Auf den ersten Blick ist Camelford im Hinterland von Cornwall nicht der malerischste Flecken Englands. Kein Wunder also, dass die gesamte Gemeinde Kopf steht, als der bekannte, und immer noch gut aussehende, Soap-Darsteller Cosmas Pleystein ankündigt, seinen neuen Film hier drehen zu wollen. Wird Camelford bald so berühmt sein wie die Drehorte von »Game of Thrones«? Vieles spricht dagegen. Zum Beispiel, dass die Produktionsfirma das raffinierte Drehbuch ohne Wissen des Hauptdarstellers zu einer kitschigen Schnulze umgeschrieben hat. Als Pleystein von dem Verrat erfährt, flieht er Hals über Kopf vom Set. Und plötzlich sucht ganz Camelford einen Hauptdarsteller ...
H. L. Iffland wurde 1967 geboren. Nach dem Studium der Politologie, Germanistik und Romanistik war sie u.a. Praktikantin bei einer ivorischen Tageszeitung und Mädchen für alles bei einem reisenden Zeltvarieté. Sie arbeitete für Multimedia-Agenturen, Radiosender und eine Klima-NGO, bevor sie sich im Rheinland niederließ, wo sie heute lebt und arbeitet. »Willkommen in Camelford« ist ihr erster Roman
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In Berlin stand Cosmas Pleystein, gebürtiger Oberfranke, Wahl-New-Yorker und Wahl-Berliner, in Unterhosen am Fenster und telefonierte. Ja, es war wirklich der Cosmas Pleystein, und wer jetzt seufzt, ist vermutlich über vierzig. Der Schauspieler telefonierte seit einer Stunde mit seinem jungen Kollegen Bo Starck, der sich, im Gegensatz zu ihm, noch keinen Namen gemacht hatte, aber das konnte ja noch werden. In Bos Alter hatte Cosmas noch nicht einmal gewusst, dass er Schauspieler werden würde. Zur Erinnerung: Cosmas Pleystein hatte als Sechzehnjähriger die Schule und als Achtzehnjähriger eine Brauerei-Ausbildung geschmissen, um nach New York abzuhauen, wo er dank seiner juvenilen Schönheit und seiner selbst gebrauten Biere eine gewisse Berühmtheit im Village erlangt hatte, durch die er zum Kleindarsteller in Independent-Filmen aufgestiegen war. Ende der Neunzigerjahre war er nach Deutschland zurückgekehrt und hatte die Hauptrolle in Dreißigtausend Wimpernschläge gespielt, einer ambitionierten Low-Budget-Produktion, die zum Avantgarde-Kultfilm avanciert war. Allerdings – und Pleystein war der Erste, der das zugab – hatte er es aufgrund seiner künstlerischen Ehrgeizlosigkeit anschließend anstatt zum guten bloß zum gut bezahlten Darsteller gebracht. Er war als arroganter Banker, Kommissar, verzweifelter Vater, nachdenklicher Nazi und zuletzt als Hotelier in einer in Cornwall spielenden Miniserie besetzt worden. Vor annähernd zwei Jahren hatte er sich wegen einer, wie es hieß, persönlichen Lebens- und Schaffenskrise aus dem Geschäft zurückgezogen, aber nun stand er kurz vor einem glanzvollen Comeback. Pleystein selbst hätte dieses Wort nicht benutzt, denn der Film, den er sich anschickte zu drehen, stellte keine Rückkehr zum alten Pleystein, sondern eine radikale Neuerfindung dar.
Seine Fans wären übrigens überrascht gewesen, wenn sie ihn hier halb nackt in seiner Dreiraumwohnung im Osten Berlins gesehen hätten. Erstens, weil er ganz schön zugelegt hatte. Und zweitens wegen der Adresse: Pleysteins Platte lag in einer Gegend, die hässlich und rau war und voraussichtlich niemals hip werden würde, denn es gab hier keine ungenutzten, die Fantasie der Kreativen anregenden Brachen, sondern bloß eine solide Betonlandschaft aus Neun- und Elfgeschossern. Hier lebten Menschen, die für die Aura einer Altbauwohnung im Prenzlberg keinen Sinn oder kein Geld hatten. Warum auch Pleystein hier wohnte, glaubten seine Berliner Bekannten zu wissen: aus Distinktion, in Mitte wohnen konnte schließlich jeder! Oder weil ihn die Hochhausblocks an seine Anfänge in New York erinnerten. Doch in Wahrheit lebte Pleystein aus verschiedenen anderen Gründen hier, einer davon war Bequemlichkeit. Er hätte sogar behauptet, dass er hier überhaupt nicht lebte, sondern nur ein provisorisches Lager in der Wohnung seiner jüngeren Schwester aufgeschlagen hatte. Katharina Pleystein hatte wie ihr Bruder eine Zeit lang im Ausland gelebt (im Vereinigten Königreich, nicht in den Vereinigten Staaten) und war nach ihrer Rückkehr – die sich weit weniger glorreich als Cosmas’ Heimkehr gestaltet hatte – in diese Hood gezogen wie in ein fremdes Land. In ihrem Reiseblog berichtete sie davon, wie sie in Sofia’s Bar Schwedeneisbecher aß und Wodka mit vietnamesischen Zigarettenhändlerinnen trank. Pleystein hingegen kannte immer noch keinen Einzigen der – wie vielen … dreihundert, oder mehr, vielleicht eintausend? – Bewohner des Viertels persönlich. (Die tatsächliche Einwohnerzahl, die in etwa der Camelfords entsprach, hätte ihn verblüfft, aber nicht interessiert.) Bei seinem Einzug hatte er ein paar von Katis Bekannten kennengelernt, aber anschließend nie wiedergesehen. Er traf niemals Nachbarn, er fuhr mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock und verschanzte sich dort. Früher war er ohnehin oft wochenlang fort gewesen oder nur zum Schlafen hergekommen. Sein Kiez gehörte zu den am dichtest besiedelten Gegenden Berlins, doch in Pleysteins Kopf lag die Wohnung so abgeschieden, so fern von der Welt, dass er sich hier wie ein Eremit fühlte – vor allem, seitdem Kati nicht mehr da war –, und nach seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit war ihm die Wohnung ein perfekter Kokon gewesen.
Während Pleysteins Telefonat mit dem Nachwuchsstar hatte sich die Sonne von Brandenburg her über die Wohntürme gehievt und eilte nun weiter Richtung Zentrum. Versonnen rieb sich der Schauspieler mit der Hand über den Bauch. Das Gespräch mit Bo Starck war seit Wochen überfällig gewesen, nun kam es ihm zugleich verspätet und zu früh dafür vor. Es war das erste Gespräch, das er in seiner heiklen Doppelfunktion als Kollege und Co-Produzent führte. Es lief erfreulicher als erwartet und dauerte mittlerweile schon doppelt so lang wie geplant. Etwas Ähnliches schien auch Bo Starck zu empfinden, der jetzt, lauter und mit mehr Betonungen als notwendig, ausrief: »Krass, wie ausführlich du mit mir über meine Figur, ich meine, über unsere Figur, gesprochen hast. Hans erinnert mich irgendwie voll an meinen Opa, obwohl, ich glaub, der war im Krieg bloß Flakhelfer, ach egal, trotzdem …«
Die beiden Männer hatten ausführlich über Kan Werin gesprochen, das Filmprojekt, mit dem Cosmas Pleystein sich neu erfinden würde. Die Handlung des Films war teils in den Sechzigerjahren, teils kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (oder zu Beginn, so genau nahm Pleystein es nicht) in Cornwall angesiedelt. In der Rahmenhandlung befindet sich ein Deutscher namens Hans, gespielt von Pleystein, auf einer Art Pilgerreise durch Cornwall. Hans wandert seit Jahren in Etappen den nördlichen Coastal Pathway ab, weil er auf der Suche nach einem ganz bestimmten Pub ist, der irgendwo an dieser Küste liegen muss. Im Ohr hat er ein ganz bestimmtes Volkslied – keltisch »Kan Werin« –, das er in den Dreißigerjahren dort gehört hat. In Rückblenden wird vom jungen Hans (Bo Starck) erzählt, der während des Zweiten Weltkriegs Teil einer U-Boot-Besatzung ist, die die südenglische Küste nach geeigneten Stellen für eine deutsche Landung ausspioniert. Doch anstatt Strände, Straßen, Brücken und Armeeposten auszukundschaften, folgt der junge Matrose lieber dem verführerischen Duft von Hopfen bis zu einem Pub. Versteckt zwischen Bierfässern, durstig, bibbernd vor Angst, Kälte und Sehnsucht, beobachtet er die Trinker, hört sie lachen und singen. Fasziniert kommt er Nacht für Nacht wieder, um dem Gesang der Engländer zu lauschen. Während er für die Nazis Fantasielandkarten zeichnet, nimmt er sich vor, nach dem Krieg hierher zurückzukehren. Doch es dauert ein halbes Jahrhundert (Hans ist im U-Boot-Krieg versenkt, gerettet und wieder auf See geschickt worden, hat eine Frau geheiratet und sie später beerdigt), bis er es wirklich wieder nach Cornwall schafft und den Pub findet. Eine wahre Geschichte, schlicht und bewegend.
»Gut. Dann sag ich mal: auf Wiedersehen in Cornwall, Bo.« Pleystein spürte die Vibration seiner eigenen, berühmten sonoren Stimme im Telefon. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal freiwillig da drehe …« Er lachte. »Du weißt natürlich, dass das Original-Drehbuch von meiner Schwester Kati ist?«
Pleysteins Schwester Katharina war dem sehnsüchtigen, alten U-Boot-Matrosen in ihrer wilden Englandzeit in den Nullerjahren wirklich begegnet. Seine Geschichte hatte sie nicht losgelassen. Was hatte einen alten Mann dazu bewogen, eine solche Pilgerwanderung auf sich zu nehmen, um am Ende ein Glas Bier mit Blick aufs Meer zu trinken? Jahre später, in Berlin, hatte sie schließlich ein Drehbuch daraus gemacht.
»Mhm, als ich gehört hab, dass du nicht nur mitspielst, sondern dass du und deine Schwester Co-Autoren und -Produzenten seid – Wahnsinn! Vielleicht wird ja so was Crazyes wie die Dreißigtausend Wimpernschläge daraus. Ich jedenfalls bin zu allem bereit und mache …«
Langsam wurde Pleystein hungrig, er brauchte eine Dusche und einen Kaffee und hoffte, Bo würde nicht merken, dass ihm nicht mehr die volle Aufmerksamkeit zuteilwurde.
»… Sprung ins kalte Wasser. Mensch, wenn ich mir vorstelle – ich kenne ja keinen von euch, mal abgesehen von Philipp und so von Orion Film. Aber die haben mir so von dir vorgeschwärmt. Und ich vertrau jetzt einfach mal auf meinen Bauch. Mischen wir zusammen Rosamunde-Pilcher-Land auf! Wir sehen uns im April!«
Pleystein verabschiedete sich ebenso überschwänglich. Dann ließ er das Handy aufs Sofa fallen und tanzte einen kurzen Two-Step in die winzige Küche – Kati und er waren stolz auf die originale DDR-Ausstattung –, um sich einen Espresso zuzubereiten. Der alte Kunststoffboden fühlte sich warm und leicht klebrig unter seinen Fußsohlen an. Er fragte sich, was Bo wohl mit »Wiedersehen im April« gemeint hatte, denn der Dreh startete schließlich erst im Juni. In das Brausen der Düsen hinein musste Pleystein grinsen. Starck war nett, aber eine hohle Nuss. Vermutlich war er selbst mit zwanzig, oder wie alt Bo auch immer war, genauso gewesen. Er kippte den Kaffee im Stehen hinunter, um gleich darauf seinen Agenten anzurufen.
»Cosmas! Wie ist es mit Starck gelaufen?«
»Gut. Perfekt. Danke, dass du das vermittelt hast, Mark. Er ist absolut liebenswürdig, wie du gesagt hast.«
»Philipp meint, er sei Feuer und Flamme, mit dir zusammenzuarbeiten …«
Pleystein rekelte sich geschmeichelt und begann wieder, die Härchen auf seinem Bauch zu kraulen. »Den Eindruck hatte ich auch. Bo erwähnte übrigens einen Termin im April. Steht davon irgendwas in meiner Agenda?«
»Keine Ahnung, soweit ich...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Berlin • Britischer Humor • cosmas pleystein • eBooks • englische Kleinstadt • englische Satire • Filmdreh • Hofer Filmtage • Kleinstadtleben • König Arthur • Kunst • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Provinzroman • Roman • Romane • Schauspieler |
ISBN-10 | 3-641-29822-9 / 3641298229 |
ISBN-13 | 978-3-641-29822-7 / 9783641298227 |
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