Über mein Herz reden wir später (eBook)
384 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60428-4 (ISBN)
1
Charlotte holt tief Luft. Sie wartet auf die Antwort ihrer Therapeutin und versucht, deren durchdringendem Blick auszuweichen.
»Sie brauchen nicht mehr zu suchen, Madame Villard. Sie kennen den Grund doch schon. Hören Sie auf, von einem Spezialisten zum nächsten zu rennen, Untersuchungen machen zu lassen und sich selbst dabei wehzutun. Das geht jetzt schon viel zu lange so. Sie wissen doch, woher das Problem kommt. Wäre es nicht besser zu versuchen, damit zu leben?«
»Sie meinen wohl, ohne es zu leben, oder?«
»Ich spreche von Resilienz. In Ihrem Fall wäre es besser für Sie, wenn Sie es akzeptieren. Ihnen ist etwas Schreckliches passiert, das verstehe ich vollkommen, und deshalb arbeiten wir ja auch miteinander. Was dabei herauskommt, muss allerdings im Bereich dessen sein, was Sie ertragen können. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es Ihnen gelegen kommt, sich weiterhin auf Ihr Unglück zu konzentrieren, aber so kommen Sie nicht weiter. Sie müssen Ihre Arbeit wieder aufnehmen und so schnell wie möglich wieder aktiv werden. Das ist die einzige Lösung. Das wissen Sie doch selbst …«
»Und Sie? Wissen Sie eigentlich, was es heißt, überall nur Wasser zu riechen? Alles riecht für mich nach Wasser. Der Kaffee riecht nach Wasser, die Putzmittel, die Seife, die Blumen, verbrannte Streichhölzer, sogar das Benzin, wenn ich mein Auto betanke! Seit fünf Jahren riecht alles nur noch nach Wasser!«
»Ja, das weiß ich, ich verstehe, wie Sie sich fühlen, aber …«
»Nein, Sie verstehen gar nichts! Keiner kann das. Selbst mein Urin riecht nach Wasser, habe ich Ihnen das schon erzählt?«
Charlotte legt die Hände vors Gesicht, dann beginnt sie zu weinen. Ein schneller, heftiger Atemzug, dann fährt sie fort.
»Ich glaube, es wäre mir lieber, wenn man mir einen Arm amputiert hätte. Dann sähe man es wenigstens. Ich leide an einer Krankheit, die man nicht sieht. Oder sollte ich besser sagen, die man nicht riecht?«
Sie lässt sich in den Sessel zurückfallen, ein kurzes, ironisches Lachen, dann wischt sie sich die Tränen von den Wangen, schließt die Augen und zieht sich in ihre Welt zurück.
Vor ein paar Stunden noch lag sie horizontal auf der Liegefläche eines gigantischen Multidetektor-CTs und fuhr langsam in die Röhre, die sie einsog wie ein großer runder Mund, der an einer Zigarette zieht.
Von außen hörte sie den Radiologen rufen, sie solle sich jetzt nicht bewegen.
Bewegen? Wie sollte das hier drin überhaupt möglich sein? Dann ging es mit dem Lärm los, der auf ihrem Hirn herumhämmerte. Es dauerte lange, viel zu lange, es trieb sie in den Wahnsinn. Man hatte ihr vorher erklärt, was passieren würde, wenn die Untersuchung losging: Wellen, Radiofrequenzen, Geräusche, die erzeugt werden, wenn die Protonen in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehrten.
»Erbarmen, bitte erklären Sie mir das nicht«, hatte sie gesagt. »Das ist schon mein drittes CT, und ich verstehe es sowieso nicht. Also, los, tun Sie, was Sie tun müssen, damit es bald vorbei ist. Aber geben Sie mir vorher bitte einen Kopfhörer und Musik von Ludovico Einaudi, haben Sie vielleicht Nuovole bianche?«
»Bedaure, das ist leider nicht möglich, außerdem warten noch andere Patienten … Wir sollten jetzt anfangen!«, hatte der Typ im weißen Kittel gesagt.
Charlotte war fast verrückt geworden. Der verdammte Sekundenzeiger bewegte sich quälend langsam vorwärts und drehte sich immer wieder um das Ziffernblatt, der Schlagbohrer dröhnte durch ihr Hirn. Das Ganze war ihr unendlich lange vorgekommen …
Und was danach kam, war auch nicht besser. Das Ergebnis, das sie von dem Arzt erfuhr, war niederschmetternd. Sie hatte es schon vorher gewusst. Alles war normal. Der Geruchsnerv und der Trigeminus waren nicht durchtrennt. Nein, alles perfekt.
»Sehen Sie hier, wenn es an dieser Stelle eine Veränderung gibt, Polypen oder einen Tumor, selbst einen ganz kleinen, dann sieht man deutlich, dass der Nerv betroffen ist. In Ihrem Fall ist alles völlig in Ordnung, das kann ich Ihnen versichern. Sie hatten ja auch keinen Unfall, der Riechkolben ist nicht geschädigt. Sehen Sie, da ist er. Der Inselcortex ist vollkommen in Ordnung. Ihre Anosmie ist weder morphologisch noch physiologisch. Auch die Nebenhöhlen sind frei. Manchmal bilden sich genau dort Brücken.«
Der Radiologe deutete mit seinem Stift auf die verschiedenen Schnitte auf dem Bildschirm, zeigte zu eng beieinanderstehende Knorpel, die zusammenwachsen könnten. Dann hätte man immer das Gefühl, erkältet zu sein, in diesem Fall könnte man etwas tun.
»Aber sehen Sie, alles ist normal. Ich erkläre es Ihnen: Hier, an dieser Stelle, auf Höhe der Glabella, am Ende der Nasenhöhle sind alle Nervenzellen, welche die Gerüche kodieren. Sobald sie mit diesen Zellen in Kontakt treten, werden die Gerüche wahrgenommen.«
»Das weiß ich doch alles schon«, unterbrach ihn Charlotte enttäuscht. Sie spürte, wie die Panik in ihr aufstieg. Aber was ist dann los? Der Geruchssinn kann doch nicht einfach so verschwinden?
»Ihre Weisheitszähne sitzen sehr weit hinten, aber abgesehen davon sehe ich wirklich nichts.«
»Danke, das hat man mir auch schon gesagt.«
»Madame Villard, wir hören an dieser Stelle erst einmal auf. Ich glaube, das ist besser, meinen Sie nicht?«
Die Psychotherapeutin reißt Charlotte abrupt aus ihren Gedanken.
»Sie können mich wohl nicht mehr ertragen, was? Egal. Was schulde ich Ihnen? Heute sind wir ja nicht gerade sehr weit gekommen.«
»Da mögen Sie recht haben. Mir scheint auch, dass Sie so nicht weiterkommen. Sie scheinen dazu auch wenig Lust zu haben. Wollen Sie vielleicht mit der Therapie aufhören?«
»Wie bitte? So etwas fragen Sie mich?«
»Ja, natürlich. Sie müssen selbst wissen, was für Sie am besten ist. So, wie Sie sich aufführen, habe ich das Gefühl, dass Sie mich im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr riechen können.« Sie lächelt versöhnlich.
»Wie originell!« Charlotte spürt, wie sie wütend wird. »Haben Sie heute Parfum aufgelegt?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Und was für ein Eau de Toilette ist das? Kein sehr gutes offenbar, denn es riecht nach nichts.«
Das letzte Wort schreit sie heraus. Aufgebracht nimmt sie ihre Handtasche, zieht vier Scheine aus dem Portemonnaie, drei blaue, einen roten und wirft sie auf den Schreibtisch der Psychologin. Dann geht sie zur Tür und dreht sich noch einmal um:
»Wissen Sie was, ich kann Sie tatsächlich nicht mehr riechen!«
Mit einem lauten Knall schlägt sie die Tür hinter sich zu.
Als sie aus dem Gebäude stürmt, sieht Charlotte den Reinigungswagen, der langsam vorwärtsrollt, um die Straße nach dem Markt vom Donnerstagmorgen zu reinigen. Sie blickt auf die fauligen Obst- und Gemüsereste, die zwischen den Drehbürsten verschwinden, und den Wasserstrahl, der auf den Bürgersteig spritzt. Auf die kaputten Obstkisten, verwelkten Blumen, alle Gemüseabfälle, die von dem jungen Mann, der vor dem Wagen hergeht, zusammengefegt werden, damit alles aufgesaugt werden kann.
Durch die offenen Türen des Kühlwagens der Metzgerei Lagrange sieht sie riesige Tierkadaver, die an einer Stange hängen. Auf der Schürze des dickleibigen Angestellten, der die nicht verkauften Tiere in den Kühlbereich zurückbringt, sieht man die Spuren seiner Hände, die er sich x-mal daran abgewischt hat, schmierige Reste vom Blut der Rinder, Kälber, Eingeweide und Schlachtabfälle, die er in den Mülleimer geworfen haben muss, bevor er die Bestellungen seiner Kunden in Wachspapier einrollte. Etwas weiter weg bemerkt sie das Eis des Fischhändlers, das langsam schmilzt und als schmutzige Brühe von den Auslagen auf den Asphalt fließt, dazu ein Gemisch aus Schuppen, Muschelgehäusen, Seeigelstacheln, Tang und anderem Abfall aus dem Meer …
Wie kann es sein, dass dieses ganze Durcheinander, dieser Anblick von Tod und Agonie keinerlei Geruch hat? Charlotte erinnert sich noch genau, wie sie früher, wenn sie nach dem Markt diese Straße hinaufging, vor allem im Sommer, diesen besonderen, feuchten, salzig-süßen Geruch wahrnahm und ihr davon beinahe übel...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2023 |
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Übersetzer | Vera Blum |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Erinnerung • Kindstod • Liebe |
ISBN-10 | 3-492-60428-5 / 3492604285 |
ISBN-13 | 978-3-492-60428-4 / 9783492604284 |
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