Emmy Lou - Das Schneewittchen und die 7 Goldgräber (eBook)
316 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-0597-6 (ISBN)
Die Romanreihe "Emmy Lou" stammt aus der Feder von Tobias Sessler. Der in Deutschland geborene Schriftsteller hat an der Friedrich-Schiller-Universität studiert und widmet sich seit vielen Jahren dem Verfassen belletristischer Literatur.
- Kapitel 2 -
Im Auftrag des Herrn
02. September 1869, 03:17 p.m. Wenn man in Darlington ein Haus bauen wollte, so beauftragte man für gewöhnlich den Zimmermann Morgan Wooley mit der Planung und der Ausführung der Arbeiten. Nahezu alle Einwohner der Gemeinde kamen dann zusammen und errichteten gemeinsam ein Ständerwerk aus passgenau zugesägten und stabil verzapften Balken, das schon 2 oder 3 Tage später überdacht werden konnte. Gleich nach der Fertigstellung des Giebels gab es dann immer ein Fest, bei dem den fleißigen Helfern Apfelkuchen vom Blech gereicht wurde. Bei den 7 Goldgräbern war es freilich anders gewesen. Sie hatten weder Morgan Wooley für die Zimmermannsarbeiten herangezogen noch hatten sie zum Richtfest einen Kuchen gebacken. Nein, sie hatten ihre Bruchbude in den Hellfire Banks ganz allein zusammengeschustert und dabei waren sie ganz ohne Sinn und Verstand vorgegangen. Die Dennings-Brüder hatten alles so bemessen, dass es ihrer geringen Körpergröße gerecht wurde und das hatte nun zur Folge, dass ein durchschnittlich gewachsener Mensch erhebliche Schwierigkeiten beim Betreten des Gebäudes hatte. Man sah dies dem Haus schon von außen an – das Schneewittchen bemerkte den miniaturistischen Charakter der schiefen Hütte aber erst, nachdem es in gehörigem Tempo mit der Stirn gegen den oberen Querbalken der Tür gelaufen war. Das hatte weh getan und so konnte die junge Frau mit der Platzwunde das Haus der Zwerge erst beim zweiten Versuch betreten.
»Mein Gott, diese kleinen Dreckskerle besitzen vermutlich noch nicht einmal einen Besen…«, murmelte das in gebückter Haltung unter dem Gebälk stehende Schneewittchen, während es angewidert den schmutzigen Boden betrachtete. Die klebrige Staubschicht auf den Dielen hatte gut und gern die Dicke eines Fingers und man sollte doch tunlichst langsam hindurchgehen, wenn man nicht auf eine der geschäftig hin und her eilenden Mäuse treten oder in einer grauen Wolke verschwinden wollte. Ansonsten war die Bruchbude aber recht übersichtlich eingerichtet. Die Frau mit dem zitronengelben Kleid erkannte im Halbdunkel eine erloschene Feuerstelle, unter deren Abzug ein kupferner Kessel hing. In der Ecke stand ein deckenhohes Regal, das mit Lebensmitteln gefüllt war. Sonderlich abwechslungsreich schien der Speiseplan der Zwerge nicht zu sein, denn nahezu das gesamte Aufbewahrungsmöbel war mit Steckrüben vollgestapelt. Gleich daneben lehnten noch zwei große Säcke mit Mehl, aus dem man wohl noch das eine oder andere Fladenbrot backen konnte. Vor dem Fenster – es enthielt keine Glasscheibe und war mit hölzernen Läden verschlossen – gab es einen langen Esstisch zu bestaunen. Er war von 7 kleinen Stühlen umringt. An der gegenüberliegenden Wand, also im hinteren Teil des Raumes, standen die Betten der 7 Goldgräber und wenn man den Kopf zuletzt noch nach links drehte, so sah man einen wuchtigen Kleiderschrank und zwischen allerlei sinnlos angelehnten Brettern noch eine leise tickende Standuhr, deren Pendel gemächlich hin und her schwang.
Das Schneewittchen stieß mit einem wohlüberlegten Faustschlag die Fensterläden auf, so dass ein wenig Licht hereinkommen konnte. Dann setzte es sich auf einen Stuhl, wobei es feststellte, dass dessen Beine so kurz waren, dass die Knie auf Brusthöhe kamen und man getrost das Kinn darauf ablegen konnte. Obwohl dies nicht sonderlich bequem war, prüfte die junge Frau sogleich den Inhalt der Schüssel, die in der Mitte des Tisches stand. Sie steckte den Finger hinein und führte ihn vorsichtig zwischen ihren blutroten Lippen hindurch. Das war ein kalter, ungezuckerter Brei. Ein Haferbrei ohne alles, der vermutlich vor etwa 3 Tagen gekocht worden war. Mithin griff die Frau zu einer Flasche, die gleich neben der Schüssel auf dem Tisch stand und versuchte, mit deren Inhalt die Speise zu verfeinern. Das musste ein Apfelmost aus dem Krämerladen der Bowers sein. Nachdem der Brei unter Zuhilfenahme der darin steckenden Schöpfkelle umgerührt war, wurde er erneut verkostet. Obwohl der Saft – er musste bereits seit einem Monat offen auf dem Tisch gestanden haben – bereits zu Essig vergoren war, schmeckte ihr das doch gleich viel besser. Mithin angelte sich das hungrige Schneewittchen einen Löffel aus der Schublade, die unter der Tischplatte angebracht war und leerte damit die halbe Schüssel. Als es satt war, blickte es sich nochmals um. Wo hatten die Dennings-Brüder das Gold versteckt? Das Schneewittchen biss sich nachdenklich auf die Lippen. Wo versteckte man denn im Allgemeinen seine Kostbarkeiten? Natürlich! Die verbarg man unter den Matratzen. Genau da musste das Gold sein!
Die Frau mit dem gelben Kleid eilte zu den 7 Betten und untersuchte das erste von links. Sogleich verzog sie enttäuscht das Gesicht. Hier gab es gar keine Matratze. Die Bodenbretter des Schlafmöbels waren lediglich mit einem dünnen Tuch und etwas darübergestreutem Stroh bedeckt. War das überhaupt ein Bett? Das Ganze erinnerte doch eher an einen aus Brettern zusammengenagelten Kasten, der oben offen war. Nichtsdestotrotz kletterte das Schneewittchen hinein, um alles auf das Genaueste zu untersuchen. Aber da war nichts. Das Bett war nichts anderes als ein einfacher Kasten, in dem man leidlich bequem liegen konnte. Zumindest gab es ein kleines Kopfkissen.
Nachdem das Schneewittchen ratlos mit den Schultern gezuckt hatte, streckte es sich aus und betrachtete nachdenklich den Stoff, mit dem das Bett ausgeschlagen war. Genau wie das Kopfkissen, auf dem die Wange der Frau lag, war er aus Leinen gemacht und musste früher einmal ganz weiß gewesen sein. Man hatte ihn in dutzende Falten gelegt und ganz ordentlich an der Innenseite des Kastens angenagelt. Wozu sollte das eigentlich gut sein?
Die junge Frau, die das erste Mal in den Hellfire Banks war, kaute nachdenklich an ihren Fingernägeln, denn sie hatte diesen Stoff schon einmal gesehen. Er lag ganz unten in einem Regal in Mary Rosewoods Werkstatt. Die Schneiderin bügelte die handbreiten Falten hinein, nähte am oberen Rand ein Rüschenband an und übergab das Ganze dann an Graham Riddle. Der Totengräber kleidete damit die von ihm gefertigten Holzkästen aus, damit man bei der Beerdigung einen schönen Anblick auf den Verstorbenen…
Das Schneewittchen beendete den Gedanken nicht. Es starrte mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf eine der sorgfältig eingebügelten Falten im Leinenstoff. Das war kein Bett. Das war... Das war… Oh mein Gott, das war ein Sarg!
Die junge Frau stieß einen Schrei aus. Sie sprang so schnell aus dem Totenkasten, dass man es kaum glauben konnte. Zum zweiten Mal an diesem Tag rannte sie mit dem Kopf gegen den oberen Türbalken – nun von der Innenseite her. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte, kroch sie auf allen Vieren ins Freie, wo sie schließlich am Fuße des mit den unverrotteten Blättern bedeckten Hanges zum Sitzen kam.
»Oh mein Gott. Oh mein Gott…«
Es dauerte fast 5 Minuten, bis sich das laut pochende Herz des Schneewittchens beruhigt hatte.
»Nimm dich zusammen, Sue! Es muss doch eine logische Erklärung dafür geben.«
Für alles gab es eine vernünftige Erklärung! Für ausnahmslos alles! Sue Carson hatte die Dennings-Brüder an unzähligen Abenden im Saloon betrunken gemacht, damit sie am Pokertisch von ihrem Bruder Eddie nach Strich und Faden ausgenommen werden konnten. Nicht einen einzigen Whisky hatten die kleinen Dreckskerle selbst bezahlt. Obwohl sie vermutlich genug Gold in ihrer Mine hatten, um halb Texas kaufen zu können, waren sie doch zu geizig, um auch nur einen einzigen Drink zu spendieren. Und genau das war des Rätsels Lösung.
Die junge Frau stand auf und streckte wie eine Lehrerin den Zeigefinger in die Luft. Obwohl sie nicht genau wusste, was die betreffenden Möbelstücke kosten mochten, stellte sie eine ausgesprochen schlaue Überlegung an. Wenn der Zimmermann Morgan Wooley für die Anfertigung eines Bettes 5 Dollar und der Totengräber Graham Riddle für die Herstellung eines Sarges 4 Dollar verlangten, dann war doch ganz klar, wofür sich die knausrigen Goldgräber entschieden. Ein Sarg war billiger als ein Bett. Das war alles. So ein Sarg war ja auch nichts anderes als ein hölzerner Kasten. Offenbar hatten sich die Dennings-Brüder gleich 7 davon bestellt, nach Hause getragen und zu Schlafmöbeln umfunktioniert. Vermutlich hatten sie sogar noch einen ordentlichen Mengenrabatt ausgehandelt. So musste es gewesen sein. Und ja, die neben der Standuhr an der Wand lehnenden Bretter waren nichts anderes als die dazugehörenden Sargdeckel, die offensichtlich im Preis inbegriffen gewesen waren. Sue Carson tastete vorsichtig die beiden schmerzenden Platzwunden auf ihrer Stirn ab und blickte von außen durch das Fenster des Hauses. Dann schüttelte sie sich und ging wieder hinein.
Das Schneewittchen kletterte in einen der weiter rechts stehenden Särge, um auch hier die Bodenbretter zu untersuchen. Nach einer Weile war es sich sicher, dass hier weder Gold noch sonstige Kostbarkeiten versteckt waren. Mithin streckte es sich – von der Müdigkeit übermannt – aus und schloss die Augen. Was war schon dabei? Es waren ja nur längliche Kisten aus...
Erscheint lt. Verlag | 3.11.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7568-0597-2 / 3756805972 |
ISBN-13 | 978-3-7568-0597-6 / 9783756805976 |
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