Pastoren, Soldaten, Kaufleute... (eBook)
250 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-9551-8 (ISBN)
Der Autor beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Alltagsleben der Menschen in Westfalen. Das nun vorliegende Buch "Pastoren, Soldaten, Kaufleute ..." knüpft zeitlich an das Sachbuch "Alltag und Lebenswelt einer Bauernfamilie - Der Hof Rosenkötter in der Bauerschaft des Stifts Quernheim von der Frühen Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts" an.
Luise (1774- nach 1832)
Die Nachricht Anfang November 1805 war unerwartet und kurz:
In Bünde ist vor einigen Tagen der Herr Pastor Rosenkötter, der noch nicht lange daselbst Prediger gewesen, gestorben und hatte eine Witwe mit zwei kleinen Kindern nachgelassen. Vorher war er in Löhne Prediger.
Nicht einmal acht Monate war Albert Pfarrer in Bünde gewesen.
Er wurde 41 Jahre, 5 Monate, 24 Tage alt.
Als Todesursache wurde Nervenfieber attestiert. Das Nervenfieber, heute als Typhus bekannt, wurde um die Jahrhundertwende bei gut einem Viertel aller Verstorbenen beurkundet. Nervöse Störungen waren das typische Krankheitsbild: Die Patienten phantasieren, leiden unter Bewusstseinsstörungen, großer Unruhe oder Erregbarkeit und können die willkürlichen Bewegungen kaum kontrollieren. Erst hundert Jahre später wurden Salmonellen als Krankheitserreger und verunreinigte Nahrungsmittel oder verschmutztes Wasser als Ursache erkannt.
Kurze Zeit nach Albert starb auch die alte Haushälterin im Pfarrhaus.
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Für Luise brachen schwere Zeiten an: Sie musste den Haushalt führen, für ihre beiden Kinder sorgen und sich um ihre eigene Zukunft kümmern. Ein Anspruch auf eine langfristige Witwen- und Waisenversorgung gab es nicht. Ihr wurde allerdings ein Gnadenjahr zugestanden mit dem Anrecht auf die vollen Einnahmen ihres verstorbenen Mannes. Wenn aber die Pfarrstelle erneut besetzt würde, müsste sie die Einkünfte mit dem neuen Pfarrer teilen.
Nach dem Gnadenjahr würden sie und ihre Kinder mittellos dastehen. Vielen Pfarrerwitwen blieb nach dem Auszug aus dem Pfarrhaus nur die Hoffnung auf eine Wiederverheiratung oder die Möglichkeit, eine Bleibe im Elternhaus oder bei Verwandten zu finden.
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Aber Luise war eine willensstarke Frau, eine Kämpferin. Ein Wesenszug, den sie offensichtlich von ihrem Vater geerbt hatte. Dokumentiert ist eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem 76-jährigen Schulmeister Meier zu Holzhausen und dem Hartumer Pastor Erdsiek. Der Pastor beschrieb gegenüber dem Superintendenten diesen Lehrer als hochbejahrt, greise, sehr kränklich und ganz unbrauchbar. Er sei schon seit einiger Zeit nicht mehr im Stande, den Schulunterricht regelmäßig zu erteilen. Lehrer Meier widersprach und machte geltend: Mein einziger Wunsch geht dahin, etwas Schriftliches wegen meiner Einnahme in Händen zu haben. Erdsiek signalisierte Einverständnis: Da sich der Meier hoffentlich nunmehr geziemend betragen wird, so wünsche ich doch, dass ihm aus Rücksicht auf sein hohes Alter seine volle Einnahme belassen werde.
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Luise war entschlossen, die Neubesetzung der Pfarrstelle nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes möglichst lange hinauszuzögern und hatte die schwierige Situation mit ihrer Tante Wilhelmine Schuss und deren Ehemann besprochen. Stellte Pfarrer Schuss die verwandtschaftlichen Beziehungen und Interessen über die kirchlichen und machte entsprechend seinen Einfluss geltend? Ein solcher Auswahlprozess konnte sich schon mal mehrere Monate hinziehen, dass es aber mehr als ein Jahr dauerte war ungewöhnlich.
Jedenfalls wurde erst am 9. November 1806 der neue Pfarrer Hermann Henrich Rothert in sein Amt eingeführt. Rothert war mit Lisette Schwager verheiratet, der ältesten Tochter von Johann Moritz Schwager und Helene Gösling. Rothert hatte zuvor die Pfarrstelle in Friedrichsdorf bei Gütersloh in der Senne, damals noch Osnabrückische Exklave, inne.
Einen Monat danach, am 19. Dezember 1806, heiratete die 32-jährige Witwe Luise Rosenkötter den Justiz- und Domänenamtmann August Wilhelm Walbaum, der genau an diesem Tag seinen 24. Geburtstag feiern konnte.
August Walbaum war das elfte und jüngste Kind der Familie des Peter Heinrich Walbaum in Werther und seiner Frau Benigna Friederica Heidsieck. Während die Walbaumfamilie seit mehreren Generationen Leinenhandel betrieb, waren die Heidsieck für das Seelenheil der Gemeinden im Ravensberger Land zuständig. Beide waren seit mehreren Generationen mit anderen Kaufmanns- und Pastorenfamilien wie Delius und Piper aus Versmold oder Kisker und Brune aus Halle verflochten. Ihnen gemeinsam ist, dass sie zur Oberschicht gehörten: Sie stellten Bürgermeister, Ratsherren, Senatoren, Richter, Kaufmänner, Pastoren, Superintendenten, Juristen, Mediziner, Gymnasiallehrer, Offiziere .... Sie hatten meist mehrere dieser Funktionen und Berufe nebeneinander oder hintereinander ausgeübt und stets an ihre Kinder und Enkel vererbt. Wer in diesem Kreis aufwuchs, dem war die Zukunft gesichert.
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August Walbaum hatte bereits im Alter von neunzehn Jahren sein Studium der Rechtswissenschaften an der Friedrichs-Universität in Halle an der Saale abgeschlossen und war in den beiden folgenden Jahren Regierungsreferendar. Mit 21 Jahren wurde er zum Vogt des Amtes Limberg in Bünde bestellt. Als Justiz- und Domänenamtmann blieb er in dieser Funktion bis zur Aufhebung der Vogtei Limberg durch die französischen Besatzung. Am 7. Juli 1807 hatten Frankreich und Preußen (in Koalition mit dem Russischen Kaiserreich) den Frieden von Tilsit geschlossen: Alle Gebiete westlich der Elbe gingen Preußen verloren. Napoléon gründete das neue Königreich Westphalen (Royaume de Westphalie) mit seinem Bruder Jérôme als Monarch. Minden-Ravensberg befand sich nun in dem Weser-Department (Département du Weser).
Durch ein Königliches Dekret vom 18. März 1808 wurde August Walbaum, der Richteranwärter (juge assistant) zu Limberg, zum Friedensrichter (juge de paix) in Halle ernannt. Er löste dort den bisherigen Friedensrichter Christian Ferdinand Brune ab, der zum Präsidenten des Tribunals der ersten Instanz in Bielefeld berufen wurde.
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Das 1808 im Königreich Westphalen eingeführte bürgerliche Gesetzbuch (Code Napoléon) und das zivile Prozessrecht (Code de procédure) hatten für die Trennung von Verwaltung, Polizei und Rechtsprechung und die richterliche Unabhängigkeit gesorgt. Die bisherigen – von adeligen Gutsherrn und vom Staat abhängigen – Gerichte waren aufgelöst.
Die Friedensgerichte waren als unterste Gerichts- und Schlichtungsinstanz in den Kantonen angesiedelt und auch für die Rechtsprechung in Zivilsachen zuständig. Die Verhandlungen wurden öffentlich am Amtssitz des Richters, häufig in dessen Privathaus, geführt.
Die Friedensrichter waren gewissermaßen den ordentlichen Gerichten vorgeschaltet und ihre Hauptaufgabe war die der Vermittlung zwischen den Kontrahenten. Sie hatten bei nichtstreitigen, sprich freiwilligen, Angelegenheiten, den Vorsitz: So wurden Familienangelegenheiten wie Heirat, Geburt, Sterbefälle, Erbschaften oder Vormundschaften geregelt. Auch in weniger wichtigen zivilrechtlichen Streitigkeiten oder geringfügigen Gesetzesübertretungen entschieden die Friedensrichter und konnten geringe Geldstrafen und kurze Haftstrafen verhängen. Wurden aber schwere Verbrechen in ihren Bezirken verübt, so konnten die Friedensrichter von den Obergerichten als Untersuchungsrichter beauftragt werden. Die Besoldung der Friedensrichter richtete sich nach der Größe des jeweiligen Kantons und betrug 800 bis 1.200 Franken
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Die Neuordnung des Justizwesens und die Gewaltenteilung war nur eine von vielen französischen Reformen, die von der preußischen Regierung übernommen wurden. Das französische Königreich Westphalen, als Modellstaat geplant – dazu gehörten ein säkulares Staatsverständnis, der Gleichheitsgrundsatz und die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Religionsfreiheit und die Judenemanzipation, – war durchaus ein Vorbild für die preußischen Reformen, die in den Jahren 1807 bis 1815 eingeleitet wurden. Mit der Ständeversammlung gab es einen ersten Ansatz zu einer parlamentarischen Mitsprache. Der Staatsrat war in die drei Sektionen Justizwesen und innere Angelegenheiten, Kriegswesen sowie Handel und Finanzen unterteilt. Es entstanden hierarchische, rationale und kontrollierbare Institutionen, die sich durch Expertise, Schnelligkeit und Effizienz auszeichneten. Die Führung von Zivilstandsregistern und Kirchenbuchduplikaten wurde verfügt. Die Wirtschaft profitierte ebenfalls: Der Zunftzwang wurde aufgehoben, Gewerbefreiheit eingeführt, an die Stelle alter Maße – zum Beispiel Fuß, Scheffel oder Pfund – traten einfach umzurechnende metrische Einheiten wie Zentimeter oder Gramm.
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Der Friedensrichter August Walbaum und seine junge Familie bezogen das größte Haus am Kirchplatz in Halle. Als Luise durch das Deelentor eintrat, kam sie aus dem Staunen nicht heraus: Die tragenden Eichenbalken waren 40 Zentimeter stark und der geräumige Hausflur hatte eine Höhe von sechs Metern. Am anderen Ende war die Küche mit der offenen Feuerstelle. Zwanzig Schritte hatte Luise gezählt, um vom Tor zum Flett zu gelangen. Der Wohnraum war riesig: Es gab einen Saal, acht schöne, große Zimmer, die beheizbar waren, dazu fünf Schlafkammern – verteilt über die beiden Etagen des Hauses. Im...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-7578-9551-7 / 3757895517 |
ISBN-13 | 978-3-7578-9551-8 / 9783757895518 |
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