Die Details (eBook)

Roman | Nominiert für den International Booker Prize 2024

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
144 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01543-2 (ISBN)

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Die Details -  Ia Genberg
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Ein Roman über die Freundschaften unseres Lebens, queere Liebe und die Beziehungen, die uns prägen - von Ia Genberg, Augustpreisträgerin und eine der markantesten Stimmen der skandinavischen Gegenwartsliteratur. Was wären wir ohne einander? Welche Begegnungen machen uns zu denen, die wir sind? Und was bleibt, wenn wir einander verlieren? Eine Frau liegt mit hohem Fieber im Bett und denkt an vier Menschen zurück, die ihr Leben geprägt haben: Johanna,mit der sie eine stürmische Beziehung hatte. Niki, die irgendwann spurlos verschwand. Alejandro, eine leidenschaftliche Liebe ohne Zukunft. Und Birgitte, ihre Mutter, die ein schmerzhaftes Geheimnis mit sich trug. Ein funkelnder Roman über die Details, die unser Leben ausmachen. Ausgezeichnet mit dem renomierten schwedischen Literaturpreis Augustpris und nominiert für den International Booker Prize 2024. «Dieser bewegende Roman entfaltet sich in vier Einzelporträts, die zusammen ein scharfes, ergreifendes Bild der Hauptfigur ergeben. Ia Genberg verwischt die Grenzen zwischen Autofiktion und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zwischen dem Ich und dem Anderen. Genau die wundersame Art von Roman, der mit unseren persönlichen Erinnerungen verschmilzt und Teil von uns wird.» Hernan Díaz

Ia Genberg, geboren 1967, lebt in Stockholm und arbeitet als Journalistin, Autorin und Krankenschwester. Sie war Lektorin und hat kreatives Schreiben unterrichtet. Die Details ist ihr vierter Roman und erscheint in 28 Ländern. Ia Genberg wurde dafür mit dem Augustpris, dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis, sowie dem Aftonbladet-Literaturpreis ausgezeichnet. 

Ia Genberg, geboren 1967, lebt in Stockholm und arbeitet als Journalistin, Autorin und Krankenschwester. Sie war Lektorin und hat kreatives Schreiben unterrichtet. Die Details ist ihr vierter Roman und erscheint in 28 Ländern. Ia Genberg wurde dafür mit dem Augustpris, dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis, sowie dem Aftonbladet-Literaturpreis ausgezeichnet.  Stefan Pluschkat, geb. 1982 in Essen, studierte Komparatistik und Philosophie in Bochum und Göteborg. Er übersetzt Romane, Kinder- und Sachbücher aus dem Schwedischen und Norwegischen und erhielt 2018 den Hamburger Förderpreis für Übersetzung.

II Niki


Es war einmal sehr schwierig, Leute wiederzufinden, die verschwunden waren. Das ist gar nicht so lange her; viele, die heute leben, erinnern sich gut daran, wie es war, jemanden aus den Augen zu verlieren, sich auf die nächste Auflage des Telefonbuchs zu freuen, einen der eingeschweißten sechs, sieben Kilo schweren Packen von den Stapeln im Hausflur zu nehmen, A–M und N–Ö, dazu die Gelben Seiten, sich in der Diele auf den Boden zu setzen, mit dem Zeigefinger die Seite hinunterzufahren und den Namen der verschollenen Person zu suchen, in der Hoffnung, sie dieses Jahr endlich zu finden. Im Telefonbuch wurde nur aufgeführt, wer einen eigenen Anschluss besaß, alle, die keine feste Anschrift hatten, die oft umzogen oder zur Untermiete wohnten, die mit jemandem zusammen- oder in eine andere Stadt, vielleicht sogar in ein anderes Land gezogen waren, oder die schlicht und einfach nicht aufgeführt werden wollten, trieben in einem nicht erfassten Menschenmeer, und wer einen dieser Menschen finden wollte, musste auf eine glückliche Fügung warten. Ich habe so viele Menschen verloren, für kurze oder längere Zeit, gefolgt von einer stunden- oder lebenslangen Suche, mal intensiv und verzweifelt über ein, zwei Wochen, mal zerstreut und langwierig über Jahrzehnte. Danne verlor ich auf dem Roskilde-Festival, gleich hinterm Eingang, und als ich mir am ersten Abend Simple Minds anschaute, war ich allein im Menschenmeer. Mein Zelt musste ich neben Fremden aufschlagen, und am nächsten Tag streunte ich ziellos herum, bis ich in einer Toilettenschlange ein bekanntes Gesicht entdeckte. Das Wiedersehen war unvergesslich und verwandelte sich, wie so viele Erlebnisse jenes Sommers, in eine amüsante Anekdote, aber nichts wog die einsamen Stunden des Umherirrens auf. Bist du allein, wird ein großes Festival zur Einöde. Zumal mir schnell klar wurde, dass niemand aus unserer Clique, am allerwenigsten Danne nach dem klassischen «warte, ich bin gleich zurück», sonderlich viel Mühe auf die Suche nach mir verwendet hatte. Aus ihrer Sicht hatte ich mich abgesetzt. Mein Zettel, den ich an die mehrere Meter breite Anschlagtafel neben dem Eingang gepinnt hatte, hing unangerührt dort, inmitten unzähliger ähnlicher Vermisstenmeldungen. Jetzt, mehr als dreißig Jahre später, weiß ich nicht mehr, was Danne vorgehabt und worauf ich gewartet hatte, warum ich das Warten irgendwann aufgab und mich selbst auf die Suche machte, allerdings erinnere ich mich noch gut daran, dass er später meinte, er sei stoned gewesen und habe mich vergessen, und dass ich mich im selben Jahr aus jener Clique hinaus- und in neue Kreise hineinmanövrierte, Leute, die ich an der Uni traf und die sich seltener zudröhnten und mehr miteinander redeten, die besser auf sich und andere aufpassten.

Eine dieser neuen Bekanntschaften hieß Niki, auch sie sollte ich eines Tages suchen. Lange bevor ich Johanna begegnete, lernte ich Niki im Seminar «Einführung in die Anglistik» kennen, wir wurden derselben Lerngruppe zugeteilt, und in der ersten Pause kam sie auf mich zu und sprach mich an. Das war ihre Masche, um neue Leute kennenzulernen, ging mir später auf, sie krallte sich Menschen, die ihr sympathisch waren oder an denen sie irgendein Detail zufällig anzog, in meinem Fall ein Paar ausgelatschte Stan Smith, wie sie selbst welche trug. Sie nannte sich Niki, denn sie hasste den Namen, den ihre Eltern ihr gegeben hatten, und sie hasste den alten Namen, weil sie ihre Eltern hasste. Beim Wort «hassen» kräuselte sie die Nase und riss die Augen auf, als wollte sie ihre offensive Haltung unterstreichen. Ihrem Hass haftete nichts Zerstreutes an, nichts Ungezwungenes, er war nicht das Nachbeben punkiger Jugendjahre, sondern ein Tag und Nacht brennendes Feuer. Trotz vieler intensiver Gespräche kamen selten konkrete Fakten ans Licht, die ihren Hass erklärt hätten, außer dass diese zwei Menschen derart «abscheulich» seien, dass Niki gar keine andere Wahl gehabt hatte, als fünfhundert Kilometer fortzuziehen, einen neuen Namen anzunehmen und sich eine Geheimnummer zu besorgen. Anfangs dachte ich, der mystische Nebel um Nikis Aussagen werde sich sicher irgendwann lichten, doch stattdessen etablierten sich die Behauptungen über ihre Eltern als Wahrheiten, ungeprüft, gekauft wie gesehen, in all ihrer Vagheit. Plötzlich gehörte ich dazu, war eine der vielen, die «wussten», dass Niki eine schlimme Kindheit gehabt hatte, dass ihre Eltern in der Hölle schmoren sollten, und da sie mich bald zu ihren engsten Freundinnen zählte, wurde Loyalität von mir erwartet und blindes Vertrauen in diese unbewiesene Wahrheit bar jeder Details. Ich nehme an, zwischen uns bestand eine Art Band, und im Grunde war mir völlig egal, wie es um die Wahrheit über ihre Eltern bestellt war, solche Wahrheiten interessierten mich damals nicht. Als Niki erfuhr, dass ich bei meiner Großmutter in Jakobsberg auf dem Sofa schlief, bot sie mir an, zu ihr zu ziehen, in ihre Einzimmerwohnung im Atlasviertel. An die Wohnung war sie über die Vermittlungsstelle gekommen, genauer gesagt über die Härtefallquote. Eine Art separate Spur neben der allgemeinen Schlange, in der ich und Hunderttausende andere Wohnungssuchende seit Jahrzehnten warteten, reserviert für Frauen mit Kindern, die häuslicher Gewalt entflohen waren, Schwerkranke und andere, die aus verschiedenen Gründen so rasch wie möglich eine Wohnung bekommen sollten. Niki hatte dem Amt vorgelogen, sie sei als Kind von ihrem Vater missbraucht worden und häufige Umzüge belasteten sie psychisch zu stark. Ein Termin beim Sozialamt und ein psychologisches Gutachten hatten ausgereicht, gepaart mit einer Durchtriebenheit, zu der ich selbst nie fähig gewesen wäre. Die Lüge war penibel durchdacht; Missbrauch war Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger eines der großen Themen. Es wurde in den Medien diskutiert, beim Mittagessen in der Kantine, bisher unbekannte Experten taten kund, es handle sich um ein weit größeres gesellschaftliches Problem als bisher angenommen. Menschen legten sich auf die Therapiecouch, um verdrängte Erinnerungen zurückzuholen. «Ich weiß ganz sicher, dass mein Vater es getan hat», sagte Niki, und dann, als Reaktion auf meine skeptische Miene, «ich kann mich nur noch nicht daran erinnern.» Niki hatte bereits die verschiedensten Therapien ausprobiert, sich jedoch mit jeder einzelnen Psychologin überworfen. Kaum stellte jemand die falsche Frage, sagte eine Sitzung ab, ging in den Urlaub oder schlug vor, die Therapie zu beenden, zog Niki wutschnaubend von dannen. In der einen Woche war eine Therapeutin irrsinnig fantastisch und bereits in der nächsten irrsinnig inkompetent. Schnell wurde mir klar, dass Niki Menschen auf diese Weise wahrnahm, schwarz oder weiß, Hass oder Liebe, Himmel oder Hölle, dazwischen gab es nichts. Aus unserem Seminar pickte sie sich zwei weitere neue Freundinnen heraus, «brillante Superfrauen», «gutherzig wie Bodhisattvas», «die besten auf der Welt», bis eine dieser Freundinnen sich erdreistete, nach den Schallplatten zu fragen, die Niki sich ein paar Wochen zuvor geliehen hatte, und weil besagte Freundin dies in einem Café und damit vor Publikum tat, empörte sich Niki, sie sei «vor aller Welt gedemütigt» worden, die kleine Ratte könne ihr gestohlen bleiben, und kaum zurück zu Hause, stopfte sie die Platten in eine Tüte, abwechselnd nacktes Vinyl und Hülle, fuhr mit der U-Bahn zur Besitzerin und hängte die Tüte an die Tür – auf Nimmerwiedersehen. Freundin Nummer zwei entledigte sie sich im selben Abwasch. Ich hingegen blieb, etwas verstört, doch vor allem fasziniert von der Innigkeit, mit der Niki liebte und hasste, der Art, wie sie Menschen wegwarf, als müsste sie ihren Impulsen unmittelbar Folge leisten. Die Gründe variierten, der Prozess blieb immer gleich. Dass auch ich keine Ausnahme bilden würde, ahnte ich vermutlich, doch in dem Alter (ich war dreiundzwanzig) war eine Freundschaft etwas anderes als heute. Ganz gleich, ob sie zwei Monate hielt, zwei Jahre oder zwei Stunden, fühlte sie sich ewig an, die Dauer war unwichtig, entscheidend war die Magnitude, oder die Kraft, oder die verdichtete Masse an Bedeutung. Niki berührte mein Herz. Aber nicht wie die Männer, mit denen ich hin und wieder schlief und in die ich mich selten verliebte, sie rührte an mein tiefstes Inneres, wie eine Seelenverwandte – auch wenn ich so ein Wort niemals in den Mund genommen hätte –; dass unsere Freundschaft nicht ewig währen würde, spielte keine Rolle. Niki war ein Abenteuer, ein endloses Schauspiel in allen Genres, immer in Bewegung, nie vorhersehbar. Als Jugendliche hatte sie einen Suizidversuch unternommen, aber all das sei jetzt Geschichte, sagte sie, «so gut wie», und dieses «so gut wie», das begriff ich später, war Nikis Strategie, in ihrem Umfeld eine feine Ader der Angst anzustoßen, sich Fürsorge zu sichern. Ich sah nie, wie sie sich ritzte, nur etliche Narben und Male. Eine ihrer Psychologinnen habe von «Angstreduktion» gesprochen, sagte Niki, sie verschaffe ihrer Seele ein Ventil durch die Haut. Sie erzählte häufig von ihren Therapien, und eines Tages fasste ich mir ein Herz und fragte, wie sie sich all die unterschiedlich spezialisierten Therapeutinnen mit Privatpraxen in bester Innenstadtlage leisten konnte. «Sie bezahlen», antwortete Niki nur. «Das ist ja wohl das Mindeste», und es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass «sie» Nikis Eltern waren. Heutzutage würde man Nikis psychische Labilität vermutlich mit einer Diagnose etikettieren, doch damals sprach noch niemand von psychischen Krankheiten. Niemand sprach von Symptomen, Kriterien oder Medikamenten. Menschen, denen es schlecht ging, wurden nicht in medizinischen Schubladen verstaut,...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2023
Übersetzer Stefan Pluschkat
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Augustpreis • Augustpris • Autofiktion • Autofiktionaler Roman • autofiktionales Schreiben • Beziehungen • Beziehungsroman • Bisexualität • Bücher Neuerscheinungen 2023 • Corona Buch • Deborah Levy • emotionale Instabilität • Feministische Literatur • Frauen • Freundschaft • Freundschaftsroman • Gegenwartsliteratur • Lesbische Liebe • Liebe • lockdown • Mutterschaft • Neunziger Jahre • obsessive Freundschaft • Psychische Erkrankung • Psychische Gesundheit • Queerness • Rachel Cusk • Romane Neuerscheinung 2023 • Roman für Frauen • Schreiben • Schriftstellerin • Schweden • schwedische Literatur • Stockholm • Trennung
ISBN-10 3-644-01543-0 / 3644015430
ISBN-13 978-3-644-01543-2 / 9783644015432
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