All right. Good night. (eBook)
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01808-2 (ISBN)
Helgard Haug ist Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin von Rimini Protokoll. Für ihre Arbeit wurde sie mit etlichen Preisen ausgezeichnet: mit dem FAUST-Theaterpreis, dem Europäischen Theaterpreis und, für das Gesamtwerk von Rimini Protokoll, mit dem Silbernen Löwen der 41. Theaterbiennale Venedig; sie erhielt den Hörspielpreis der Kriegsblinden und 2019 den Hörspielpreis der ARD. Die Inszenierung «All right. Good night» wurde im Januar 2022 zum Berliner Theatertreffen und zum Impulse Festival eingeladen; sie war für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und wurde von der Kritikerumfrage von Theater Heute zur «Inszenierung des Jahres» erklärt. Das gleichnamige Hörspiel wurde von der deutschen Akademie der Darstellenden Künste als Hörspiel des Monats ausgezeichnet.
Helgard Haug ist Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin von Rimini Protokoll. Für ihre Arbeit wurde sie mit etlichen Preisen ausgezeichnet: mit dem FAUST-Theaterpreis, dem Europäischen Theaterpreis und, für das Gesamtwerk von Rimini Protokoll, mit dem Silbernen Löwen der 41. Theaterbiennale Venedig; sie erhielt den Hörspielpreis der Kriegsblinden und 2019 den Hörspielpreis der ARD. Die Inszenierung «All right. Good night» wurde im Januar 2022 zum Berliner Theatertreffen und zum Impulse Festival eingeladen; sie war für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und wurde von der Kritikerumfrage von Theater Heute zur «Inszenierung des Jahres» erklärt. Das gleichnamige Hörspiel wurde von der deutschen Akademie der Darstellenden Künste als Hörspiel des Monats ausgezeichnet.
Zweites Jahr Den Schein wahren
Der Vater schreibt nun alles auf. Um es festzuhalten. Mehrfach dieselbe Notiz. Immer wieder durchgestrichen und neu notiert. Nicht nur wichtige Daten und Verabredungen, alles wird angeleint, damit es auffindbar bleibt. Kringel werden wie ein Lasso um die Notizen gezogen.
Wer saß noch in diesem Flugzeug? Die Website The Hunt for MH370 hat alle Passagiere aufgeführt. Dazu Angaben zur Nationalität, Alter, Geschlecht und Sitzplatz. Der älteste Passagier ist 79 Jahre alt und sitzt auf Platz 31G. Neben ihm sitzt seine Frau.
Ganz vorn, auf Platz 2K, sitzt der Neuseeländer Paul Weeks. Er ist auf dem Weg zu einem Bergbauunternehmen in der Mongolei. Er hat Vorkehrungen getroffen. Seinen Ehering und die Uhr ließ er zu Hause. Sie sollten im Fall der Fälle an seine Söhne gehen.
Muktesh Mukherjee auf Platz 4C war auch geschäftlich unterwegs. Ich lese weiter und erfahre, dass der Großvater des 42-jährigen Kanadiers indischer Abstammung 1973 bei einem Flugzeugabsturz bei Neu-Delhi ums Leben kam.
Der Amerikaner auf Platz 11C, Philip Wood, arbeitet bei IBM in Kuala Lumpur. Er pendelt regelmäßig zwischen Kuala Lumpur und Peking hin und her. Für ihn ist er nichts Besonderes, dieser Flug.
Neun Reihen weiter hinten, auf Platz 20A und C, sitzen die beiden Australier Rodney und Mary Burrows. Sie wollen mit einer Chinareise ihren Eintritt in den Ruhestand feiern.
Der jüngste Passagier ist knapp zwei Jahre alt.
An Bord sind auch zwei junge Iraner. Der eine, finde ich später heraus, hat sich als Österreicher ausgegeben, der andere als Italiener. Vielleicht haben sie vorher ein paar Worte dieser Sprachen eingeübt?
Guten Tag. Danke. Bitte. Wie geht es Ihnen?
Apfel, Lampe, Tisch?
Sie hatten angegeben, dass ihre Pässe zuvor in Thailand gestohlen worden seien. In Peking hatten sie Anschlussflüge nach Amsterdam, dort sollten ihre Wege sich trennen. Einer wollte weiter nach Frankfurt am Main, einer nach Kopenhagen.
Ihre Flugtickets waren in einem thailändischen Reisebüro durch einen Dritten gebucht und bar bezahlt worden.
All das lässt sich aufspüren und nachprüfen und klingt doch ziemlich seltsam.
Sind die beiden falschen Iraner eine Spur? Wurde die Crew überwältigt, das Flugzeug an einen geheimen Ort gelenkt?
Aber warum sollte sich jemand die Mühe machen, ein Flugzeug zu entführen, und sich dann nicht mehr melden?
Der Vater ist zu dem Entschluss gekommen, sich keiner Untersuchung mehr zu unterziehen. Er möchte keine Ziffern und Zeiger zeichnen. Keinen Mini-Mental-Status-Test. Und schon gar nicht sein Hirn nach Ablagerungen durchleuchten lassen.
Das bringe nichts. Er sei tief depressiv und auch mal – dem Alter geschuldet – vergesslich, aber das Label Demenz, das wolle er sich nicht zur Entschuldigung anheften lassen.
Das sagt er immer wieder: «Keine Demenz, eher eine Depression.»
Eine Verschiebung sei es …
Unter den Passagieren befinden sich auch zwanzig Angestellte eines texanischen Halbleiterherstellers. Was ist noch mal ein Halbleiter?
Eine Verschiebung.
Jedes Detail kann bedeutsam sein. Der texanische Halbleiterhersteller kondoliert den Hinterbliebenen nicht, veröffentlicht keine Reaktion auf die Tatsache, dass zwanzig seiner Mitarbeiter verschollen sind.
Nun werden die Frachtpapiere unter die Lupe genommen. Laut Liste waren vier Tonnen Mangostane an Bord. Mangostane sind tomatengroße rundliche Früchte, die zwischen November und Dezember reif sind.
Vier Tonnen. Im März? Außerhalb der Erntezeit?
Der Importeur kann nicht ausfindig gemacht werden.
Worte suchen. Begriffe.
Die Sprache des Vaters war so präzise. Treffsicher.
Nun sucht er nach Worten.
Dann wieder schöpft er aus dem Vollen. Da sind noch viele Wörter, und passen sie nicht mehr ganz so präzise, dann eben doch irgendwie. Die Haltung stimmt ja. Er spricht mit Nachdruck. Wie einer, der weiß, was er sagt.
Interpol kommt zu dem Schluss, die beiden Iraner mit den gefälschten Pässen waren keine Terroristen, sondern lediglich illegale Immigranten.
Um die MH370 ist es stiller geworden.
Dann findet sich doch noch was: Zwei Jahre vor ihrem letzten Flug war die Boeing in einen Flugunfall verwickelt. Beim Taxiing auf dem Flughafen Shanghai-Pudong ist sie mit einem anderen Flugzeug kollidiert. Die rechte Tragflächenspitze reißt ab.
Wie lässt sich so eine Tragflächenspitze wieder ankleben?
Und wie bezeichnet man den, der so eine Tragflächenspitze anklebt?
Und den, der dann überprüft, ob die Tragflächenspitze gut angeklebt wurde? Und ob sie sitzt, diese Tragflächenspitze, und all den Kräften standhält, die auf sie wirken, wenn sie wieder um die Erde fliegt?
Wie Geier kreisen Unternehmen um die Alten. Der Vater wird beschwatzt, Bausparverträge abzuschließen.
Vier Stück.
«Für jedes Kind einen», hat ihm der Verkäufer erklärt.
Wir sind uns sicher: Der Vater will keine Bausparverträge abgeschlossen haben.
Jeden Monat bringt der Postbote jetzt schwere Päckchen mit Münzen für eine Sammlung, die es nie gab.
Wir gehen seine Kontoauszüge durch. Versuchen, rückgängig zu machen, was rückgängig zu machen ist.
Auf ihrem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur stürzt ein weiteres Flugzeug der Malaysia Airlines ab, es ist Flug MH17, 298 POB.
Die Trümmer gehen in der Ostukraine nieder, verstreut über eine Fläche von 35 Quadratkilometern. Bei der Untersuchung der Trümmer wird schnell klar, dass es ein Abschuss war. Gibt es einen Zusammenhang?
MH17: Wir hatten eine Reservierung für diesen Flug. Bestürzt stellen der Kollege und ich das am Tag nach dem Abschuss fest.
War es wirklich dieser Flug? Exakt dieser? Kann das sein?
Wir durchforsten E-Mails, überprüfen die Angaben auf der Reservierung. Vergleichen.
Aber ja. Es war genau dieser Flug.
Die Reise sollte uns an die nördliche Spitze Australiens führen. Der Veranstalter wollte uns auf einen endlosen Flug von Amsterdam über Kuala Lumpur und Melbourne schicken. Von dort dann weiter nach Darwin.
Fast vierzig Stunden. So lange hätte es gedauert.
Wir wären alt geworden auf diesem Flug. Also baten wir um eine andere Verbindung. Und bekamen sie.
Wir wären nicht alt geworden. Wir wären gestorben auf diesem Flug. Auch mein Sohn. Er sollte uns begleiten.
Wir sind noch einmal davongekommen, denke ich.
Lohnt es noch, sich anzuziehen? Tag und Nacht sind im Winter schwer auseinanderzuhalten. Der Vater schafft es oft nicht mehr. Er weiß nicht, wo ein Tag anfängt und wo er aufhört. Die wenigen hellen Stunden verschläft er manchmal komplett.
Die Hilfe, die wir organisiert haben, schickt er wieder weg. Wir müssen es zulassen.
Und wer spült ab?
Auf jeden Fall schon mal nicht derjenige, der den Tisch gedeckt hat.
Viele weiße tiefe Teller. Ohne Unterschied. Nach jedem Essen in der Frankfurter Männer-WG Anfang der achtziger Jahre heben alle ihre Teller über den Kopf, sodass sie die Unterseite sehen können.
Auf einem der Teller ist unten ein Hakenkreuz aufgedruckt.
Die Person mit dem Hakenkreuz spült ab.
Klarer Fall.
Kate Tee hat sich einen lang gehegten Traum erfüllt und segelt mit ihrem Mann von Indien nach Thailand. Am Tag des Flugs der MH370 befindet sie sich südöstlich von Great Nicobar Island, nordwestlich von Sumatra. Sie sagt, sie habe an diesem Tag ein Flugzeug ungewöhnlich tief fliegen sehen. Das Flugzeug habe eine Spur schwarzen Rauchs hinter sich hergezogen. Zwei weitere Flugzeuge seien auf normaler Flughöhe in der Gegenrichtung unterwegs gewesen. Sie glaubt, sie habe Flammen gesehen.
Später, viel später, habe sie von der verschwundenen MH370 gehört und eins und eins zusammengezählt.
Die LEP wird neu bestimmt: S34.2342–E93.7875. Last Estimated Position.
Wir gehen essen. Nachdem die Kellnerin den Tisch abgeräumt hat, steht der Vater wortlos auf und geht zur Tür. Ich sage: «Warte kurz. Wir müssen noch zahlen.»
«Selbstverständlich», sagt er. Er übergibt einen Schein und will aufrunden. Merkt, dass er nicht ausrechnen kann, wie viel Trinkgeld dann bleibt.
Dieses Mal vertuscht er es nicht. Er beschreibt die Leere. Die Orientierungslosigkeit. Bittet um Hilfe.
Auf dem Nachhauseweg gesteht er, dass er schon mehrmals zum Bahnhof gegangen sei, dort angekommen aber nicht mehr wusste, wohin er fahren wollte. Er sagt auch, dass er die umfangreiche Diagnostik nicht will, weil er ja sowieso weiß, was herauskommt. Er will es nicht schwarz auf weiß geschrieben sehen.
Ein Jahr nach dem Verschwinden der MH370 legt die Untersuchungskommission einen offiziellen Zwischenbericht vor. Sechshundert engbedruckte Seiten. Die nichts klären.
Der Vater hat sich überreden lassen, zur Kur zu gehen. Er bezieht sein Zimmer. Fühlt sich nicht wohl am neuen Ort. Wo...
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2023 |
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Zusatzinfo | Mit 1 s/w-Foto |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | ambiguous loss • Arno Geiger • Bücher Neuerscheinungen 2023 • Daniel Wagner • Demenz • Deutsche Literatur • deutscher Roman • Familiengeschichte • Gegenwartliteratur • Hörspiel des Monats • kurzer Roman • Leben mit Demenz • MH 370 • Pauline Boss • Rimini Protokoll • Roman über Väter und Töchter • Stück des Jahres 2022 • Theater heute • Trauer • Trauerbegleitung • uneindeutiger Verlust • Unglücksflug • Väter und Töchter • Verlust • Verlust Elternteil • Würde • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01808-1 / 3644018081 |
ISBN-13 | 978-3-644-01808-2 / 9783644018082 |
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