Die Gummistiefel-Prinzessinnen (eBook)
522 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7347-2780-1 (ISBN)
Brigitte Vilgis, geboren 1964 in Brake (Unterweser) blickt auf über 20 erfolgreiche Jahre als Unternehmerin im Bereich Human-Resource und Personaldienstleistungen zurück. Nach einer schwierigen Krise im eigenen Unternehmen und ihrem persönlichen Burn-out entschied sie mit Anfang fünfzig, neue Wege zu gehen. Was dazu führte, dass die Autorin sich das erste Mal im Leben erlaubte, aus dem Hamsterrad auszusteigen und die Reise zu sich selbst anzu-treten.
Norderney
Da sitze ich, Evi Fischbach, fast fünfzig Jahre alt, in Köln am Hauptbahnhof auf einer Bank und der ICE 2203 nach Norddeich scheint nicht startklar zu sein. Typisch für mich. Meine Zwillingsschwester Anna Müller, geborene Fischbach, wird wahrscheinlich pünktlich um fünfzehn Uhr am Anleger der Frisia-Linie stehen. Unser Vorhaben ist, zusammen auf die Insel Norderney überzusetzen.
Ob ich Chaotenfrau es wohl schaffe, wenigstens morgen pünktlich zu unserem Geburtstag bei ihr zu sein? Es ist Jahre her, dass Anna sich tatsächlich dazu entschieden hat, den fünfzigsten Geburtstag gemeinsam auf unserer norddeutschen Lieblingsinsel zu feiern. Wir haben uns über drei Jahre nicht gesehen. Das liegt sicher nicht an Anna. Sie wohnt in unserer Geburtsstadt Brake und kümmert sich dort um alles Mögliche und alle Menschen. So kommt es bei mir jedenfalls in unseren Gesprächen rüber.
Meine Wenigkeit machte sich ziemlich schnell nach bestandenem Abitur aus dem Staub. Die Welt wollte erobert werden und unser Dorf war mir zu eng und perspektivlos. Ich wollte nicht wie Anna in die Fußstapfen unserer Mutter treten. Einen netten Ehemann, der das Geld nach Hause brachte, zwei bis drei Kinder, eine Teilzeitstelle zu gegebener Zeit und im Dorf versauern, ohne das Leben wirklich gelebt zu haben.
Anna fand diese Aussicht im Gegensatz zu mir entspannend und erstrebenswert. Wer wusste schon, was uns da draußen in der Weltgeschichte passieren könnte, wenn wir die Sicherheit unserer Gemeinschaft hinter uns ließen, behauptete Anna ständig. Durch die Medien und Gespräche bekamen wir so manches mit. Das reizte mich umso mehr, die Welt zu erobern.
Mein Vater vertrat die Meinung, dass im Dorf alles seinen Gang gehen würde und man auf alles vorbereitet sei.
Auf was eigentlich?, fragte ich ihn damals oft. Meine zwei Brüder Jan und Kai durften wenigstens zur Bundeswehr. Weg von zu Hause und mal andere Luft schnuppern. Darum beneidete ich sie.
Was führte ich mit meinem Vater für nicht enden wollende Diskussionen! Seine Devise war deutlich und ließ keine Alternativen zu. Ein Mädchen heiratet, bekommt Kinder, versorgt Mann und Familie und darf sich gerne ehrenamtlich oder in der Kirche betätigen. Ende! Wofür hatte ich ein ausgezeichnetes Abitur gemacht? Da musste mehr drin sein in meiner Lebensgeschichte. Den Erstbesten heiraten kam für mich überhaupt nicht in Betracht. Warum sollte ich mich denn gleich festlegen?
Bei meiner Mutter Hilde sah und verurteilte ich, wie abhängig sie von Vater war. Er bestimmte und sie hatte sich zu fügen. Wenn ich eins nicht wollte, dann jung heiraten, Kinder zur Welt bringen und mich unter die Knute eines Mannes begeben, von dem ich finanziell abhängig war.
Nächtelang diskutierte ich mit Anna darüber. Für meine Schwester war ihr Werdegang klar, sie freute sich auf ein Familienleben und meine Argumente tat sie als Spinnerei ab. Wenn ich nicht aufpassen würde, bekäme ich sowieso keinen Mann mehr ab und würde enden wie die Schwestern Edda und Erna Tönjes, sagte sie.
Die beiden Frauen mussten im Alter weiterhin Porzellan und Schreibwaren verkaufen, hielt Anna mir vor, um über die Runden zu kommen, und würden als alte Jungfern sterben.
Bei den Schwestern habe ich meinen ersten Glühwein getrunken. Das habe ich Anna nie erzählt. Und die zwei Frauen hatten eine Menge Spaß, auch ohne Ehemänner. Aber das wusste nur ich, weil ich ihnen in den Sommerferien mehrfach im Laden ausgeholfen hatte. Das war eine witzige Zeit und sie zeigten mir Bilder, als sie in jungen Jahren in Indien waren. Sogar auf Ibiza lebten sie eine Zeit lang in einer wilden Aussteiger-Clique.
Das durfte ich niemandem erzählen, sonst hätte keiner der Dorfbewohner mehr Sammelservices für Hochzeiten bei ihnen bestellt.
Der Bahnhofslautsprecher holt mich zurück in die Gegenwart. Ich höre den Hinweis, dass mein Zug mit einer Stunde Verspätung kommt. Somit besteht Hoffnung, dass ich rechtzeitig die MS Frisia erreiche, um gemeinsam mit Anna in Richtung unseres fünfzigsten Geburtstages zu schippern. Ich schaue auf das Ticket in meiner Hand. Wagen sieben, Platz zweiundneunzig am Fenster, so ist der Plan. Das hat Anna für mich organisiert. Ich hätte wahrscheinlich auf dem letzten Drücker eine Fahrkarte gekauft, ohne Platzreservierung. Meistens ergibt sich alles andere von selbst, ohne vorherige Bestimmung. So war das immer in meinem Leben.
Endlich fährt der Zug in den Bahnhof ein. Die Türen öffnen sich, ich suche den Platz auf. Erst mal verstaue ich das Gepäck, was nicht einfach ist in einem ICE. Irgendwie sind Züge nicht fürs Verreisen mit Gepäck geschaffen. Danach versuche ich mich auf meinem Platz einzurichten. Rechts neben mir sitzt ein geschäftsmäßig aussehender Mann mit Laptop und gegenüber nehme ich den gleichen Typ Mann mit Tablet wahr. Der Tisch ist belegt mit Tageszeitungen, Laptops und Handys.
Zum Glück kann ich aus dem Fenster schauen. Während wir über die Kölner Rheinbrücke fahren, wandern die Gedanken zu meiner ersten abenteuerlichen Zugreise. Das war in den Achtzigerjahren, gemeinsam mit Oma Clara. Ursprünglich lud sie Anna und mich zur bestandenen Abiturprüfung ein. Anna hatte damals nicht die richtige Lust zu verreisen und war froh, als es hieß, es müsse einer von uns Mädels zu Hause bei der Mutter bleiben und ihr zur Hand gehen. Vater und die Jungs wollten bekocht werden und die Wäsche wusch sich nicht von allein. Ich war froh, der Hausarbeit zu entkommen und etwas von der Welt zu sehen, Anna dagegen schien erleichtert, nicht mitreisen zu müssen.
Damals fuhr ich mit Vater Anfang Mai zu Oma Clara nach Frankfurt. Sie lebte seit Jahren allein und kannte das Allgäu, in dem sie aufgewachsen war, und den Raum Frankfurt, wo sie in einem Haushalt gearbeitet hatte. Von der Welt hatte sie nie etwas anderes zu sehen bekommen. Als Rentnerin wollte Oma endlich eine Reise machen. Bereits als junges Mädchen träumte sie von einem Frühling auf der italienischen Insel Ischia. Den Spielfilm Kleopatra aus dem Jahr 1963 mit Liz Taylor und Richard Burton hatte sie unzählige Male verschlungen. Somit sollte unser Ziel die Insel Ischia sein. Mit dem Flugzeug zu reisen, wäre Oma zu teuer gewesen. Außerdem hätte sie mindestens tausend Rosenkränze beten müssen, bevor sie in so ein Höllending, wie sie Flugzeuge nannte, eingestiegen wäre. Oma Clara hatte sich für eine Pauschalreise mit Bahn, Taxi, Fähre und Hotel mit Vollpension entschieden.
Vater brachte uns zum Frankfurter Bahnhof. Oma war aufgeregt und hörte gar nicht mehr auf, zu überprüfen, ob sie alles bei sich hatte. Mir ging es nicht anders, meine erste Reise ins Ausland. Meinem Vater war das alles sowieso nicht geheuer, daraus machte er keinen Hehl mit seinen ständigen Ermahnungen. Machte er sich bereits jetzt größte Sorgen um seine strohblonde Tochter bei den feurigen Italienern. Der Alpensee Express fuhr in den Frankfurter Hauptbahnhof ein, und wir machten uns auf die Suche nach dem gebuchten Abteil, einen Liegewagen. Ein komplettes Abteil für uns allein wäre Oma zu teuer gewesen. Beim Betreten der Kabine stellten wir fest, dass wir die kommenden fünfzehn Stunden mit einer älteren Dame verbringen würden. Diese verstaute gerade einen exotisch aussehenden Rucksack im Gemeinschaftsabteil. Sie stellte sich uns als Katharina vor und machte trotz des fortgeschrittenen Alters einen lustigen und lebendigen Eindruck, den ihre vielen Lachfalten untermalten.
Nachdem unser Gepäck untergebracht war, nahmen Oma und ich die reservierten Plätze ein und schauten, wie die abendliche Landschaft an uns vorbeiflog. Der Zug fuhr in der Nacht, sodass wir einen Großteil der Fahrzeit verschlafen würden. Reisen machte hungrig!
Mein Magen knurrt, der Hunger holt mich zurück aus meiner Träumerei in der Vergangenheit. Der Zug befindet sich auf dem Abschnitt zwischen Münster und Rheine.
Damit ich bei meiner Ankunft auf Norderney nicht halb verhungert bin, werde ich schauen, was die Deutsche Bundesbahn Köstliches im Speisewagen anbietet. Ich blicke meinen Sitznachbarn an und reiße ihn damit wohl aus einem wichtigen Telefonat. Etwas ungehalten und mit hochgezogenen Augenbrauen lässt er mich vom Fensterplatz aufstehen und an ihm vorbeigehen. In dem Moment kommen mir folgende Gedanken in den Sinn. Ob er täglich mit Freude aufsteht und seiner Arbeit nachgeht? Die Vorstellung, dass er jeden Abend mit einem zufriedenen Lächeln und glücklich seufzend ins Bett fällt und wohlwollend auf den Tag zurückschaut, will mir nicht so recht gelingen. Vielleicht soll ich ihm meine Reiselektüre empfehlen: Das Café am Rande der Welt von John Strelekey.
Ich bedanke mich bei ihm und mache mich auf den Weg ins Restaurant, ich brauche dringend etwas Leckeres, um das Knurren im Bauch zu stillen. Der Speisesaal ist gut besucht und ich frage drei nett rüberkommende Damen, die offensichtlich zusammen verreisen, ob ich mich dazu setzen darf.
Wir kommen ins Gespräch. Die Frauen kommen aus Düsseldorf und wollen ebenfalls in die Georgshöhe. Dieses recht bekannte Strandhotel auf Norderney haben Anna und ich auch gewählt. Eine der Frauen empfiehlt mir die leckere Kartoffelsuppe. Während ich auf die Bestellung warte, vertiefen sich die Damen in eine Unterhaltung und meine Gedanken wandern zurück zu Omas und meinem Abteil im Alpen-See-Express.
Damals in den Achtzigern gingen die Reisenden in den Speisesaal, die ein dickes Portemonnaie besaßen, es sich somit leisten konnten. Die gute Oma Clara hatte klassischen Reiseproviant vorbereitet. Belegte Brote, gekochte Eier und eine Thermoskanne mit gesüßtem Pfefferminztee. Katharina, die lieber Katie genannt werden wollte, holte aus...
Erscheint lt. Verlag | 25.1.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7347-2780-4 / 3734727804 |
ISBN-13 | 978-3-7347-2780-1 / 9783734727801 |
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Größe: 891 KB
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