Wo die Geister tanzen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
224 Seiten
C.Bertelsmann Verlag
978-3-641-29818-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo die Geister tanzen - Joana Osman
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Drei Generationen, verbunden durch die tiefe Sehnsucht danach, Wurzeln zu schlagen - in ihrem großen Roman erschreibt sich Joana Osman ihre eigene Familiengeschichte
Sabiha und Ahmed sind fest verwurzelt in ihrer Heimatstadt Jaffa. Hier eröffnen sie ein eigenes Kino, um in der letzten Reihe bei Filmen mit Shirley Temple zu weinen, und ziehen ihre Söhne groß. Doch 1948, mit dem ersten arabisch-israelischen Krieg und schließlich der Gründung Israels, beginnt für die Familie eine Odyssee. Sie fliehen in den Libanon und weiter in die Türkei, stets auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Sie leben in Abbruchhäusern und werden von keinem Staat anerkannt. Sie trauern um die Verstorbenen und verlieren doch nie die Lust am Leben und erst recht nicht ihren Humor.

Siebzig Jahre später begibt sich Joana Osman in Israel auf Spurensuche. Wer waren ihre Großeltern, die ihren Vater auf der Flucht großzogen? Was war das für eine Reise, die auch ihr eigenes Aufwachsen so stark und doch so unsichtbar geprägt hat.

Fiktion und Autofiktion verschwimmen in diesem Roman, in dem Joana Osman ihre eigene Familiengeschichte vor dem Vergessen rettet. Voller Fantasie und hinreißendem Witz lässt sie die Geister der Vergangenheit tanzen.

Joana Osman, geboren 1982, ist die Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter. Sie studierte Amerikanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte und war 2012 Mitbegründerin der Friedensbewegung »The Peace Factory«. Ihr Debütroman »Am Boden des Himmels« erschien 2019. Joana Osman arbeitet als Autorin, Dozentin und Storytelling-Coach und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Prolog


»Schreibe«, sprach jene Stimme,
und der Prophet antwortete: »Für wen?«

Die Stimme sprach: »Für die Toten,
für die, die du in der Vorwelt geliebt hast.«

Der Prophet fragte: »Werden sie mich lesen?«

Die Stimme antwortete:
»Ja, denn sie kommen wieder zurück
als Nachwelt.«

SØREN KIERKEGAARD

Eigentlich war es meine jüngere Cousine Zeynep, die mich auf die Idee für diesen Roman gebracht hat. Eines Nachts (es muss eine windige Märznacht gewesen sein, denn es sind ja immer solche windigen Märznächte, in denen irgendetwas Bedeutsames passiert, oder vielleicht war es auch im Sommer) klingelt mein Telefon und Zeynep ist dran. Was gibt’s?, frage ich, und sie sagt, Habibti, ich muss dir was erzählen.

Warum tust du’s nicht?, sage ich und bemühe mich, meiner Stimme einen lässigen und beiläufigen Klang zu geben, um zu verbergen, dass mir jedes Mal das Herz in die Hose rutscht, wenn jemand aus der Familie anruft. Oder eine Nummer mit einer Vorwahl aus dem Nahen Osten auf dem Display erscheint, was im Prinzip auf dasselbe hinausläuft.

Zey ruft aus Istanbul an. Ich kann den nächtlichen Verkehrslärm durchs Telefon hören. Vermutlich hat sie das Fenster offen stehen, oder sie sitzt auf dem Balkon und raucht.

Also, beginnt Zeynep und holt tief Luft. Ich hole auch tief Luft, denn die Ankündigung kann nur bedeuten, dass jemand heiratet (sehr wahrscheinlich) und ich hinfliegen soll, oder dass jemand zu Besuch kommen will, oder dass es richtig saftigen Klatsch und Tratsch gibt, den wir in den nächsten Stunden von A bis Z durchkauen werden. Wobei all das, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, noch nie dazu geführt hat, dass Zeynep mich anruft. Noch dazu mitten in der Nacht.

O Gott.

Ich habe etwas gefunden, sagt sie.

Eine Bombe?, frage ich. Ich weiß nicht, warum ich das sage. In meiner Familie sind wir besessen vom Krieg, so viel steht fest.

So ungefähr, sagt Zeynep. Es hat dieselbe Sprengkraft, das ist schon mal sicher.

Ein halbes Jahr später treffen Zeynep und ich uns am Hauptbahnhof von Tel Aviv. Sie ist zum ersten Mal hier, ich zum vierten. Es ist Sommer, obwohl es schon Oktober ist, und ich habe eines dieser grünen Mietfahrräder bei mir, die überall herumstehen. Wir wuchten ihren Koffer darauf und schieben das Ganze in die nächste Bar.

Zey kommt direkt vom Flughafen und strahlt dieses Gefühl von Gerade-angekommen-Sein aus. Hat alles geklappt?, frage ich. Ich meine die Einreise. Immerhin ist Zeynep Exil-Palästinenserin. Von Geburt an. Eigentlich würde diese Tatsache sie zu einer Ausgestoßenen machen, zu einer staatenlosen Person, zu jemandem, die kein Land, keine Heimat, keinen Pass und erst recht keine Perspektive ihr Eigen nennen kann. Aber Zeynep ist die Tochter eines Mannes, der vor vielen Jahren alles darangesetzt hat, eine Staatsbürgerschaft zu erwerben, und er tat dies, indem er sich jahrelang als Soldat in der Armee eines Landes verdingte, das ihm nichts weiter bot als das uneingeschränkte Aufenthaltsrecht für sich und seine Familie. Zeynep grinst und knallt ihren türkischen Reisepass auf den Tisch. Das magische Dokument. Im arabischen Teil meiner Familie ist es noch immer ein Privileg, einen Pass zu besitzen.

Die haben nicht mal gezuckt, sagt sie. Ich bin einfach durchmarschiert.

Zeynep hat knallrot gefärbte Locken, die ihr bis zum Po reichen, und trägt ein grünes T-Shirt mit Peace-Zeichen, eine lilafarbene Stoffhose mit Fransen und Elefantenprint und dazu jede Menge Silberschmuck. Sie passt in diese Stadt wie ein Pfeil in die Mitte einer Dartscheibe. Die Jungs vom israelischen Inlandsgeheimdienst, die jeden Reisenden am Flughafen Ben Gurion kontrollieren, müssen sie für die harmlose Irre gehalten haben, die sie ist.

Ich bin ein wenig neidisch, denn jedes Mal, wenn ich nach Israel einreise, werde ich von einem Sicherheitsbeamten in einen fensterlosen Raum geführt und nach allen Regeln der Kunst verhört, weil sie hier noch immer nicht glauben können, dass eine Frau mit deutsch-palästinensischen Wurzeln nach Israel reist, um in Schulen und Universitäten über Frieden zu sprechen.

Aber heute sind wir aus einem anderen Grund hier.

Hast du sie dabei?, frage ich, und Zeynep schiebt mir einen dicken Umschlag über den Tisch. Ich öffne ihn und ziehe das heraus, was Zeynep vor sechs Monaten so dramatisch angekündigt hat. Notizbücher. Sechs Stück. Chronologisch sortiert. Jede Zeile darin ist fein säuberlich beschrieben von der Hand meines Onkels Mahmoud, Zeyneps Vater.

Er ist seit vier Jahren tot, aber bevor er das Zeitliche gesegnet hat, muss er noch im Schreibwarenladen gewesen sein und sich diese Hefte gekauft haben. Warum er die vollgeschriebenen Notizbücher dann in einer Keksdose ganz hinten im Schrank versteckt hat, bleibt sein Geheimnis. Es ist ein großer Zufall, dass meine Cousine diese Hefte schließlich beim Aufräumen gefunden hat, wo sie doch normalerweise nie aufräumt. Zusammen mit den Tagebüchern meines Vaters, der auch tot ist, aber schon viel länger als Mahmoud, macht das in der Summe vierzehn Notizbücher. Die Geschichte unserer Familie, versammelt auf einem Haufen Papier. Nur dass die Tinte langsam verblasst. Scheiße, sagt Zeynep, und ich weiß, was sie meint.

Sie schlägt eines der Hefte auf und deutet auf das erste Wort. Was steht da, fragt sie. Die Frage brennt ihr seit sechs Monaten unter den Nägeln und beschreibt haargenau alles, was in unserer Familie verzwickt ist. Zeynep spricht als Tochter eines palästinensischen Vaters und einer syrischen Mutter fließend Arabisch, nur kann sie kein Arabisch lesen, weil ihre Familie in die Türkei ausgewandert ist, bevor sie überhaupt auch nur die Chance hatte, ihr Alif Ba Ta zu lernen. Ich, Tochter eines viel zu früh verstorbenen palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter, hatte in meinen überambitionierten Jugendjahren den dringenden Wunsch, die Sprache meines Vaters zu lernen, bin aber über besagtes Alif Ba Ta nie so recht hinausgekommen, was dazu führte, dass ich Arabisch zwar lesen, aber nur wenig verstehen und noch weniger sprechen kann. Gemeinsam bilden Zeynep und ich also eine Art linguistisches Frankensteinmonster, sind aber trotzdem aus irgendeinem Grund weniger als die Summe unserer Teile.

Ich kneife die Augen zusammen und versuche herauszufinden, was da steht.

Amsi, entziffere ich. Was heißt das?

Gestern, sagt Zeynep. Das heißt gestern.

Ich sehe schon, das hier wird schwierig.

Welcher Teufel hat mich eigentlich geritten, als ich dachte, ich könnte der Geschichte ihre verborgenen Geheimnisse entreißen? Ich hätte all dieses Spurensuchen vielleicht nie begonnen, hätte Zeynep mich damals am Telefon nicht gefragt: Wer war unsere Familie? Wie lebten sie? Warum wissen wir so wenig von ihnen?

Ich hoffte, die Sache schnell erledigen zu können, indem ich ihr antwortete, soweit ich wisse, stammten wir von einer Linie magerer armer Leute ab, Kanaaniten allesamt (was immer das bedeuten mag) mit einigen Beduinen, ein paar Phöniziern, Arabern, Römern, Türken, und unter Garantie einer Handvoll Juden als Zugabe, und dass ich unter keinen Umständen in die Bibliothek gehen könne, um über die Landbevölkerung des frühen Palästinas zu recherchieren, schon gar nicht über unsere eigene Familie, weil die es gar nicht bis in die Geschichtsbücher geschafft hätten.

Aber das reichte ihr nicht. Zeynep wollte Einzelheiten. Namen und Geschichten. Und so steckte ich meine Nase in den alten Schuhkarton voller Artefakte, den ich in meiner Wohnung aufbewahre. Mir fiel eine Gebetskette aus polierten Holzperlen in die Hände, die mein Großvater geschnitzt hat. Auf einem der Fotos erkannte ich sie wieder, er ist darauf mit einem Fez und einem gewaltigen Schnurrbart zu sehen, über seinem runden Bauch spannt sich eine Schaffellweste, und zwischen seinen Fingern baumeln die Holzperlen aufgereiht an einer Schnur. Großvater steht auf diesem Foto inmitten einer Berglandschaft, im Hintergrund erheben sich Gipfel und Zedern – vielleicht war es das Antilibanongebirge, wo dieses Bild irgendwann in den späten 1960er-Jahren aufgenommen wurde.

Als mein Vater das Land verließ, in dem er geboren wurde, und das Flugzeug bestieg, das ihn schließlich nach Deutschland und in eine bessere Zukunft bringen sollte, schrieb er in sein erstes Tagebuch: Home. Love it, change it, or leave it. – Heimat – Liebe sie, verändere sie, oder verlasse sie.

Mein Ansatz ist ein anderer, fragen Sie mich nicht warum. Ich konnte meine Heimat, das bayerische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, nie wirklich verlassen und muss immer wieder zurückkehren. Das ist unvermeidlich. Vielleicht, weil meine Vorfahren ihre Heimat so oft und so gewaltsam verlassen mussten, sehne ich mich umso stärker danach, meine Wurzeln tief in die Erde zu strecken und mich festzukrallen in der einzigen Heimat, die ich habe, ganz gleich wie unzulänglich sie einem auch erscheinen mag.

Doch wann immer ich mich in ein Flugzeug setze und fünf Stunden durch die Luft sause, um an irgendeinem Flughafen im Nahen Osten auszusteigen, und die schwüle, heiße Luft einatme, die nach Meer und Hitze riecht und noch nach etwas anderem, dann fühle ich mich wirklich zu Hause. Das Gefühl von Heimat überkommt mich wie ein Schock, wenn ich in Beirut aus dem Flugzeug steige und durch die klimatisierte Ankunftshalle gehe, aber es erwischt mich auch, wenn ich in Tel Aviv oder Jerusalem stehe und unter Zitronenbäumen auf den Bus warte. Ich werde dort nie leben können, aber Heimat ist es allemal.

Dabei...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • als wir vögel waren • Autofiktion • ayanna lloyd banwo • Beirut • Biografischer Roman • eBooks • Einwanderung • Familienroman • Fatma Aydemir • Flucht • Humor • Israel • Junge Literatur • Leichtigkeit • Lena Gorelik • lustig • lustige • Migration • Nahostkonflikt • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Pierre Jarawan • Roman • Romane • Saša Stanišić
ISBN-10 3-641-29818-0 / 3641298180
ISBN-13 978-3-641-29818-0 / 9783641298180
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