luft feuerten, um die »Akzeptanz Russlands in der Welt zu erhöhen und die russische Sprache in die Schulprogramme zurückzubringen«.

Wir Menschen tun gerne »so, als ob«, wir halten am liebsten einen gesunden Abstand zur Realität. Wir wissen genau, dass die Erde krumm ist, laufen aber trotzdem nicht gebeugt, sondern mit geradem Rücken, als wäre sie flach. Wir leben, als ob wir niemals sterben, obwohl wir genau wissen, dass es nicht stimmt. Wir spielen Frieden mitten im Krieg. Das ist zutiefst menschlich,...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Absurde Alltagsgeschichten • eBooks • Humor • lustig • lustige • Neuerscheinung • Optimismus • Russen in Deutschland • Satire • SPIEGEL-Bestsellerautor • Typisch deutsch • Zukunftsangst • Zum Schmunzeln
ISBN-10 3-641-30399-0 / 3641303990
ISBN-13 978-3-641-30399-0 / 9783641303990
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