Unsereins (eBook)
496 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00683-6 (ISBN)
Inger-Maria Mahlke wuchs in Lübeck und auf Teneriffa auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und arbeitete dort am Lehrstuhl für Kriminologie. 2009 gewann sie den Berliner Open Mike. Ihr Debütroman Silberfischchen wurde ein Jahr später mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichnet. Für einen Auszug aus ihrem Roman Rechnung offen bekam sie beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis den Ernst-Willner-Preis zugesprochen; 2014 erhielt sie den Karl-Arnold-Preis der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Ihr Roman Wie Ihr wollt gelangte unter anderem auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises, den sie 2018 für den Roman Archipel dann erhielt.
Inger-Maria Mahlke wuchs in Lübeck und auf Teneriffa auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und arbeitete dort am Lehrstuhl für Kriminologie. 2009 gewann sie den Berliner Open Mike. Ihr Debütroman Silberfischchen wurde ein Jahr später mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichnet. Für einen Auszug aus ihrem Roman Rechnung offen bekam sie beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis den Ernst-Willner-Preis zugesprochen; 2014 erhielt sie den Karl-Arnold-Preis der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Ihr Roman Wie Ihr wollt gelangte unter anderem auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises, den sie 2018 für den Roman Archipel dann erhielt.
II Unwasser und Regenschein
Februar 1890
1 Nachforschungen – oder doch Ermittlungen? Ganz sicher ist Georg nicht, welches die richtige Bezeichnung ist. Das Etikett des Journals hat er vorerst leer gelassen. Gustav hat er gesagt, sie sollen nicht mehr auf ihn warten nach dem Unterricht, auch wenn die Pastete droht, sie werde mit Mutter sprechen, sollte er erneut zu spät zum Essen kommen. Die Hausaufgaben sind ein Problem, entweder er erledigt sie vollständig mit den anderen Pensionären nach den Mahlzeiten unten am Tisch oder gar nicht. Die Toiletten-Pausen dienen ihm mittlerweile ausschließlich zum Spionieren. Erkundungsmission, nennt er es still bei sich.
Es ist kompliziert. In der Vielleicht-Spalte der Mitglied im Fechtclub?-Tabelle, die er auf den letzten beiden Seiten des Journals angelegt hat, ist höchstens eine Handvoll Namen übrig. Er weiß ungefähr, wer dazugehört und wer nicht.
«Bist du sicher, dass es nicht nur eine von ihren Saufgruppen ist?», hatte Gustav gefragt.
Georg ist sicher. Es gibt ein Grafennest. Es gibt Kämpfe. Verwundete. Einer der jungen Grafen hat montags ein verbundenes Ohr, ihm fehlt das Läppchen. Hansen kurz darauf einen Schnitt in der Wange, ebenfalls unter Mullbinden, die er bei den Waschbecken abwickelt, um ihn vorzuführen. Grautoff, Ottos Bruder, ein blaues Auge.
Der Feind sind die Schwarzsilbernen. Eigentlich. Doch dann beginnt das Gerede über eine gemeinsame Aktion gegen die Lumpen. Die «alles bedrohen, was uns heilig ist», wie Buchenberg erbost feststellt. Meist aber reden sie denselben Unsinn wie immer. Josephine. Die Lehrer. Wer wie viel getrunken und wer auf dem Heimweg wo hingekotzt hat.
Ewers liest seitenweise aus den Briefen des Königs von Tittisee vor. Reizende Beinlichkeiten –Johlen. Damentrompeterkorps – Johlen. Mein armer Bruder Tomy. Lass ihn nur erst in das Alter kommen, wo er unbewacht und bemittelt genug ist, seine Pubertät zum Ausdruck zu bringen. ’ne tüchtige Schlafkur mit einem leidenschaftlichen, noch nicht allzu angefressenen Mädchen, das wird ihn kurieren. – Johlen.
Manchmal hört Georg auch nichts als Wasserfall. Wenn in einer Kabine die Spülung läuft, weil irgendein Idiot die Kette festgebunden hat und das Rauschen alles übertönt. Manchmal werden die Korridorgeräusche lauter, weil die Tür aufgeht und alle unvermittelt still sind. Bis sie: «Es stinkt!» rufen und Geräusche machen, als müssten sie erbrechen. Hans, heißt das gewöhnlich, der älteste Sohn des Apothekers von der Puppenbrücke, hat die Primanertoilette betreten. «Ähhhh, Knoblauch!», rufen sie auch manchmal.
«So spricht nur der Pöbel», sagt Mutter.
«Und Großvater in Mehlitz», hatte er einmal entgegnet, und sie musste ihm beipflichten.
Die Glocke vibriert zum zweiten Mal, die Stunde beginnt, aber Lindhorst und einer, den Georg nicht kennt, sind noch immer bei den Waschbecken.
«Wofür interessiert Fanny sich?»
«Meine Schwester? Das Übliche.»
«Älter als du?»
«Ja.»
«Wie viel älter?»
«Hör auf, das gibt nur Ärger bei uns zu Hause.»
«Ich frag ja nur.»
«Hör auf zu fragen.»
Und dann ist Stille, und endlich quäkt die Türangel.
Jedes Fach ein Territorium, ein Reich, mit einem Herrscher, der es nach seinem Gutdünken gestaltet. Die Klasse steht, Hände an der Hosennaht, in den Bankreihen, als Georg die Tür öffnet. Ordinarius Lange lehnt mit verschränkten Armen am Pult. «Nur herein, nur herein», sagt Lange, und es klingt fast freundlich. Georgs Ohren und Schultern bewegen sich automatisch aufeinander zu, sein Kinn in Richtung Hals. Ordinarius Lange prüft breit, wie er es nennt, und stellt sich dabei hinter einen. «Du scheißt aber dünn, mein Kind», sagt er, wenn man falsch antwortet. Er schlägt mit der flachen Hand zu, trifft meist nur Schultern und Hinterkopf. Es scheint ihm gleich zu sein.
«Verzeihung, ich –» Ordinarius Langes Blick lässt Georg verstummen und geduckt zu seinem Platz schießen.
«Noch mal!»
«Guten Morgen, Ordinarius Lange!», ruft die Klasse im Chor. Anscheinend war die Begrüßung zuvor unzureichend gewesen.
Der Ordinarius nickt. Hinsetz-Gepolter. Georg holt eilig Buch und sein bedauerlicherweise hausaufgabenloses Heft aus dem Ranzen, und einen Moment lang hofft er davonzukommen. Doch Lange nimmt etwas vom Lehrerpult, einen Umschlag. Er hält ihn kurz in der Hand, als würde er noch abwägen, ehe er sich in Bewegung setzt, und zwar eindeutig in Georgs Richtung. Jeder Schritt gut zu hören in der entstandenen Stille, Sand knirscht unter seinen Sohlen. Georg kann die Pultkante spüren. Mit einem Mal drückt sie gegen seine Brust.
Der Lehrer ist hinter ihm stehen geblieben, ragt über ihm auf. Doch das sieht Georg nicht, Georg sieht nur noch einige Kratzer im dunklen Holz und jede Menge Tintenflecken. Die Klasse stumm. Doch statt auszuholen und zuzuschlagen, legt Lange etwas vor ihn auf die schwarzen Spritzer. Schweigend tut er das und langsam und nachdrücklich. Einen Briefumschlag. An Mutter adressiert, stellt Georg fest, als das Sandknirschen unter Langes Sohlen anzeigt, dass er sich auf den Weg zurück zur Tafel macht, und er wagt, den Blick ein wenig zu heben.
2 Gewöhnlich endet Isenhagens Dienst an Freitagen mittags, wenn der letzte Senator das Rathaus verlassen hat. Spätestens um zwei Uhr sitzt er zu Hause über aufgewärmtem Eintopf und steht nicht, wie heute, mit gefalteten Händen neben der Tür zur Kriegsstube, mittlerweile unauffällig gegen deren Rahmen gelehnt. Gewöhnlich sind die Reichstagswahlen im Rathaus auch nur ein fernes Getümmel.
Ist das Problem der konservativen Partei gelöst, einen Kandidaten zu finden (die Unkostenpauschale deckt nicht einmal den Morgenkaffee der in Frage kommenden Herren, die Reisen nach Berlin stören die Geschäfte und außerdem: plebejisch), folgen gewöhnlich ein, zwei Reden bei den Gemeinnützigen und der Handelskammer, den Rest erledigen Die Blätter und ein paar Dutzend Wahlplakate.
Gegenkandidaten: der eine oder andere Freisinnige.
Und seit vierzehn Jahren zuverlässig: Theodor Schwartz. Der unabhängige Kandidat. Einstmals Arbeiter (Metall), einer, den keiner mehr einstellen wollte, obwohl er ein ausgezeichneter Former ist. Der als Schiffsjunge anheuern musste, um nicht zu verhungern, und wider Erwarten – Unfall, Sturm, seltsames Fieber – zurückkehrte. Als Schiffskoch. Als ausgezeichneter Schiffskoch, der bald Wirt des Austernkellers im Hamburger Hof geworden war. Bis zur Kündigung des Pachtvertrags vor wenigen Wochen. Mit seinem grauen Mantel und hängendem Bart ist Theodor Schwartz fester Bestandteil der humoristischen Scharaden und Spottgedichte, die der Nachwuchs in den großen Häusern zu Silvester nach dem Dinner aufführt. Mit Feder und Papier als Requisiten, seit es heißt, Schwartz sei unter die Schriftsteller gegangen.
«Doch Obacht!» Senator Rittschers Stimme hallt zwischen der Nussholztäfelung. Gewöhnlich finden Senatsrunden unter Vorsitz des Polizeidirektors nur vierteljährlich statt – Streikposten, Kontrollmädchen, Toiletteneimerbeschwerden –, gewöhnlich lassen die meisten hohen Herren sich im Vorfeld entschuldigen.
Doch: Überall tauchen die Schwartz’schen Wahlzettel auf. (Das kann Isenhagen bestätigen, er hat seinen bereits seit Wochen.) Wer sie drucke und verteile? Unbekannt.
«Na, der Arbeiterbildungsverein.»
Nicht nachweisbar. Trotz Durchsuchungen, Incognito-Ermittlern und Entlohnung für Hinweisgeber. Und selbst mit dem Sozialistengesetz ließe sich nur dagegen vorgehen, wenn nachgewiesen werden könnte, dass der unabhängige Kandidat für die Sozialisten antritt.
Dass er auf sämtlichen schwarzen Listen steht?
Könne man schlecht der Staatsanwaltschaft vorlegen. Solche Listen gebe es ja nicht.
Mittlerweile haben sie so häufig im Morgengrauen an die Tür in der Alsenstraße geklopft, dass das Polizeiamt sich ebenso gut mit der beweglichen Habe des Schwartz’schen Haushalts auskennt wie die Hausfrau. Die, im Übrigen, auffällig höflich sei. Und gefunden wurde: nichts. Keine verbotenen Zeitungen, keine Flaggen, Abzeichen, keine Pamphlete, Bücher, wenn man von einigen Bänden Stadtgeschichte absieht, die der Staatsanwalt bedauerlicherweise für unbedenklich erklärt hat.
Die Disziplin der Menge, wenn Schwartz spricht, ihre Ruhe, sei furchteinflößend. Die schlimmste Sorte Ruhe, zuversichtliche. Keine verbotenen Parolen, keine verbotenen Lieder, nicht einmal zwischen den Zähnen Gezischtes können die unter die Zuhörer gemischten Mitarbeiter berichten.
Wie sei es denn vorher gewesen?
Mühsam unterdrückte Wut.
Aber das sei doch eine erfreuliche Entwicklung.
Senator Rittscher schüttelt den Kopf, er fürchte, nein.
Es ist bereits dunkel, als Isenhagen sich auf den Heimweg macht. Kalt ist es geworden. Statt in Richtung Braunstraße zu gehen, biegt Isenhagen, Atemwolken vor sich herschiebend, in Richtung Mühlentor ab. Er ist auf dem Weg in die Vorstadt, einen Topf und Erde kaufen.
Isenhagens Steckling hat sich als problematisch erwiesen, sein Wachstum einige seltsame Wendungen genommen, die eine wiederholte Begutachtung durch Mathilde Helms notwendig machten. (Erkenntnis a. gelbe Blattspitzen, während sich Wurzeln bilden, sind normal. Und b. Ganz sicher, die weißen Fäden sind Wurzeln.) Nun steht der...
Erscheint lt. Verlag | 14.11.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Antisemitismus • Archipel • Bücher Neuerscheinungen 2023 • Buddenbrooks • Bürgertum • Depression • Deutsche Literatur • Deutscher Buchpreis • Deutscher Buchpreis 2018 • Deutsches Kaiserreich • Familienleben • Familienroman • Feministische Literatur • Frauenschicksal • George-Kreis • Gesellschaftsroman • Hanse • Heinrich Heine • Hilary Mantel • Identität • Karen Duve • Katharineum • Klasse • Klassengesellschaft • Kolonialgeschichte • Lektorin • Literaturgeschichte • Lübeck • Mutterschaft • Riga • Spiegel Bestseller-Autorin • Stadtgeschichte • Thomas Mann • unerzähltes Frauenleben • von Stauffenberg • Zeitgenössische Literatur • Zugehörigkeit |
ISBN-10 | 3-644-00683-0 / 3644006830 |
ISBN-13 | 978-3-644-00683-6 / 9783644006836 |
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