Udo Jürgens. 100 Seiten (eBook)
100 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962131-9 (ISBN)
Rainer Moritz, geb. 1958 in Heilbronn, ist Essayist, Literaturkritiker und Autor zahlreicher Bücher, darunter zuletzt der Roman 'Das Schloss der Erinnerungen'. Seit 2005 leitet er das Literaturhaus Hamburg. Mit seinen legendären Schlagerabenden tritt er regelmäßig und deutschlandweit in Literaturhäusern und Buchhandlungen auf.
Rainer Moritz, geb. 1958 in Heilbronn, ist Essayist, Literaturkritiker und Autor zahlreicher Bücher, darunter zuletzt der Roman "Das Schloss der Erinnerungen". Seit 2005 leitet er das Literaturhaus Hamburg. Mit seinen legendären Schlagerabenden tritt er regelmäßig und deutschlandweit in Literaturhäusern und Buchhandlungen auf.
»Immer wieder geht die Sonne auf« – wie es anfing
Chrysanthemen, Gin und Knarren – der holprige Karriereweg
»Merci Chérie« – der Grand-Prix-Triumph
Das Phänomen Udo Jürgens
»Ein ehrenwertes Haus« – der Gesellschaftskritiker
»Buenos Dias Argentina« – aufrecht zwischen den Stühlen
Die kleinen Dinge des Lebens – der Geschichtenerzähler
Was bleibt?
Im Anhang Lektüretipps
Immer wieder geht die Sonne auf – wie es anfing
Pscholka hieß er. Seinen Vornamen habe ich vergessen. Nennen wir ihn Uwe. Er wohnte wie ich in Heilbronn, in der Burenstraße, fünf Fahrradminuten von der elterlichen Wohnung entfernt. Wir waren keine engen Freunde, Schulkameraden, die herausfanden, dass sie ein damals eher abseitiges Interesse teilten: den deutschen Schlager. Ich selbst hatte mich, was offenbar einer fehlgeschlagenen musikalischen Sozialisation geschuldet war, früh dafür begeistert, was Bernd Clüver, Gitte, Michael Holm oder Marianne Rosenberg sangen, und lernte zu verkraften, dass ich mit dieser Neigung auf verlorenem Posten stand und von Mitschülern nur ein spöttisches Lächeln abbekam.
Udo Jürgens bei seinem letzten Konzert in Zürich, zwei Wochen vor seinem Tod
In dieser existenziellen Einsamkeit war ich sehr froh, dass es Uwe Pscholka gab, der mit der angloamerikanischen Rock- und Popmusik jener Jahre offenkundig auch nicht viel anzufangen wusste. So fanden zwei verlorene Seelen zueinander, und wir trafen uns ein paar Mal in der Pscholka’schen Wohnung. Ausgestattet mit selbst aufgenommenen Kassetten der aktuellen deutschen Hits, spielten wir das Prozedere der Radio- und TV-Schlagerparaden nach und bewerteten das Gehörte nach einem ausgeklügelten Punktesystem. Dass wir nur zu zweit waren und nicht wie beim Grand Prix Eurovision de la Chanson mit einem Dutzend weiterer Juroren wetteiferten, senkte zwar den Spannungsbogen unserer Nachmittage, doch einen echten Schlagerfan kann das nicht verdrießen.
Wem damals im Einzelnen unsere Gunst gehörte, weiß ich im Detail nicht mehr. Kein Zweifel allerdings besteht daran, dass Udo Jürgens zu unseren Favoriten zählte, und noch heute höre ich, als sei es vorgestern gewesen, Udo voll Zuversicht sein Immer wieder geht die Sonne auf schmettern.
So also begann alles, mit diesem Song. Für Jürgens’ insgesamt drei Grand-Prix-Auftritte – wir kommen darauf zurück – war ich zu jung, was die Hymne auf die Himmelserscheinung des Sonnenaufgangs zu meinem Udo-Urlied machte. Uwe Pscholka und ich waren uns in dessen Bewertung sehr einig und vergaben die Höchstpunktzahl, wodurch das Ergebnis unserer nachgespielten Hitparade früh feststand.
Was aus Uwe Pscholka geworden und ob er Udo Jürgens treu geblieben ist, weiß ich nicht. Das Internet zeigt sich in dieser Hinsicht zugeknöpft.
(Musik: Udo Jürgens; Text: Thomas Hörbiger)
Wenn es um beglückende Liebeserfahrungen geht, herrschen meist erfreuliche Wetterverhältnisse. Und wenn Kummer und Leid drohen, fahren Gewitter- und Sturmfronten auf. Solche symbolischen Verbindungen sind in der Literatur gang und gäbe – und im mit Stereotypen arbeitenden Schlager nicht minder. Dessen Texter lassen Liebende bei freundlichen meteorologischen Bedingungen agieren – ganz so, wie es bei Renate Kern heißt: »Lass doch den Sonnenschein / in dein Herz hinein. / Mach dein Fenster auf und deine Tür. / Mit dem Sonnenschein kommt das Glück herein, / und die Liebe findet endlich auch zu dir.« Um unangenehmem Wetter zu trotzen, muss wie in Michael Holms Barfuß im Regen die Liebe extrem groß sein.
Udo Jürgens’ Immer wieder geht die Sonne auf, das es auf Platz 15 der Charts schaffte, arbeitet mit klassischen Hell-Dunkel- bzw. Glücklich-Einsam-Gegensätzen und erzählt, so der erste Eindruck, von einer verlorenen Liebe, die von »Dunkelheit« und »Herbstwind« begleitet ist. Da sich Schlager freilich, um ihr Publikum nicht zu verschrecken, schwertun, konsequent von unerfreulichen (Liebes-)Umständen zu handeln, bahnt sich bald eine Wende an. Die banale Sentenz, dass die Zeit alle Wunden heile, spiegelt sich in der kaum weniger banalen Beobachtung wider, dass die Sonne allmorgendlich wiederkehrt und neues Licht verbreitet. Das ist tröstlich und verschafft Linderung in unterschiedlichsten Lebensphasen – mit dem Ergebnis, dass die Refrainzeile fast sprichwörtlichen Charakter angenommen hat. So wird kolportiert, dass Horst Ehmke auf dem SPD-Parteitag 1970 in Saarbrücken ein »Mit Willy, Willy geht die Sonne auf« angestimmt habe, womit er den amtierenden Bundeskanzler Willy Brandt meinte.
Das Sonnenlicht heilt in Jürgens’ Lied alte Verletzungen und lässt zugleich darauf hoffen, dass sich alsbald eine neue Liebe finde. Nein, es ist keine neue, es ist die verflossene Liebe, die zurückkehrt: »… dann denk daran, / ich glaub an morgen, denn irgendwann / stehst du vor mir«. Das alles wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn das Lied nicht mit melodischen Keckheiten aufwarten würde. Zum einen arbeitet es mit retardierenden Elementen, wenn auf »denn Dunkelheit für immer gibt es nicht« ein zweifaches, immer schleppender werdendes »die gibt es nicht« folgt. Zum anderen steigert sich die Verzögerungstaktik dadurch, dass das »die« zu einem »diiie« in die Länge gezogen wird – ein Verfahren, das der Song ebenso bei »Zeeeiit« und »miiir« anwendet.
Diese Wortdehnungen führen dazu, dass der kraftvoll intonierte Refrain »Denn immer, immer wieder geht die Sonne auf« umso mehr Fahrt aufnimmt und seine befreiende Wirkung entfaltet. Da ist der frühe Udo Jürgens ganz bei sich. Spätere Reprisen des Sonnenmotivs überzeugen weniger. Das Fernsehlotterielied Zeig mir den Platz an der Sonne (1971) und das Urlaubswohlfühllied Die Sonne und du (1983) sind eher schlichterer Natur. Zeilen wie »Die Sonne, die Sonne und du, / uh-uh-uh-uh, / gehör’n dazu« geben wettermäßig wenig her.
Seit den Hitparadensessions mit Uwe Pscholka hat mich Udo Jürgens begleitet; mal stand er direkt neben mir, mal sah ich ihm nur aus der Ferne zu. Doch selbst wenn ich ihn und seine Lieder eine Zeitlang aus den Augen verlor, blieb er mir immer im Sinn. Bis zu jenem 21. Dezember 2014, als er völlig überraschend nach einem Spaziergang im schweizerischen Münsterlingen starb. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ich hatte am späten Nachmittag mit Freunden ein vorweihnachtliches Theaterstück besucht, und als ich danach im Restaurant mein Handy wieder einschaltete, ploppten mehrere Kurzmitteilungen auf. Zeitungs- und Rundfunkredakteure hatten mich angerufen und um ein Statement zu Udo Jürgens’ Tod gebeten.
Die Nachricht erschütterte nicht nur mich auf merkwürdige Weise. Udo Jürgens tot? Das war unvorstellbar und gab einem das schmerzhafte Gefühl, dass hier nicht irgendeine Größe aus Politik, Sport oder Kultur gestorben war. Sofort dachte ich an ein Ereignis, das über zwanzig Jahre zurücklag, an einen Novembertag des Jahres 1991. Ich arbeitete damals in einem Berliner Wissenschaftsverlag und wurde beim Lektorieren durch laute Schmerzensschreie und Wehklagen aus den unteren Stockwerken aufgeschreckt. »Freddie ist tot! Mein Freddie ist tot«, gellte es durchs Treppenhaus, und binnen kurzer Zeit war klar, was zu diesem Ausbruch einer Kollegin geführt hatte: Freddie Mercury war im Alter von fünfundvierzig Jahren einer Aids-Erkrankung erlegen, und wer sich nur einen Hauch für die Rockmusik der 1970er- und 1980er-Jahre interessierte, wusste, welcher Künstler da abgetreten war. Mit Udo Jürgens verhielt es sich nicht anders.
Obwohl er nicht als mittelalter Mann starb, wirkte er unverwüstlich, stellte sein Tod eine Art Beleidigung dar. Die Falten, die sein Gesicht zu einer markanten Karstlandschaft formten, standen nicht für Gebrechlichkeit. Sie sprachen für die reichhaltige Erfahrung eines intensiv gelebten Lebens und deuteten trotz aller Melancholie, die dieses Gesicht manchmal durchsichtig machte, darauf hin, dass hier bis zuletzt ein nimmermüder, neugieriger Geist regiert hatte.
Zudem zählte Udo Jürgens nicht zu den Künstlern, die sich irgendwann klugerweise aufs Altenteil zurückzogen oder Gefahr liefen, den Ruf ihrer besten Jahre durch bemitleidenswerte Altersauftritte zu beschädigen. Nein, Udo Jürgens nahm lässig alle Jahresschwellen und erschreckte seine Anhänger nie mit der Ankündigung von Abschiedskonzerten. Er sang einfach weiter, und dass die Nachricht von seinem Tod ein Irrtum sein musste, schien dadurch bekräftigt, dass er gerade einmal zwei Wochen zuvor in Zürich ein Konzert gegeben hatte – im Rahmen seiner mit »Mitten im Leben« betitelten Tournee. Es konnte und durfte nicht sein, dass sich dieser, so der Schriftsteller Andreas Maier, »ewig junge Götterliebling« bei einem Spaziergang still und heimlich davonmachte.
Wer sich heute Jürgens’ Zürcher Konzert vom 7. Dezember 2014 ansieht, sucht unwillkürlich nach Spuren des Verfalls und der Erschöpfung, nach Signalen, die auf einen baldigen Tod hindeuten. Finden wird man solche nicht. Da beherrscht ein Künstler seine Bühne, im blauen Anzug mit rotem Einstecktuch, den er – wie es zu seinem Auftrittsritual gehörte – am Ende in einen weißen Bademantel hüllt. Er singt, selbstverständlich, seine Erfolgssongs, nach denen das Publikum dürstet, doch eine nicht minder wichtige Rolle spielen Lieder wie Der gläserne Mensch oder Der gekaufte Drachen, die nicht zurückblicken, sondern einen für Jürgens so typischen kritischen, warnenden Appellton anschlagen.
Natürlich fehlte in diesem Programm nicht das – von Oliver Spiecker getextete – Mein Ziel, das gerade demonstrativ nach vorne schaut. »Es gibt auch kein Leben aus altem...
Erscheint lt. Verlag | 24.3.2023 |
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Reihe/Serie | Reclam 100 Seiten | Reclam 100 Seiten |
Zusatzinfo | 15 s/w-Abbildungen und 2 Illustrationen |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 100 Seiten • 100 Seiten Marcus S Kleiner • 100 Seiten Reclam • Alles über Udo Jürgens • Analyse Liedtexte Udo Jürgens • Analyse Lyrics Udo Jürgens • Analyse Popsongs Udo Jürgens • Analyse Songtexte Udo Jürgens • Buch Udo Jürgens • Fachbuch Udo Jürgens • Interpretation Liedtexte Udo Jürgens • Interpretation Lyrics Udo Jürgens • Interpretation Popsongs Udo Jürgens • Interpretation Songtexte Udo Jürgens • Liedtexte Udo Jürgens • Liedtextinterpretation Udo Jürgens • Marcus S. Kleiner • Musiktexte Udo Jürgens • Reclam 100 Seiten • Reclam Sachbuch • Sachbuch Udo Jürgens • Songanalyse Udo Jürgens • Songtexte Udo Jürgens • Udo Jürgens • Udo Jürgens Band • Udo Jürgens Bandgeschichte • Udo Jürgens Bandgründung • Udo Jürgens Biografie • Udo Jürgens Biografie Deutsch • Udo Jürgens Biographie • Udo Jürgens Buch • Udo Jürgens Buch Deutsch • Udo Jürgens Einführung • Udo Jürgens Grand Prix Eurovision de la Chanson 1966 • Udo Jürgens Gründung • Udo Jürgens Kompaktwissen • Udo Jürgens Künstlerbiografie • Udo Jürgens Künstlerbiographie • Udo Jürgens Lebensgeschichte • Udo Jürgens Lebensweg • Udo Jürgens Reclam • Udo Jürgens Sängerbiografie • Udo Jürgens Sängerbiographie • Udo Jürgens Ursprung • Udo Jürgens Werdegang • Was weiß man über Udo Jürgens • Wer ist Udo Jürgens |
ISBN-10 | 3-15-962131-6 / 3159621316 |
ISBN-13 | 978-3-15-962131-9 / 9783159621319 |
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