Drifter (eBook)

Roman | Shortlist Deutscher Buchpreis 2023
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2023 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01513-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Drifter -  Ulrike Sterblich
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«Das ist ein Erweckungsbuch. Man schreibt sich Sätze heraus, um sie auswendig zu lernen und dann ständig vor sich hin zu murmeln. Das reinste Vergnügen!» Karen Duve Wenzel und Killer sind Freunde seit Ewigkeiten und stehen mitten im Leben, Killer als PR-Chef einer großen Firma, Wenzel betreut die Social-Media-Kanäle eines TV-Senders. Doch alles ändert sich, als Vica in ihr Leben tritt: eine Frau in goldenem Kleid, meist begleitet von zwei treuen Adjutanten und einem riesigen Zottelhund. Mit jeder Begegnung ploppen neue Fragen auf: Woher weiß sie so viel über Wenzel und Killer? Wieso besitzt sie ein Exemplar des neuen Buchs von Drifter, einer ominösen Schriftstellerfigur, obwohl es überhaupt noch nicht auf dem Markt ist? Und wo hat ihr Hund das Tanzen gelernt? Als Vica schließlich auch noch den Wohnblock ihrer Kindheit in Beschlag nimmt, gerät die Welt der beiden Freunde ins Wanken. Virtuos, ja geradezu fantastisch erzählt Ulrike Sterblich von zwei Freunden, deren Wirklichkeit sich zunehmend verschiebt.

ULRIKE STERBLICH, Politologin und Autorin aus Berlin, lebt weiterhin in ihrer Heimatstadt, wo sie auch als Gastgeberin der Talk- und Lesebu?hne «Berlin Bunny Lectures» bekannt wurde. 2012 erschien ihr erfolgreiches Mauerstadt-Memoir «Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt», u?ber das Wolfgang Herrndorf urteilte: «Zarter, liebevoller, staunender wurde selten eine Jugend, eine Stadt und beider Verschwinden beschrieben.» 2021 veröffentlichte Ulrike Sterblich ihr Romandebüt «The German Girl», ihr zweiter Roman «Drifter» stand 2024 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

ULRIKE STERBLICH, Politologin und Autorin aus Berlin, lebt weiterhin in ihrer Heimatstadt, wo sie auch als Gastgeberin der Talk- und Lesebühne «Berlin Bunny Lectures» bekannt wurde. 2012 erschien ihr erfolgreiches Mauerstadt-Memoir «Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt», über das Wolfgang Herrndorf urteilte: «Zarter, liebevoller, staunender wurde selten eine Jugend, eine Stadt und beider Verschwinden beschrieben.» 2021 veröffentlichte Ulrike Sterblich ihr Romandebüt «The German Girl», ihr zweiter Roman «Drifter» stand 2024 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Der Blitz


Das erste Mal sah ich sie in der S-Bahn. Sie saß uns gegenüber, als Killer und ich an diesem verwünschten Tag rausfuhren zur Pferderennbahn.

War so eine Schnapsidee von ihm gewesen, wortwörtlich, als wir anstießen auf seine Beförderung. «Warst du schon mal beim Pferderennen?», hatte er gefragt, und ich hatte gesagt: «Glaube nicht.» Ich hatte schon so viele Filme mit Pferderennszenen gesehen, dass ich mir nicht hundertprozentig sicher war, woher all diese Bilder kamen, ob nicht eines davon vielleicht doch erlebte Erinnerung war.

Killer stieg gerade auf zum PR-Chef bei diesem Lebensmittelgiganten, für den er da arbeitete. «Dann bin ich PR-Direktor anstelle des PR-Direktors!», verkündete er, und tatsächlich war es eine unverschämt steile Karriere, ein echter Killer-Erfolg. Im Grunde nicht anders zu erwarten natürlich. Vorher war Killer bei einem Getränkehersteller gewesen, wo er auch schon einen zügigen Aufstieg hingelegt hatte, aber für seinen Geschmack eben nicht zügig genug, außerdem hielt er seinen dortigen Chef für unfähig und hatte sich munter mit ihm angelegt. Es fiel ihm nicht schwer, sich daraufhin umzuorientieren, und beim neuen Arbeitgeber hatten sie das Killer-Potenzial sofort erkannt.

In spendabler Feierstimmung hatte Killer am Fahrkartenautomaten ein Gruppen-Tagesticket für uns beide gelöst, wo doch zwei Einzeltickets gereicht hätten, so ging das schon mal los («Geben Sie mir Ihr bestes Ticket», hatte er zum Automaten gesagt).

Und dann, in der S-Bahn, sah ich sie also. Schwer zu sagen, was mir zuerst auffiel: der absurd riesige Zottelhund mit dem glitzernden Halsband, der zu ihren Füßen saß, ihr langes goldenes Kleid oder das Buch, in dem sie eher nachlässig herumblätterte, als darin zu lesen. Entscheidend war wohl das Gesamtensemble, mit Kleid und Hund als Hingucker, ohne die ich auf das Buch vielleicht gar nicht geachtet hätte. Das Buch aber war das Spektakel. Es war ein mir unbekanntes Buch von Drifter, der Titel lautete Elektrokröte. Ich sah ganz genau hin, ich starrte, kniff die Augen zusammen. Es gab keinen Zweifel – «K:B Drifter» stand auf dem Cover und auf dem Buchrücken ebenso. Illustriert war es nicht mit einer Kröte, wohl aber mit einem kleinteiligen elektrischen Schaltkreis, wie aus dem Inneren eines konventionellen HiFi-Verstärkers, fotorealistisch gemalt. Ein sehr schönes Cover. Elektrokröte. Das klang nicht nach Drifters sonstigen Titeln, von denen es bislang drei gab: Hätte ich was zum Anziehen, würde ich gern mal ausgehen, Endlich zeigst du dein wahres Gesicht, Kassierer und Der Shitstorm gegen die heilige Johanna. Damit kannte ich mich aus. Der Anblick verwirrte mich sehr. Wie konnte ein neuer Drifter in den Handel gelangt sein, ohne dass ich und meine ganze Drifter-Bezugsgruppe etwas davon mitbekommen hatten?

Mein Blick wanderte zu dem Hund, den ich seltsam anrührend fand. Ich hatte keine Ahnung, was für einer das war. Bei Hunden konnte ich nur die prominenten Standards zuordnen (Dackel, Pudel, Schäferhund), und der da gehörte zu keiner mir bekannten Kategorie. Er war groß wie eine Riesendogge (okay, Dogge konnte ich auch noch), aber komplett anders, ein freundliches Zottelvieh, mehr Lama als Hund eigentlich, und seine Größe schien ihm selbst unangenehm zu sein, als wollte er sich lieber klein machen, mit leicht bekümmertem Blick, der sagte: «Kann ich doch auch nichts für.» Besonders eindrucksvoll waren seine langen, tollpatschigen Pfoten, mehr überdimensionierte Hasenläufe als Hundefüße.

Ein paar Tage später fand ich es schwierig, mich zu erinnern, ob sie eher Mitte zwanzig war oder Ende vierzig oder irgendwas dazwischen. Sie hatte diese jugendliche Alterslosigkeit, die Verrückte oft haben. Womit ich nicht sagen möchte, dass Vica verrückt war. Nicht im konventionellen Sinne verrückt jedenfalls. Groß und athletisch war sie, mit einem dunklen Pagenschnitt und grünem Silberblick. Silberblick zum goldenen Kleid. Über dem goldenen Kleid trug sie ein schwarzes Jackett.

Irgendwann schaute sie auf. Sah mich direkt an, zumindest mit dem rechten Auge, beim linken wusste man nicht genau, es führte ein Eigenleben, ich würde sagen, sie schaute freundlich interessiert, wie man ein putziges Tierchen ansieht. Ich wollte etwas sagen oder eher fragen, nach dem Buch natürlich, da rief aber Killer schon: «Komm, wir müssen raus», und zog mich vom Sitz. Ihr Blick verfolgte diese kleine Szene, und bevor wir ausstiegen, zeichnete sie mit dem Finger von unten nach oben etwas in die Luft.

Ich bin mir ganz sicher, es war ein Blitz.

Durch flirrendes Licht und steigende Temperaturen schlenderten wir über eine breite Allee Richtung Rennbahn. Vor uns alberte eine Gruppe von drei Mädchen in bunten Kleidern und mit Hüten herum, und ich ärgerte mich, kein Foto von dem Buch gemacht zu haben. Die Mädchen blieben immer wieder stehen, um über ihre Hüte zu lachen, Hüte zu tauschen, sich mit Hüten zu fotografieren, sodass sich unser Abstand zu ihnen kontinuierlich verringerte, wir zu ihnen aufschlossen. Killer stieß mich in die Rippen und sagte: «Ich mag die Hellblonde und du?»

«Sie nerven mich alle sechs.»

«Wenzel, jetzt komm.»

«Wird man auch ohne Hut auf die Rennbahn gelassen?», rief Killer ihnen zu.

Die Mädchen sahen sich an, machten Gesichter, eine kicherte und rief: «Nein!»

«Nur wenn man mitrennt», sagte die Hellblonde.

«Mitrennt?», fragte Killer. «Als Pferd?»

«Ja, genau. Als Pferd.»

«Na, das is ja eine spaßige Idee.» Wieder stieß er mich an. «Vielleicht ja was für dich, Wenzi?»

Ich hatte keine Lust, mich angesprochen zu fühlen.

«Sieht nicht so aus, als ob dein Freund ein Pferd sein will», gackerte eine andere, und Killer, alte Labertasche, die er war, legte seinen Arm um meine Schulter und sagte: «Er hat nur bisschen Liebeskummer. Ihr müsst mir helfen, ihn mal abzulenken!»

Die Wahrheit ist, dass ich komplett versunken war in dem bisschen Liebeskummer, dass kein Teil von mir noch hervorlugte aus dem sumpfigen Selbstmitleid, in dem ich verzweifelt herumruderte zu dieser Zeit. Ich wachte morgens auf, und mein erster Gedanke war: Pissekacke. Im Schlaf hatte ich alles so schön vergessen, im Schlaf hatte eine andere Realität mein Bewusstsein übernommen, ich hatte perfiderweise sogar besonders schöne Träume in dieser Zeit. In diesen Träumen hatte ich das Gefühl, durch eine Welt voller Möglichkeiten zu wandern. Morgens rutschte ich dann nach ein paar wenigen Übergangsmomenten aus der gnädigen Amnesie zügig und direkt wieder zurück in den Sumpf. («In den schönen Zeiten ist das morgendliche Erwachen das Schönste am Tag. In den schlimmen ist es das Schlimmste», schreibt Drifter in Hätte ich was zum Anziehen.)

Um uns alle bei Laune zu halten, organisierte Killer gleich zwei Flaschen Sekt und setzte Geld auf irgendein Pferd, natürlich «auf Sieg». Das Geld verlor er. Nach dem ersten Glas Sekt strengten mich unsere Begleiterinnen noch mehr an als vorher schon, aber nach dem zweiten oder dritten ging’s. Die Sonne schmetterte freigiebig Licht und Hitze, der Himmel irisierte tiefblau, ein Blau, wie man es selten sieht in unseren Breiten, ein griechisches, ägäisches Blau. Darunter rannten die Pferde beharrlich im Kreis, sie manisch antreibende schmale Männlein auf ihren Rücken, immer und immer wieder. Ein Rennen glich dem anderen: Die Pferde liefen los, einige waren schneller als andere, eines am Ende das Schnellste, das Feld fächerte sich auf, manchmal fiel eines ganz weit zurück. Wir setzten auf Namen, die uns gefielen oder genau nicht gefielen, auf Spandau Loreley, Tropicana, und Doctor Mabuse. Eine unserer Begleiterinnen gewann 70 Euro mit Tarantino, einem überambitionierten Schimmel, der loslegte, als hätte er persönlich irgendetwas davon. Killer und ich verloren konsequent unser Geld, alles, was wir dabeihatten, ich achtzig, er etwas mehr als zweihundert Euro, der Rest ging für die Getränke drauf, drei Flaschen Sekt und noch ein paar Biere. Ein paar Wolken erschienen wie Störenfriede in dem griechischen Blau, sie bewegten sich schnell, auf Krawall gebürstet.

«Guckt mal dahinten», sagte die Hellblonde, von der Killer zwischenzeitlich bemerkt hatte, dass sie als Comicfigur ein Fisch wäre. Es war Killers spezielles Talent, Menschen einer Comicfigur oder einem Tier zuzuordnen. (Ich war seiner Meinung nach Daffy Duck, was ich bis auf mein leichtes Lispeln nicht nachvollziehen konnte, aber alle, die es hörten, fingen nach einem Augenblick des Erstaunens an zu lachen: «Stimmt, jetzt sehe ich es auch, du bist Daffy Duck!») Dahinten hatte sich jedenfalls eine finstere Wolkenfront aufgetürmt, ein Monster von einem Unwetter, wie es aussah, ein fast schon erhabener Anblick. Killer war begeistert.

Da entstand plötzlich Unruhe auf der Rennbahn. Zwei Pferde waren kollidiert und gestürzt, schnell wurde ein Sichtschutz aufgestellt, hinter dem die Tiere wohl verarztet wurden. «Oh nein!», rief der hellblonde Fisch, und Killer legte seine Hand auf ihre Schulter und meinte: «Die werden sicher wieder fit gemacht.»

«Mitnichten»,...

Erscheint lt. Verlag 18.7.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2023 • Buch für den Urlaub • Buchpreis Longlist • Buchpreis Longlist 2023 • Buchpreis Nominierung • Buchpreis Shortlist 2023 • Deutsche Gegenwartsliteratur • Deutsche Literatur • Deutscher Buchpreis Shortlist 2023 • Deutsche Romane • Deutscher Popliteraturpreis • Deutschsprachige Literatur • Fantasie • Freunde • Freundschaft • Freundschaft fürs Leben • Freundschaftsroman • Gegenwartsliteratur • Gesellschaft • Gesellschaftsroman • gute unterhaltung • höfliche paparazzi • influencerin • In Plüschgewittern • Karen Duve • Kindheitserinnerung • Klassismus • Lebenslange Freundschaft • Lesespaß • literarischer Roman • Literatur neu • Männerfreundschaft • Neu 2023 • Phantasie • Romane Neuerscheinung • Romane Neuerscheinung 2023 • Social Media • Sommerbuch • Strandlektüre • Sybille Berg • Trickster • tschick • Unterhaltung • Urlaubslektüre • Urlaubsroman • Wolfgang Herrndorf • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-01513-9 / 3644015139
ISBN-13 978-3-644-01513-5 / 9783644015135
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