Wilde Manöver (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
288 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-30558-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wilde Manöver - Judith Keller
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
»Ich habe selten etwas so Erfrischendes, Kühnes, Lustiges gelesen.« Sa?a Stani?i?
Große Veränderungen geschehen unbemerkt: Furchtlos und mitreißend originell erzählt Judith Keller vom Ausbruch aus dem Bestehenden, der poetischen Weltverwandlung. Es ist ein wild funkelnder Roman von der Freundschaft zweier Frauen, die etwas Neues anfangen wollen. Wie aber fängt man Neues an?

Da ist etwas geschehen in einem Einkaufszentrum in der Nähe von Zürich. An einem lauen Sommerabend wird aus dem Parkhaus ein Lieferwagen entwendet, womöglich ein Drogengeschäft? Zwei junge Frauen, Vera und Peli, werden verdächtigt, doch das Verhör bringt kein Licht in die Sache, im Gegenteil: Eine Meerjungfrauenstatue im Pool, kreisförmig angeordnete Fahrräder auf den Zuggleisen, die Entführung eines Pferdes - es scheint, als hätten Vera und Peli eine ganze Reihe von Verbrechen begangen, eines unwahrscheinlicher als das andere. Die abenteuerliche Suche nach dem Zusammenhang beginnt, durch die Nacht und die Stadt, und mit ihr eine aberwitzige Erkundung unserer sich verflüchtigenden Gegenwart.

1985 in Lachen in der Schweiz geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert und war Redakteurin der Literaturzeitschrift EDIT. Für den Erzählungsband 'Die Fragwürdigen' wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.

Raum A-1 – 17b, Kantonspolizei Hauptsitz, Güterstrasse 33, 8004 Zürich

Kommissar: Felix Lombardi Beschuldigte Person: Vera Savakis

5. September 2025 

1. Vernehmung


Sie werden beschuldigt, am 30. Juli um 21:30 Uhr zusammen mit einer uns unbekannten Frau auf dem Parkdeck des Glattzentrums einen weißen Lieferwagen der Marke Mercedes entwendet zu haben.

Am 30. Juli sagen Sie? Lassen Sie mich überlegen. Es ist so viel passiert in der Zwischenzeit. Unmöglich ist es nicht.

So lange ist es ja nun auch wieder nicht her. Nur einen guten Monat. Versetzen Sie sich doch einmal in aller Ruhe an jenen Tag zurück. Manchmal braucht es etwas Geduld, bis man einzelne Erinnerungen wieder abrufen kann. Warum haben Sie den Lieferwagen entwendet?

Es war auf jeden Fall so, dass wir uns am Nachmittag mit unseren Rucksäcken auf dem Schwamendingerplatz gleich bei diesem Brunnen trafen, Peli und ich. Also es ist ja eher so eine Art Wasserspiel. Auf jeden Fall gibt es ein paar zugeschnittene Steine dort, oder ich glaube, es ist sogar nur ein einzelner, auf jeden Fall schießt da etwas Wasser in die Luft und verschwindet dann im Boden. Oder es fließt direkt am Stein in den Boden, das kann auch sein. Wir hatten uns dort verabredet, nicht zum ersten Mal.

Um welche Uhrzeit?

Ich glaube, so gegen vier Uhr nachmittags. Lange schauten wir den Schachspielern zu. Sie schoben große Schachfiguren aus Plastik vor sich her. Es nahm kein Ende mit diesem Spiel, und das bestätigte uns auf eine merkwürdige Weise. Ein paar Leute löffelten im Café nebenan einen Coup Däne­mark. Eine alte Frau untersuchte mit der Lupe einen Einkaufszettel. Ein alter Mann kam mit Möwenschritten über den Platz. Auf einer Bank saß ein anderer Mann mit einem riesigen Mexikanerhut und blickte unbewegt vor sich hin. Er sah aus, als hätte er noch viel vor. Da erst bemerkten wir, dass auch wir etwas vorhatten. Denn es gab ja kein Zurück. Das war so ein Gefühl, das wir hatten.

Warum hatten Sie dieses Gefühl?

Es war sehr heiß. Damit hatte es sicher auch zu tun. Die Hitze wallte über den Platz und wir waren durstig. Der Schweiß rann uns über das Gesicht, bei mir sammelte er sich auf der Stirn, bei Peli auf der Oberlippe, vielleicht auch umgekehrt, offen gestanden weiß ich es nicht mehr. Erinnerungen verblassen so schnell und das, was man gerade noch für unvergesslich hielt, ist im nächsten Augenblick weg. Meine Stirn auf jeden Fall glühte. Wir standen ja auch in der Sonne, die am Nachmittag noch stark auf uns herunterbrannte. Wir spürten es ganz deutlich, dass wir etwas vorhatten. Wir wussten nur noch nicht, was. Heute sieht es aus, als hätten wir alles von langer Hand geplant, aber so ist es nicht. Vielleicht hatte es auch mit unseren Wohnungen zu tun. Wir hatten ja beide die Briefe nicht geöffnet, die Anrufe nicht angenommen. Die Gläubiger konnten jeden Moment auftauchen. Da dachten wir: Schnell weg.

Sie haben die Miete nicht mehr bezahlt. Warum?

Es gab eigentlich keinen bestimmten Grund dafür. Es war eher ein Gefühl. Wir dachten wahrscheinlich, dass wir unsere Mieten schon so lange bezahlt hatten, dass wir auch einmal damit aufhören könnten. Alles nimmt ja irgendwann ein Ende, sagt man. Aber davon einmal abgesehen war eine Miete natürlich auch viel Geld, von dem wir eigentlich fast keines mehr hatten, seit wir zu arbeiten aufgehört hatten und die Auflagen des Sozialamtes nicht erfüllten.

Warum haben Sie denn zu arbeiten aufgehört?

Warum Peli aufgehört hat, weiß ich nicht genau. Einmal erwähnte sie, dass man ihr vorwarf, mit den Ladungen immer unnötig lange hin- und herzupendeln, bevor sie sie ablud. Sie sagte selbst, dass sie süchtig gewesen sei nach diesem Pendeln. Sie konnte einfach nicht anders. Damit hätte sie mehrfach Sachschäden produziert. Aber sie hatte anscheinend gute Freunde da, daran kann es nicht gelegen haben. Bei mir war es so, dass ich oft Dinge verschenkt habe. Zeitungen und Zigaretten, Lottoscheine, Magazine mit Rätseln und solche Sachen. Da sagte man irgendwann, es gebe keinen anderen Ausweg mehr.

Peli … was ist das eigentlich für ein Name?

Peli Rouge mit vollem Namen. Dann geht es wieder, finde ich. Oder? Wir sprachen eigentlich nie darüber, warum wir heißen, wie wir heißen. Das hätte ja auch nichts gebracht. Vor allem in ihrem Fall. Eher sagten wir, wann immer wir die Gelegenheit dazu hatten: Jetzt ist es so. Mit gewissen Entscheidungen, die andere getroffen haben, muss man zurechtkommen. Sonst geht man ja irgendwann kaputt.

Sie wurden zwischen dem 30. Juli und dem 3. August immer wieder mit einer weiblichen Person mit kurzen, dunklen Haaren gesehen. Handelt es sich dabei um … Peli Rouge?

Ja, wir waren in jenen Tagen oft zusammen.

Warum haben Sie die Briefe nicht geöffnet?

Ich war fast sicher, dass es sich dabei nur um Mahnungen, Drohungen und Vorladungen handelte. Solche Briefe schüchtern mich immer ein. Lieber nicht öffnen, dachte ich, denn ich lasse mich viel zu schnell auf sonderbare Forderungen ein. Darum bin ich ja auch hier.

Sie hatten am Schluss auch keine andere Wahl mehr. Was geschah, nachdem Sie Ihre Gefährtin am Nachmittag jenes 30. Juli um vier Uhr getroffen haben?

Wir standen recht lange auf dem Schwamendingerplatz herum und ließen die Sonne auf uns niederbrennen. Als es genug war, sagten wir: Genug ist genug, es wird sich zeigen. Wir banden die Schuhe enger. Der Nachmittag ging in den Abend über. Es war still im Innenhof von Schwamendingens Schulhaus, es roch nach Flieder. Vogelstimmen pfiffen in einen Beat, der aus ein paar Boxen auf einem Pingpongtisch kam. Die Kirchenglocken läuteten. Wir kamen an einem Mann vorbei, der das Christentum verkündete. Es wird immer besser, stellte Peli fest. Dann geschah etwas Wichtiges: Vor uns, über den Häusern Schwamendingens, ragte ein roter Kran in den Himmel. Das allein wäre ja noch nichts Besonderes gewesen, es geschah oft. Aber in jenem Moment, als wir diesen Kran erblickten, drehte er sich in Zeitlupentempo nach links. Wir folgten ihm mit unseren Augen, schauten uns an, nickten und gingen in die Richtung, die er anzeigte. Bei der Station Luchswiesen bückte sich eine Frau nach Zigarettenstummeln. Lassen Sie sie liegen!, riefen wir, aber sie hörte nicht auf uns. Dann kam ein Tram und sie stieg hinein. Mit einem klappenden Geräusch schlossen sich die Türen hinter ihr. Danach haben wir sie nie wieder gesehen. Wir entwickelten uns in eine andere Richtung.

Plötzlich sahen wir die Mitglieder unseres Orchesters durch das Quartier eilen. Sie trugen frisch geölte, zusammengeklappte Notenständer, die silbrig blitzten, und eckige Instrumentenkoffer. Die Flötistin eilte mit einer Thermosflasche vorbei, der Bratschist trug eine Schachtel mit Noten, und der Dirigent ging immer ein paar Schritte, blickte dann auf sein iPhone, wechselte die Richtung und deutete in eine andere. Alle trugen Rucksäcke, schauten sich suchend um. Wie wir sie so sahen, wurde uns klar, dass wir nicht zurückkonnten. Verstehen Sie? Es gab kein Zurück. Das Einzige, was es noch gab, waren die Kräne. Rote oder gelbe Kräne, deren Hälse über die Hochhäuser emporragten. Und dann den einen gelben Kran, der sich genau in dem Moment, als wir ihn ansahen, Richtung Osten wendete.

Warum dachten Sie, dass Sie nicht mehr zurückkonnten?

Man merkt, dass Sie vieles nicht wissen. Aber wie sollten Sie auch. Gerne hätten wir mit Ihnen getauscht. Aber damals kannten wir Sie ja noch gar nicht. Wir gingen also weiter. Das sanfte Abendblau hatte sich verdunkelt und war in ein leuchtendes Rot übergegangen, es war immer noch sehr warm. Vor einer Werkstatt standen drei Motorräder in einem Kreis. Es sah aus, als berieten sie sich. Gut so, sagte Peli. Der Wind bewegte sich flach den Boden entlang. Die Blätter der nahen Hecke drehten auf. Wir gingen weiter, einfach geradeaus. Da kamen wir irgendwann zu dieser breiten, viel befahrenen Brücke, die aufwärts führt zum Glattzentrum. Vom Himmel kam ein schraubendes Geräusch. Die leuchtenden Buchstaben GLATT thronten auf der anderen Seite der Brücke, hinter ihnen das beleuchtete Einkaufszentrum und der Glatt-Tower. Der Himmel war jetzt dunkelblau. Wir gingen langsam auf dem schmalen Fußgängerweg bergauf. Über uns flogen Flugzeuge durch den Himmel, neben uns fuhren Autos über die Brücke, unter uns hindurch fuhren andere Autos unaufhörlich in die Dunkelheit. Neben der Fahrbahn begann ein struppiger Streifen Wald. Die Dunkelheit, die langsam über alles kam, schien sich von dorther auszubreiten. Bäume in Scharen, ganze Familienbanden standen dort herum, niemand wusste, woher sie gekommen waren und worauf sie warteten. Ein paar Nachttiere erwachten. Zwei Vögel kreisten hoch über der Brücke, über uns. Ein Fußgänger mit hochgezogenen Schultern kam uns entgegen. Er war einer von denen, die man mit dem Zeigefinger leicht hätte vom Bild wischen können. Auch wir hatten das Gefühl, dass man uns leicht hätte wegwischen können. Die Brücke selbst aber war stabil, die Betonsäulen gewiss, die Straßenschilder hingen gut, der Asphalt war warm und das weiße Licht der Brückenbeleuchtung angegangen.

Wir erreichten das Parkplatzplateau vor dem Glatt­zentrum. Der Parkplatz war fast leer. Da war nur eine große, kräftige Frau in Shorts, die im offenen Kofferraum eines Lieferwagens saß und mit einem Ball spielte. Das Geräusch hallte bis zu den späten Gästen im Burger King. Noch ein zweites Auto stand auf dem Parkplatz. Auch dessen Kofferraum war geöffnet, ein sonnenverbrannter Mann saß neben...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Biel • die fragwürdigen • Dystopie • eBooks • Freundschaft • Neuerscheinung • Roman • Romane • Schweiz • Schweizer Autorin • schweizer literaturpreis 2024 • Tina Turner • Zukunft • Zürich
ISBN-10 3-641-30558-6 / 3641305586
ISBN-13 978-3-641-30558-1 / 9783641305581
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99