Lucy Gayheart (eBook)

Roman. Übersetzt von Elisabeth Schnack, mit einem Nachwort von Alexa Hennig von Lange

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
304 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-30847-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lucy Gayheart -  Willa Cather
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Der Roman «Lucy Gayheart» von 1936 ist das liebevolle Porträt einer jungen Frau, die zu neuen Ufern aufbricht: das erste eigene Zimmer, die erste große Liebe und die ewige Frage, warum man nie den Mann will, den man haben könnte.

Jeder im amerikanischen Städtchen Haverford sagt Lucy Gayheart eine glänzende Zukunft voraus: Sie ist jung, hübsch und musisch hochbegabt - eine ausgezeichnete Klavierspielerin. Doch Lucy wünscht sich mehr als das langweilige Kleinstadtleben und den wohlhabenden, doch allzu bodenständigen Harry, der sich im Geheimen schon als ihr Ehemann sieht. Also zieht sie zum Musikstudium nach Chicago, wo sie das Großstadtleben und ihre neugewonnene Unabhängigkeit fern der Heimat genießt. Mit dem berühmten, schon wesentlich älteren Tenor Sebastian erlebt sie schließlich die Aufregungen und das Glück der ersten Liebe. Als Harry jedoch plötzlich in Chicago auftaucht und Lucy einen Heiratsantrag macht, erfindet sie aus der Not heraus eine Lüge, die ihrer beider Leben für immer verändern wird.

Als Achtjährige übersiedelte Willa Cather (1873-1947) mit ihren Eltern von Virginia nach Nebraska, wo sie mit der unermesslichen Prärie, aber auch mit den dortigen Einwanderern aus der Alten Welt Bekanntschaft schloss. Diese Erfahrungen eines Neben- und Miteinander verschiedener Ethnien, Religionen und Kulturen prägten sie tief. Obwohl sie als Lehrerin, Redakteurin und später als erfolgreiche Schriftstellerin vor allem in New York lebte, spielen ihre Werke meist in der heroischen Weite der Prärie des amerikanischen Westens und Südwestens, der sie so ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Willa Cather erhielt den Pulitzer-Preis und gilt als eine der großen amerikanischen Erzählerinnen.

Zweites Buch

1

Es schien, als wolle der blau-goldene Herbst im Plattetal in jenem Jahr überhaupt nicht enden. Noch den ganzen November hindurch gingen die Frauen Haverfords nur in den Leinenkostümen umher, wie sie damals, im Jahre 1902, in Mode waren, allenfalls mit einem kleinen Pelzbesatz am Kragen; niemand dachte daran, schon einen Wintermantel anzuziehen. An den Bäumen, die sich über die zementierten Bürgersteige wölbten, hingen noch Schwärme goldenen Laubs, und die großen Pappeln längs des Flusses schimmerten weiß und silbern und hoben sich gegen den blauen Himmel ab, der nur ein klein wenig verschleierter als im Sommer war. Die Luft war besonders mild. Selbst Menschen, die sich zu Recht darüber hätten beklagen dürfen, dass der Regen so spärlich gewesen und das Korn am Halm verdorrt war, traten jeden Morgen voller Zuversicht in ihren Hof hinaus und dachten, im nächsten Jahr würde es vielleicht besser werden, das Leben sei ja ein recht annehmbares Lotteriespiel.

An solch einem Morgen saß Mrs. Alec Ramsay, die Witwe eines der Stadtväter von Haverford, am breiten Fenster ihres Frontzimmers, in ihrem Lieblingsohrensessel aus Gobelinstoff. Sie war jetzt eine alte Frau, gut siebzig, obwohl die Leute in Haverford es kaum wahrhaben wollten: Sie war so lange eine der beherrschenden Persönlichkeiten ihres Lebens gewesen. Auch merkte man ihr das hohe Alter nicht an; sie hielt sich noch sehr gerade und war gutaussehend, und es lag etwas Königliches in ihrer Haltung und ihrem Auftreten. Ihre Nachbarn fanden, dass sie im Laufe der Jahre etwas milder geworden war, etwas nachdenklicher und verständnisvoller. Vor zehn Jahren hätte sie nicht an einem schönen Herbsttag um neun Uhr morgens in einem weich gepolsterten Sessel gesessen. Da wäre sie aufs Land hinausgefahren, oder auf den Markt in der Hauptstraße gegangen, oder mit dem Schnellzug nach Omaha gefahren, um einen ganzen Tag lang Einkäufe zu machen. Noch immer fuhr sie jeden Nachmittag aus oder ging spazieren; doch an den Vormittagen war sie eher ruhig, als müsse sie mit der Energie haushalten, die einst ein unerschöpflicher Quell gewesen war. Und sie interessierte sich jetzt mehr für andere Leute, eigentlich für alle Leute, als sie das früher getan hatte. Heute Morgen schaute sie aus ihrem Fenster und beobachtete die Kinder, die auf dem Weg zur Schule vorüberkamen; kleine Jungs in Kniehosen und Hemden, kleine Mädchen in gestärkten Gingham-Kleidern. «Lauf, Molly, lauf!», rief sie einer kleinen Dicken zu, die den Bürgersteig entlanghüpfte, als die Schulglocke schon zum letzten Mal läutete.

Als die Glocke verstummt war und alle Kinder der Stadt wohlbehalten in den drei roten Backsteinschulhäusern zusammengepfercht waren, kamen die älteren Leute vorbei, die sich ihre Morgenpost vom Postamt holten: Doktor Bridgemans rundliche Frau, die zu Fuß ging, um abzunehmen, Jerry Sleeth, der wortkarge Tischler und Adventist, Vater MacCormac, der katholische Priester, die flatterhafte kleine Mrs. Jackmann, die bei Beerdigungen sang – und auch bei jeder anderen Gelegenheit. Einer nach dem andern kamen sie den Bürgersteig vor ihrem Haus entlang – unter den sich wölbenden Ulmen, die noch immer zottig waren vor lauter goldenen und amethystfarbenen Blättern.

Plötzlich drehte sich Mrs. Ramsay in ihrem Sessel um und sprach mit ihrer Tochter, Madge Norwall, die aus Omaha zu Besuch gekommen war. Mrs. Norwall saß im hinteren Teil des langen Doppelwohnzimmers und strickte einen Pullover für ihren Sohn, der aufs College ging.

«Madge, da läuft Lucy Gayheart! Sie hat sich so verändert, das arme Kind, du würdest sie kaum wiedererkennen. Früher ging sie niemals hier vorbei, ohne hereinzuschauen.»

Das schlanke Mädchen, das den Bürgersteig entlangkam, blickte weder nach rechts noch nach links, man konnte aber auch nicht sagen, dass sie nach vorn schaute. Sie blickte eindeutig nirgendwohin, dachte Mrs. Norwall. Sie hatte den Kopf ein wenig vornübergebeugt und die Schultern zusammengezogen, als versuche sie, unbemerkt vorbeizuhuschen. Mrs. Ramsay konnte sie nicht so vorbeilassen; sie lehnte sich nach vorn und klopfte mit ihrem großen Kameenring ans Fenster. Das Mädchen blieb stehen, warf einen Blick zum Fenster hinüber, lächelte, winkte matt mit der Hand und eilte weiter.

Mrs. Ramsay warf der entschwindenden Gestalt einen wehmütigen, besorgten Blick ihrer noch immer schönen blauen Augen zu – ein Blau, das hell und silbern war, wie das Blau der Saphire. Lucy war immer schnell auf den Beinen gewesen, aber anders als jetzt. Früher hatte es immer so ausgesehen, als eile sie etwas Reizvollem entgegen und könne sich unmöglich aufhalten lassen. Jetzt war es so, als würde sie vor etwas davonrennen oder als liefe sie nur, um sich müde zu machen.

Mrs. Norwall war ins Vorderzimmer getreten und blickte ihrer Mutter über die Schulter.

«Ich würde zu gern wissen, was es ist», murmelte Mrs. Ramsay. «Manche Leute sagen, es sei eine Liebesaffäre in Chicago gewesen. Und andere sagen, es komme daher, dass sie dort ihre Stelle verloren habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich derlei so sehr zu Herzen nehmen würde.»

«Und dann gibt es noch solche», fügte ihre Tochter hinzu, «die sagen, es sei, weil Harry Gordon sie sitzengelassen und Miss Arkwright geheiratet hat.»

«Dummes Zeug!», rief Mrs. Ramsay und warf den Kopf mit einem Auflodern ihres alten Feuers zurück. «Wenn hier jemand einen Korb bekommen hat, dann Harry Gordon. Er hätte sich glücklich schätzen können, sie zu kriegen. In dem Moment, wo ich ihn mit dieser hohlwangigen Frau zusammen sah, wusste ich sofort, dass er sie nur aus Trotz geheiratet hat. Lucy ist ohne jeden Zweifel viel zu gut für ihn.»

«Harry ist ein bedeutender Geschäftsmann, und er ist sehr attraktiv», sagte die Tochter, um sie zu necken.

«Rein äußerlich betrachtet, vielleicht. Er sieht gut aus, würde ich sagen. Aber im Grunde ein derber Schotte. Ich habe viele seiner Art in Schottland gesehen; niemals zu stolz, um einen Schilling zu sparen, trotz all ihrem Geprotze und Geprahle.»

Mrs. Norwall lächelte und strickte weiter an ihrem Pullover. Mrs. Ramsay schaute aus dem Fenster und beobachtete die Vorübergehenden, nickte und lächelte, wenn die zufällig herüberschauten, nahm sie aber kaum wahr, denn mit ihren Gedanken war sie woanders. Schließlich seufzte sie und sagte, wie zu sich selbst: «Was es auch war – ich wünschte, es wäre nicht geschehen! Die arme kleine Lucy!»

Mrs. Norwall blickte von ihrer Handarbeit auf, beinahe erschrocken über etwas Schönes in ihrer Mutter Stimme. Es war nicht die prompte, leidenschaftliche Anteilnahme, die sie sonst einem kranken Kind oder Freunden in der Not entgegenbrachte. Nein, es war weniger persönlich, eher wie etwas Überirdisches. Eher wie himmlische Güte. Und ihre Mutter war sonst immer so ungebärdig und oft derart persönlich geworden! Wenn einem das Älterwerden eine solche Stimme und solches Verständnis bescherte, dann brauchte man sich nicht so sehr davor zu fürchten, fand die Tochter.

Lucy Gayheart eilte weiter, ohne einen besonderen Gedanken im Sinn zu haben, außer dem, dass sie auf einem anderen Weg heimkehren wolle. Sie konnte die Hauptstraße bis zur alten High School hinaufgehen und dann etwa vier Häuserblocks nördlich von Mrs. Ramsays Haus in Richtung Westen laufen. Sie hatte Mrs. Ramsay ihr Leben lang geliebt und bewundert, und gerade deswegen konnte sie es jetzt nicht ertragen, sie zu sehen. Nur einmal, seit sie im September heimgekommen war, hatte Lucy ihr einen kurzen Besuch abgestattet, den sie jedoch nur mit Mühe und Not durchstehen konnte. Die Kehle war ihr zugeschnürt und alles Denken wie eingefroren. Ihre alte Freundin konnte ihr nicht helfen – nur ein Mensch in Haverford hätte ihr helfen können. Sie ging jetzt zur Post, in der leisen Hoffnung, ihn dort zu treffen, wie sie es schon an so manchem Morgen getan hatte. Alle Geschäftsleute holten gegen halb zehn ihre Post ab. Plötzlich fiel ihr ein, dass die Schulglocke ja bereits vor geraumer Zeit geläutet hatte. Vielleicht kam sie zu spät. Sie lief schneller.

Die Doppeltür der Post stand wegen des warmen Wetters sperrangelweit offen. Männer gingen hinein und kamen heraus. Lucy trat an das Postfach ihres Vaters und drehte langsam am Nummernschloss, wobei sie es absichtlich falsch einstellte. Sie wartete auf jemanden. Und da kam auch schon Harry Gordon herein. Das Postfach der Bank lag etwas weiter hinten als das von Jacob Gayheart. Er ging an Lucy vorbei, ohne sie zu sehen, öffnete sein Fach und warf die Briefe in eine Ledertasche, die er bei sich trug. Als er sich umdrehte, um zu gehen, stellte Lucy sich ihm direkt in den Weg. «Guten Morgen, Harry!»

Er blickte auf, zog seinen Hut und rief: «Oh, guten Morgen, Lucy!», als sei er ganz überrascht, sie hier zu sehen, als wäre sie nie weg gewesen und wiedergekommen, als habe nie eine besondere Freundschaft zwischen ihnen bestanden. Seine Stimme war von genau der gleichen unpersönlichen Freundlichkeit, mit der er unwichtigen Kunden oder ihren Frauen begegnete. Sie hätte ein Mädchen von einer Farm sein können, auf der eine Hypothek seiner Bank lag, die er nur allzu gerne wieder losgeworden wäre. Und seine Augen schienen sie wie durch dicke Brillengläser anzustarren, obwohl er keine Brille trug. Scharfe, blitzende, blassblaue Augen, so kalt wie Eiszapfen. Er war ihr gegenüber nicht förmlich, sondern vollkommen unverbindlich, und so lief er aus der Post und die Straße hinab mit demselben leichten, sicheren Schritt, mit dem er früher den Baseballplatz betreten hatte, als er der beste Werfer im ganzen Plattetal gewesen war und Lucy...

Erscheint lt. Verlag 4.10.2023
Reihe/Serie Manesse Bibliothek
Manesse Bibliothek
Nachwort Alexa Hennig von Lange
Übersetzer Elisabeth Schnack
Sprache deutsch
Original-Titel Lucy Gayheart
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Alexa Hennig von Lange • Autorin der Moderne • Chicago • das lied der lerche • eBooks • Liebesroman • Mehr Klassikerinnen • meine antonia • Musikroman • Neuerscheinung • Neuheiten 2023 • Pulitzer-Preis • schatten auf dem fels • sei leise, wenn du gehst • slowburn • slowburnromance • Überarbeitete Neuausgabe • US-Literatur
ISBN-10 3-641-30847-X / 364130847X
ISBN-13 978-3-641-30847-6 / 9783641308476
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