Grenzfahrt (eBook)

Roman | Atemlose Kriegserzählung von poetischer und existentieller Wucht

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
355 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77553-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Grenzfahrt - Andrzej Stasiuk
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Juni 1941, wenige Tage vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion. Im Dorf am Bug haben sich deutsche Besatzungssoldaten einquartiert, in der Nähe verstecken sich polnische Partisanen. Jeder hier weiß, dass Lubko, der Fährmann, gegen Geld Fliehende und Händler ans andere Ufer rudert. Doris und Maks, ein jüdisches Geschwisterpaar aus der Stadt, wollen sich vor Verfolgung retten - hinüber nach Russland, am besten bis an den Amur. Doch Lubko weigert sich. Was er tut, ist gefährlich, macht ihn erpressbar, und die Nächte in jenen Tagen sind mondlos.

Das Geschehen scheint sich aus der verträumten, nächtlichen Flusslandschaft zu entwickeln, die fremd und bedrohlich wirkt, seit Motorräder, Lastwagen und Panzer hindurch rollen und deutsche Wörter durch die Luft schwirren.

Die Lektüre schlägt sofort in Bann, auch weil Grenzfahrt eine weitere Dimension öffnet - die der Erinnerung. Zurück in jenem Dorf, am Ende des Lebens, will dem Vater des Erzählers nicht mehr einfallen, dass er hier Kind war. Wie Stasiuk diese Episoden in die atemlose Kriegserzählung hineinwebt, verleiht dem Roman seine poetische und existentielle Wucht.

<p>Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband <i>Mury Hebronu (Die Mauer von Hebron)</i>, in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden.</p> <p>1994 erschienen <i>Wiersze milosne i nie (Nicht nur Liebesgedichte)</i>, 1995 <i>Opowiesci Galicyjskie (Galizische Erzählungen)</i> und <i>Bialy Kruk (Der weiße Rabe;</i> 1998 bei Rowohlt Berlin), 1996 der Erzählband <i>Przez rzeke (Über den Fluss</i>; diesem Band ist <i>Die Reise</i> entnommen) und 1997 <i>Dukla</i>.</p> <p>2002 erhält er den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis. Den literarischen Jahrespreis Nike<i> </i>erhielt Andrzej Stasiuk 2005 für sein Buch <i>Unterwegs nach Babadag. </i></p> <p>Sein vielfach ausgezeichnetes Werk erscheint in 30 Ländern. 2016 wurde er mit dem Staatspreis für europäische Literatur 2016 ausgezeichnet.</p>

1


Er spürte, dass er den Boden verlor, und beugte sich etwas weiter hinunter, doch das Ruder reichte kaum bis zum Grund, und die Strömung drehte es ihm aus den Händen. Er richtete sich auf und ließ sich flussabwärts treiben, bis das Boot von einem Strudel angezogen wurde und sich zu drehen begann. Da tauchte er das Blatt ein, stützte den Stiel an die Bordwand und geriet wieder in glatte Strömung. Es war dunkel und still. Manchmal platschte ein Fisch, und er stellte sich vor, er sähe das silbrige Blitzen. Vielleicht sah er es wirklich, denn sein Gedächtnis hatte ein genaues Bild der Umgebung gespeichert. Am linken Ufer konnte er die hohen Pappeln zählen. Er konnte die Namen der Besitzer nennen, denen die Anwesen gehörten. Er wusste, wo die zusammenhängende Bebauung endete und nur noch drei einsame Häuser kamen, die fast einen Kilometer auseinanderlagen. Er wusste, wo der Fluss, unter dem hohen Ufer ein paar Meter tief, ganz plötzlich seicht wurde und in kleinen, schilfbewachsenen Buchten in Land überging. Auch die Gerüche des linken und des rechten Ufers konnte er erkennen. Das linke roch nach Schlamm und Weidengebüsch. Das rechte war flach, sandig und baumlos. Dort weideten Tiere, und ihr Geruch hing in der Luft, mischte sich mit dem von getrocknetem Dung und Wermut. Im Sommer witterte er selbst in finsterster Nacht und konnte sich in der Mitte des Flusses halten. So wie jetzt.

Vorsichtig tat er das Ruder auf die andere Seite. Das nasse Holz machte ein dumpfes, weiches Geräusch. In der Ferne hörte er ein trockenes Krachen, und der Himmel leuchtete grünlich. Auf dem Boden des Bootes bewegte sich etwas Dunkles.

»Bleib liegen.«

Die Rakete stand fast reglos am schwarzen Himmel und sah aus wie ein finsterer Stern. Intuitiv bewegte er das Ruder stärker, obwohl er wusste, dass die Rakete ein paar Kilometer flussaufwärts abgeschossen worden war und er selbst sich völlig im Dunkeln befand. Wieder bewegte sich die Gestalt, und das Boot schwankte leicht.

»Sie schießen.«

»Bleib liegen. Sie leuchten nur.«

»Sie werden uns sehen.«

»Nein. Es ist zu weit. Bleib liegen.«

Der Mann auf dem Grund des Bootes kroch auf ihn zu. Der Fährmann nahm das Ruder aus dem Wasser und versetzte ihm mit dem beschlagenen Ende einen Stoß. Der andere ächzte und legte sich wieder flach.

»Ich hab's dir gesagt.«

Die Rakete brannte zu Ende und erlosch.

Schließlich scheuerte das Boot auf Sand. Er schob es tiefer in das seichte Wasser. Das Ufer war nicht hoch, aber etwas abschüssig.

»Komm raus«, sagte er.

Der Mann krabbelte ungeschickt aus dem Boot, stolperte, stand mit Mühe wieder auf, zog die durchnässte Jacke hinter sich her. Er stank nach Dreck und Hunger.

»Du kletterst ans Ufer und gehst flussabwärts. Nach einiger Zeit kommst du zu einem Gebüsch. Da gehst du lang, so weit wie möglich weg vom Wasser. Nicht ins Gestrüpp, da ist Sumpf.«

»Jemand hätte warten sollen.«

»Ja, aber er ist nicht gekommen.«

Er stieß das Boot sanft von der Sandbank ab und bewegte ein paarmal das Ruder, damit das Wasser die Spur verwischte. Ein Stück ließ er sich treiben, doch dann ruderte er mit voller Kraft, um so schnell wie möglich die Strömung zu überwinden und ans andere Ufer zu gelangen. Dort war es flach. Er spürte den Grund unter dem Ruder und roch Schlamm und Kuhdung. An dieser Stelle trieben die Leute vom Dorf das Vieh von den Wiesen zur Tränke. Kurz darauf hörte er, wie der Bug am Schilf rieb. Hier entlang glitt er flussaufwärts. Das Ruder tauchte tief in den sumpfigen Grund. Schließlich gelangte er zu einem schmalen Nebenarm, der – durch einen mit Weiden bewachsenen Streifen Festland getrennt – parallel zum Flussbett verlief. Der Arm hatte die Breite von zwei Booten, mehr nicht, und endete blind im Schilf und Weidengestrüpp. Er hatte ihn im vorigen Jahr entdeckt, als er mit der Gliep am Ufer entlangwatete. Jetzt schob er sich ans Ende des Seitenarms und stieg vorsichtig aus, an einem schmalen Stückchen Land ohne Gestrüpp. Mit der Kette machte er das Boot fest und ging ins Wasser. Es reichte ihm nicht ganz bis zur Hüfte. Er löste eine um einen Stängel gewickelte Schnur und holte ein Netz mit Fischen aus dem Wasser. Träge bewegten sie sich. Einer blitzte mit dem silbrigen Bauch. Die Dämmerung brach an. Er griff ins Gestrüpp und zog eine Angel heraus, aus einem Weidenzweig gemacht. Angestrengt watete er zurück in die Strömung und erreichte dann, noch immer im Wasser, die Stelle, wo das Vieh zum Trinken kam, und erst dort stieg er ans trockene Ufer.

Das Dorf schlief noch. Noch heizten sie nicht die Herde. Auch die Hunde schliefen. Auf dem sandigen Weg ging er nach oben. Die nassen Kleider klebten am Körper, ihm war kalt. Er lief etwas schneller. Gleichgültig passierte er den Bildstock an der Stelle, wo sich die Wege kreuzten. Links ging es zur Kirche. Er hielt sich geradeaus. Die Häuser standen dicht, eins neben dem anderen. Es ist still wie am Sonntag, dachte er. Doch es war erst Samstag. Er hörte eine Kette gegen eine Futterkrippe schlagen. Der Sand verklebte ihm die Schuhe. Er zog sie aus, band sie zusammen und hängte sie über die Schulter. Unter der Oberfläche war der Sand warm. Hinter den letzten Häusern bog er rechts ab und ging an einer Windmühle vorbei. Er blickte auf den sandigen Pfad, der zwischen den Feldern leicht abfiel, dann wieder etwas anstieg, um hinter einer fernen Erhebung zu verschwinden. In der Gruppe der hohen Pappeln verbargen sich drei Gehöfte. Verstreut, einen Kilometer oder ein paar Hundert Meter voneinander entfernt, waren sie im morgendlichen Zwielicht fast unsichtbar. Reetgedeckte Holzhäuser. Als wäre da niemand, dachte er. In der Senke, da wo der Pfad abfiel, erstreckte sich ein Streifen feuchter Wiesen. Jetzt sahen sie fast schwarz aus. Er ging noch ein paar Hundert Meter und bog in einen Seitenweg, der sumpfig und zerfahren war. Auf beiden Seiten lag zerdrücktes Getreide, mit Schwarzerde vermischt. Er trat in den Schatten der hohen Pappeln.

Nach ein paar Schritten, als er das deutsche »Halt!« hörte, blieb er stehen. Der Soldat stand unter dem breiten Apfelbaum, die MP über die Schulter gehängt, den Lauf nach vorne, doch den Finger hatte er nicht am Abzug. Mit einem leichten Nicken trat er einen Schritt zurück und lehnte sich wieder an den Baum. Der Fährmann ging am Zaun entlang bis zu dem Eingang, wo ein zweiter Wächter stand.

»Gut Morgen«, brummte er und schob das Törchen auf.

»Morgen«, erwiderte der Soldat und fragte in gebrochenem Polnisch: »Was gibt's?«

»Fische«, sagte er auf Deutsch und hob das Netz hoch.

Der Soldat trat ein Stück näher und betrachtete die Fische. Aus dem Hof kam ein anderer, dann noch einer. Sie unterhielten sich angeregt, doch er verstand nichts. Er hörte nur ein paarmal »Hecht« und »Barsch«, also dachte er sich, sie stritten wohl über die Gattung. Sie drehten das Netz in den Händen und befühlten durch die Maschen die vier Fische, ohne auf den kalten Schleim zu achten.

»Barsch und Plötze. Ich gebe euch die zwei größten für zwei Päckchen Zigaretten«, sagte er und fügte hinzu: »Zwaj fir zwaj.«

Wieder begannen sie zu reden. Der Erste, der mit dem Gewehr, erklärte den anderen etwas und sagte schließlich:

»Dopsche.«

Den Rücken ans Scheunentor gelehnt, saß er da und wärmte sich in der Sonne. Im Blick hatte er die Soldaten. In aufgeknöpften Uniformen liefen sie umher. Sie setzten sich mit ihrem Kochgeschirr an einen Holztisch. Neben dem Brunnen dampfte die Feldküche. Es roch nach erhitztem Fett, Zwiebeln und Tabak. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes sah er das Holzhaus mit dem Steinsockel und dem Reetdach. Zum Eingang führten drei Stufen. Auf die ging ein Koch in weißem Kittel zu und trug ein Tablett mit einem Krug, einem zugedeckten Topf und Tellern. Das Scheunentor war warm. Er rauchte eine Zigarette und sah sich das alles an. Den weißen Kittel, die gescheuerten Kessel neben dem Brunnen, die ruhige Schläfrigkeit des Lagers. Im Obstgarten hinter dem Haus standen Kanonen, die langen Rohre gesenkt. Zwischen den Bäumen waren Tarnnetze aufgespannt. Bei manchen Bäumen war die Rinde abgeschält. Die Raupenschlepper hatten sie genauso getarnt. Über Hunderte, Tausende Kilometer...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2023
Übersetzer Renate Schmidgall
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1941 • aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Bug • Fährmann • Fluchthelfer • Jüdisch • moderne polnische Literatur • Neuerscheinungen • neues Buch • Partisanen • Polnische Gegenwartsliteratur • Ruhe vor dem Sturm • Sowjetunion • UdSSR • Verfolgung • Wehrmacht • Weltliteratur • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-518-77553-7 / 3518775537
ISBN-13 978-3-518-77553-0 / 9783518775530
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