Am kürzeren Ende der Sonnenallee (eBook)

Mit einem Nachwort von Jonathan Franzen
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2023 | 1. Auflage
176 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-31007-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Am kürzeren Ende der Sonnenallee -  Thomas Brussig
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Thomas Brussig erzählt vom Aufwachsen in einer Diktatur - mit einem Nachwort von Jonathan Franzen
Am kürzeren Ende der Sonnenallee, gleich neben der Berliner Mauer, wohnt Micha Kuppisch. Wenn er aus der Haustür tritt, hört er die Rufe westlicher Schulklassen vom Aussichtspodest: 'Guck mal, 'n echter Zoni!' Micha aber hat eine andere Sorge: Miriam. Sie ist das schönste Mädchen weit und breit, doch leider schon vergeben. Pointenreich erzählt Thomas Brussig, wie im Schatten der Mauer auch die Sonne schien. Miriam, Micha und seine Freunde lieben und lachen, tricksen und träumen. Sie hören Jimi Hendrix, angeln Liebesbriefe aus dem Todesstreifen und erschaffen sich erfindungsreich ihre eigene Welt. Und erst später wird ihnen klar, dass sie unheimlich komisch waren ...

Thomas Brussig, 1964 in Berlin geboren, hatte 1995 seinen Durchbruch mit »Helden wie wir«. Es folgten u.a. »Am kürzeren Ende der Sonnenallee« (1999), »Wie es leuchtet« (2004) und »Das gibts in keinem Russenfilm« (2015). Seine Werke wurden in über 30 Sprachen übersetzt. Thomas Brussig ist der einzige lebende deutsche Schriftsteller, der mit einem seiner literarischen Werke wie auch mit einem Kinofilm und einem Bühnenwerk ein Millionenpublikum erreichte.

Die Verdonnerten


Sie trafen sich immer auf einem verwaisten Spielplatz – die Kinder, die auf diesem Spielplatz spielen sollten, waren sie selbst gewesen, aber nach ihnen kamen keine Kinder mehr. Weil kein Fünfzehnjähriger der Welt sagen kann, daß er auf den Spielplatz geht, nannten sie es »am Platz rumhängen«, was viel subversiver klang. Dann hörten sie Musik, am liebsten das, was verboten war. Meistens war es Micha, der neue Songs mitbrachte – kaum hatte er sie im SFBeat aufgenommen, spielte er sie am Platz. Allerdings waren sie da noch zu neu, um schon verboten zu sein. Ein Song wurde ungeheuer aufgewertet, wenn es hieß, daß er verboten war. Hiroshima war verboten, ebenso wie Je t’aime oder die Rolling Stones, die von vorne bis hinten verboten waren. Am verbotensten von allem war Moscow, Moscow von »Wonderland«. Keiner wußte, wer die Songs verbietet, und erst recht nicht, aus welchem Grund.

Moscow, Moscow wurde immer in einer Art autistischer Blues-Ekstase gehört – also in wiegenden Bewegungen und mit zusammengekniffenen Augen die Zähne in die Unterlippe gekrallt. Es ging darum, das ultimative Bluesfeeling zu ergründen und auch nicht zu verbergen, wie weit man es darin schon gebracht hat. Außer der Musik und den eigenen Bewegungen gab es nichts, und so bemerkten die vom Platz es erst viel zu spät, daß der ABV plötzlich neben ihnen stand, und zwar in dem Moment, als Michas Freund Mario inbrünstig ausrief »O Mann, ist das verboten! Total verboten!« und der ABV den Recorder ausschaltete, um triumphierend zu fragen: »Was ist verboten?«

Mario tat ganz unschuldig. »Verboten? Wieso verboten? Hat hier jemand verboten gesagt?« Er merkte schnell, daß er damit nicht durchkommen würde.

»Ach, verboten meinen Sie«, sagte Micha erleichtert. »Das ist doch Jugendsprache.«

»Der Ausdruck verboten findet in der Jugendsprache Anwendung, wenn die noch nicht volljährigen Sprecher ihrer Begeisterung Ausdruck verleihen wollen«, sagte Brille, der schon so viel gelesen hatte, daß er sich nicht nur die Augen verdorben hatte, sondern auch mühelos arrogant lange Sätze sprechen konnte. »Verboten ist demnach ein Wort, das Zustimmung ausdrückt.«

»So wie dufte oder prima«, meinte Wuschel, der so genannt wurde, weil er aussah wie Jimi Hendrix.

»Sehr beliebt in der Jugendsprache sind auch die Ausdrücke urst oder fetzig«, sagte Brille.

»Die aber auch nur dasselbe meinen wie stark, geil, irre oder eben – verboten«, erklärte der Dicke. Alle nickten eifrig und warteten ab, was der ABV dazu sagen würde.

»Jungs, ihr wollt mich wohl für dumm verkaufen«, sagte der. »Ich glaube eher, daß ihr euch darüber unterhalten habt, daß es total verboten ist, einen Reisepaß, den eine Bürgerin der BRD verloren hat, nicht abzugeben, wenn man ihn findet.«

»Nein«, sagte Micha. »Das heißt ja – also wir wissen natürlich, daß es total verboten ist, einen Reisepaß, den man findet, nicht abzugeben. Aber darüber haben wir uns nicht unterhalten, Herr Wachtmeister.«

»Obermeister!« belehrte der ABV streng. »Ich bin kein Wachtmeister, sondern Obermeister. Das ist ein Unterführerdienstgrad. Erst ist man Oberwachtmeister, dann Hauptwachtmeister, Meister und Obermeister. Aber nächste Woche werde ich Unterleutnant. Das ist ein Offiziersdienstgrad.«

»Das ist ja interessant. Herzlichen Glückwunsch!« sagte Micha, der erleichtert war, daß der ABV vergessen hatte, weshalb er eigentlich auf dem Platz war. Anstatt dem Verbotenen nachzugehen, deklamierte er Dienstgrade herunter.

»Nach Unterleutnant kommt Leutnant, Oberleutnant, Hauptmann, Major, Oberst – alles Offiziersdienstgräder.« Micha haute Brille in die Seite, der ausgerechnet jetzt, als sich die Laune des ABV besserte, Luft holte, um dessen Pluralbildung zu korrigieren.

»Dann die Generalsdienstgräder: Generalmajor, Generaloberst, Generalleutnant, Armeegeneral – fällt euch was auf?«

»Es gibt ’ne ganze Menge Dienstgräder«, sagte Wuschel, der sich so wenig wie die anderen für Dienstgrade interessierte. »Aber Ihrer scheint noch ziemlich weit unten zu sein.«

»Sie haben in Ihrer Karriere das Schönste noch vor sich«, vermutete der Dicke, der Wuschels Gedanken aufgriff und freundlicher formulierte.

»Nee, Jungs! Wenn ihr besser aufgepaßt hättet, dann hättet ihr selbst bemerkt, daß bei den Offizieren der Leutnant weit unterm Major ist, obwohl dann, bei den Generälen, der Generalleutnant überm Generalmajor steht.«

»Wie ist denn das möglich?« fragte Mario ungläubig.

»Die Letzten werden die Ersten sein«, sagte Brille. »Das steht …« Er sprach nicht weiter, weil ihn Micha wieder in die Seite haute.

»Nächste Woche werde ich Unterleutnant, und dann wird hier durchgegriffen«, sagte der ABV entschlossen. »Wenn einer von euch einen Reisepaß einer BRD-Bürgerin findet, ist der bei mir abzugeben. Verstanden?«

»Wie heißt sie denn, die BRD-Bürgerin?« fragte Brille, der es wieder ganz genau wissen wollte.

»Ihr habt natürlich jeden Reisepaß, den ihr findet, bei mir abzugeben. Aber der Paß, der verloren wurde, gehört einer Helene Rumpel. – Wie heißt die BRD-Bürgerin?«

»Helene Rumpel«, antwortete Mario. Mario hatte die längsten Haare und galt deshalb als der Aufsässigste. Wenn Mario dem ABV brave Antworten gab, dann konnte der ABV das Gefühl haben, daß er sich auf dem Platz durchgesetzt hatte.

»Genau, Rumpel, Helene«, wiederholte der ABV, und die Jungs nickten. Dann wollte der ABV gehen, aber nach drei Schritten fiel ihm noch was ein, und er kam zurück.

»Und was war das vorhin für ein Lied?« fragte er lauernd, suchte die Start-Taste des Recorders und Moscow, Moscow begann von neuem. Micha rutschte das Herz in die Hose. Der verbotenste der verbotenen Songs! Der ABV hörte zu und nickte schließlich mit Kennermiene.

»Wessen Tonträger?« fragte der ABV. »Na? Wem seine Kassette ist das?«

»Eigentlich ist das meine«, sagte Micha.

»Aha! Die nehm ich mal mit. Ich leg nämlich selbst auch ganz gerne auf, im Kreise der Kollegen.« Micha schloß vor Entsetzen die Augen, als er sich das vorstellte. Er hörte nur noch, wie der ABV im Gehen munter rief: »Na, Jungs, so ein Hobby hättet ihr mir bestimmt nicht zugetraut, oder?«

Nach einer Woche war der ABV nicht vom Obermeister zum Unterleutnant befördert, sondern zum Meister degradiert worden. Und er begann, Micha zu schikanieren, indem er sich von ihm immer den Personalausweis zeigen ließ. Wann immer Micha ihm über den Weg lief, hieß es: »Guten Tag, Meister Horkefeld, Fahndungskontrolle. Ihren Personalausweis bitte.«

Die ersten Male nahm Micha das Wort Fahndungskontrolle sehr ernst und vermutete, daß Moscow, Moscow-Hörer früher oder später auf die Fahndungslisten kommen. Später reimte er sich zusammen, daß der ABV tatsächlich Moscow, Moscow im Kreise der Kollegen gespielt hatte, vermutlich sogar auf dem großen Polizeiball anläßlich der Beförderungen. Und da Moscow, Moscow so unbeschreiblich verboten war, mußte es im Festsaal einen Riesenskandal gegeben haben. Micha konnte sich die Szene gut vorstellen: Der Polizeipräsident persönlich wird nach vorn gestürmt sein, um mit einem Gummiknüppel auf die Lautsprecherboxen einzuschlagen, während der Innenminister seine Dienstwaffe gezogen haben wird, um mitten im Lied den Kassettenrecorder zu zerschießen. Dann werden beide gleichzeitig dem ABV die beiden nagelneuen Unterleutnant-Schulterstücken wieder heruntergerissen haben. Daß es sich so, wenn nicht noch schlimmer, abgespielt hatte, mußte Micha vermuten, nachdem er viele Male erlebte, wie grimmig ihn der ABV bei den Ausweiskontrollen behandelte.

Wenn der ABV die Kassette mit Moscow, Moscow nicht an sich genommen hätte, dann wäre Michas erster Liebesbrief auch nicht in den Todesstreifen geflattert. Die Angelegenheit war kompliziert und ist demnach nicht leicht zu erklären, aber mit Moscow, Moscow hatte es im weitesten Sinne zu tun. Micha konnte sich nicht mal sicher sein, ob dieser Brief überhaupt an ihn war, und er konnte sich auch nicht sicher sein, ob dieser Brief von dem Mädchen war, von dem er für sein Leben gern einen Liebesbrief bekommen hätte.

Dieses Mädchen hieß Miriam, ging in die Parallelklasse und war ganz offensichtlich die Schulschönste. (Für Micha war sie natürlich auch die Weltschönste.) Sie war das Ereignis der Sonnenallee. Wenn sie auf die Straße trat, setzte ein ganz anderer Rhythmus ein. Die Straßenbauer ließen ihre Preßlufthämmer fallen, die Westautos, die aus dem Grenzübergang gefahren kamen, stoppten und ließen Miriam vor sich über die Straße gehen, auf dem Wachtturm im Todesstreifen rissen die Grenzsoldaten ihre Ferngläser herum, und das Lachen der westdeutschen Abiturklassen vom Aussichtsturm erstarb und wurde durch ein ehrfürchtiges Raunen abgelöst.

Miriam war noch nicht lange an der Schule, in die auch Micha, Mario und die anderen gingen. Niemand wußte etwas Genaues über sie. Miriam war für alle die fremde, schöne, rätselhafte Frau. Strenggenommen war Miriam ein uneheliches Kind, aber auch das wußte keiner. Sie war ein uneheliches Kind, weil ihr Vater mit dem Auto einmal zu früh abgebogen war. Er war auf dem Weg zum Standesamt, wo er Miriams Mutter treffen wollte, die im achten Monat schwanger...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Alltag in der DDR • Berlin • Berliner Mauer • Buch zum Film • Diskussion DDR-Nostalgie • eBooks • Eiserner Vorhang • Erinnerung • Grenze • Jonathan Franzen • Jugend • Leander Haußmann • Leben in der DDR • Michael Kuppisch • Musik • Neuerscheinung • Ostberlin • real existierender Sozialismus • Rolling Stones • Roman • Romane • Sartre • Schießbefehl • Schullektüre • SED • Sonnenallee • Stasi • Todesstreifen
ISBN-10 3-641-31007-5 / 3641310075
ISBN-13 978-3-641-31007-3 / 9783641310073
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