Flamingo (eBook)

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2023 | 1. Auflage
432 Seiten
mareverlag
978-3-86648-820-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flamingo -  Rachel Elliott
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Von seiner Verlobten verlassen und von seinem Vermieter grund- und fristlos gekündigt, steht Daniel Berry eines Morgens buchstäblich auf der Straße; das einzige Überbleibsel seines eben noch intakten Lebens ist ein kleines Keramikschaf. Die plötzliche Heimatlosigkeit lässt Daniel in ein bodenloses Loch fallen - bis eine zufällige Begegnung mit einer Fremden ein Bild in ihm wachruft: von drei rosafarbenen Flamingos auf einem grünen Vorstadtrasen in Norfolk. Im Haus hinter dem Rasen lebt Sherry Marsh, die gern laut und schräg Foreigner-Songs zum Besten gibt und deren Tochter Rae sich über eine App namens FAZ (Fremde auf Zeit) Gesellschaft zum Ausgehen bucht, weil sie die Gesellschaft ihrer Familie nicht erträgt. Doch für Daniel birgt das Haus der Marshs vor allem eins: das Gefühl, einmal glücklich gewesen zu sein und es vielleicht wieder werden zu können, wenn er sich nur traut, dorthin aufzubrechen.

Rachel Elliott, 1972 in Suffolk geboren, ist Schriftstellerin und Psychotherapeutin. Sowohl mit ihrem Debütroman Flüstern mit Megafon als auch mit Flamingo war sie für den Women's Prize for Fiction nominiert. Zuletzt erschien von ihr der Roman »Bären füttern verboten« (2020), der die Herzen des deutschen Lesepublikums im Sturm eroberte.

Rachel Elliott, 1972 in Suffolk geboren, ist Schriftstellerin und Psychotherapeutin. Sowohl mit ihrem Debütroman Flüstern mit Megafon als auch mit Flamingo war sie für den Women's Prize for Fiction nominiert. Zuletzt erschien von ihr der Roman »Bären füttern verboten« (2020), der die Herzen des deutschen Lesepublikums im Sturm eroberte.

Rae – Norfolk, England – April 2018


Anders als heute vor einem Jahr hat niemand mit Imprägnierspray, einem Feuerzeug und einem Mantel ein Feuer im Garten gemacht. Es hat keine körperliche Gewalt gegeben. Niemand hat jemand anderem die Vergangenheit um die Ohren gehauen, zumindest soweit Rae weiß. Für diese Familie ist es also vergleichsweise eine gelungene Party.

Und jetzt läutet eine Glocke. Eine alte Messingglocke, die einst einem Stadtschreier gehört hat. Und zu der ihre Mutter gerne greift, wenn sie Aufmerksamkeit will.

Wir sollen alle ins Wohnzimmer kommen, sagt eine Stimme.

Es ist hoffentlich nicht das, was ich denke, oder?, fragt eine andere Stimme.

Doch, leider. Ich hoffe, du hast deine Ohrstöpsel dabei.

Als Geschenk zu seinem achtzigsten Geburtstag wird Sherry für ihren Mann ihre spezielle A-cappella-Version von I Want to Know What Love Is von Foreigner singen.

Bitte nicht, nicht schon wieder, würde Leslie am liebsten sagen. Musst du das jedes Jahr an meinem Geburtstag singen? Es ist kein Geschenk, sondern eine Qual. Da war selbst der Große Schnitt amüsanter, falls du dich noch daran erinnerst. Ja, genau, das meine ich. Mir meine Samenleiter durchschneiden und versiegeln zu lassen war angenehmer, als hier vor unserer gesamten Familie zu stehen, mit deren Partnern und Ex-Freunden und all den anderen Leuten, die du immer einlädst, und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie gucken mich an, du guckst mich an, alle gucken mich an – das ist die reinste Folter. Du weißt doch, dass ich eher von der ruhigen Sorte bin, Sherry, ich war schon immer zurückhaltender als du. Willst du wissen, was das perfekte Geschenk zu meinem Achtzigsten wäre? Dass du nicht I Want to Know What Love Is singst.

Bitte nicht schon wieder, würde Rae am liebsten sagen. Ehrlich, Mum, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber deine überaus spezielle Coverversion verfolgt mich regelrecht, sie überflutet mein Gehirn in den denkbar unpassendsten Momenten, zum Beispiel wenn ich versuche einzuschlafen oder wenn ich arbeite und, ob du’s glaubst oder nicht, manchmal sogar beim Sex, obwohl da in letzter Zeit nicht viel gelaufen ist. Du musst aufhören, es zu singen, Mum. Du musst endlich damit aufhören.

Doch wer wäre so egoistisch, einen gefangenen Vogel zum Schweigen zu verdammen, dessen Lied seine einzige Freiheit ist? Eine Frau, die sich wie ein gefangener Vogel fühlt, das sagt sie zumindest oft zu ihrem Mann.

Lass mich raus, lass mich raus, lass mich raus, schreit sie.

Schatz, du weißt doch, wo die Tür ist, sagt Leslie.

Ich muss nur mein Gefühl des Eingesperrtseins in Töne fassen, das genügt mir. Das allein ist schon befreiend.

Niemand sperrt dich ein, Liebes. Du kannst gehen, wann immer du willst.

Das Leben ist nicht nur Schwarz und Weiß, sagt Sherry. So einfach sind Gefühle nicht.

Für mich schon, sagt er.

Tja, vielleicht ist es genau das, was mich einengt.

Was?

Dass du so schlicht gestrickt bist.

Leslie lächelt und widmet sich wieder seinem Sudoku. Er ist ein geduldiger Mann mit einem nervösen Zucken im linken Ellbogen, wenn er gestresst ist. Einmal hat er, nachdem er bei der Post eine Dreiviertelstunde warten musste, versehentlich einem Teenager seinen Ellbogen gegen den Kopf gerammt und wurde der Körperverletzung bezichtigt.

Die Familie Marsh und ihre Gäste drängen sich in dem gemütlichen – sprich kleinen und fürchterlich vollgestellten – Wohnzimmer auf Sofa, Sesseln und Fußboden und warten.

Halb so wild, sagt Rae sich. Diese Zusammenkunft ist fast vorbei. Bald kann sie sich ihre Turnschuhe schnappen, in einen Bus springen und vergessen, dass es diese Leute gibt – bis zur nächsten unerwünschten Erinnerung.

Wer hat denn die Briefträgerin eingeladen?, fragt ihre Schwester.

Die Antwort geht in einer Power-Ballade unter.

Sherry legt einen theatralischen – man könnte auch sagen: experimentellen – Start hin, halb Song, halb gesprochenes Wort. Wenn Sie je eine A-cappella-Version von I Want to Know What Love Is gehört haben, werden Sie verstehen, wie seltsam faszinierend das ist: eine Explosion angestauten Gefühls, eine Preisgabe intimsten Seelenlebens, durchsetzt von gespenstischen Pausen.

Jetzt wird sie lockerer, groovt sich ein, gibt alles.

Sie singt von Herzschmerz, falls man das als Singen bezeichnen kann. (Kann man nicht.)

Rae blickt zu dem Fremden neben ihr, der offenbar weint. Sie muss lachen, nicht weil sie grausam oder gefühllos ist, sondern weil sie in diesem Moment traumatisiert ist.

Sie zieht ein sorgsam gefaltetes Taschentuch aus ihrer Jackentasche und hält es ihm hin.

Er heißt Rufus. Sie weiß nicht, ob es sein richtiger Name ist, wahrscheinlich nicht, aber wer weiß.

Rufus nickt langsam und sagt lautlos Danke, während er das Taschentuch auseinanderfaltet, als wäre es eine Geheimbotschaft. Er ist der Inbegriff von Ernsthaftigkeit, aber nicht die Art, die Rae an einem Menschen mag, die konzentrierte, aufmerksame Art. Seine Ernsthaftigkeit hat etwas Sentimentales, Verunsicherndes, wovon ihr übel wird.

Und jetzt kommt der beste beziehungsweise schlimmste Teil, je nachdem, wie gut man es erträgt, der Verzweiflung anderer beizuwohnen:

Mit einem breiten Lächeln streckt ihre Mutter die Arme aus und beginnt, mit den Händen zu wedeln, wie ein Popstar, der seine Fans zum Aufstehen und Mitsingen auffordert. Aber sie ist kein Popstar. Sie ist die fünfundsechzigjährige Sherry Marsh in ihrem bewährten Hosenanzug mit Seidenbluse, die auf einem purpurroten Teppich vor einem Gaskamin steht, dessen unechte Briketts zur Hälfte auf dem Fußboden liegen, die meisten davon vor Jahren zerkaut von einem Golden-Retriever-Welpen aus der Nachbarschaft. Der von ihrer Jacke verborgene Blusenärmel hat immer noch einen Riss von damals, als sie nach zu viel Portwein im Dog and Duck an einem Stechpalmenbusch hängen geblieben ist.

Wie immer reagiert niemand darauf.

Bis plötzlich Rufus aufspringt und mitzusingen beginnt.

Sherry strahlt. Sie ist die Glückseligkeit in Person. Seit 1988 hat sie ihre Familie und ihre Freunde jedes Jahr dazu eingeladen, aufzustehen und dieses Lied mit ihr zu singen. Ihr Lied. Und nie hat es jemand getan.

Es gibt verschiedene Arten, dies zu beschreiben, je nachdem, wie Sie das Leben sehen, ob Ihr Glas halb voll oder halb leer ist.

1. Törichte Hartnäckigkeit.

2. Wunderbare Hartnäckigkeit.

3. Ein rührendes Zeichen von Liebe und Optimismus.

4. Ein Hilfeschrei.

Und jetzt steht Rufus neben ihr und sieht ihr in die Augen.

Sie greift nach der Messingglocke und läutet sie, ohne mit dem Singen aufzuhören.

Manchmal ist ein Moment der Freude so überraschend, so überwältigend, da muss man einfach eine Glocke läuten, zumal wenn man eine zur Hand hat.

Das Wort Kakophonie trifft es nicht richtig. Misstönend ebenso wenig. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie wenig Sherrys Gesang mit dem Original von Foreigner zu tun hat, wie durch diesen Freudenausbruch in ihrer Stimme etwas Rohes anklingt, das einem regelrecht Angst machen kann – und das Ganze begleitet vom Läuten dieser alten Glocke und Rufus’ übereifrigem Bariton …

Rae muss an den riesigen Kopfhörer denken, den sie als Kind oft stundenlang getragen hat, um alle auf Abstand zu halten, den Stecker in der Tasche ihrer Kordhose versenkt. Sie hat diesen Kopfhörer geliebt, und die Kordhose auch – sie war goldfarben, mit einem viereckigen Flicken auf dem linken Knie, den Eve Berry, die Freundin ihrer Mutter, ihr daraufgenäht hatte. Eve hatte versucht, eine Wonder Woman auf den Flicken zu sticken, und ja, diese Superheldin auf dem Breitkord hätte im Prinzip jede beliebige Frau mit langen braunen Haaren sein können, aber für Eve und Rae war sie Wonder Woman, und das war alles, was zählte.

Sticken ist eine unterschätzte Kunstform, denkt Rae. Sie ist sehr geschickt im psychologischen Geländefahren, nutzt jeden Seitenweg, der sich ihr bietet, denn wie sonst sollte sie Momente wie diesen überstehen? Das ist viel besser, als den furchtbaren Gefühlsmix zu ertragen, den ihre Mutter in ihr auslöst: Ekel, Angst, Mitleid und Verachtung, eingerollt in die schäbigste Art von Liebe, und das ist nur die Vorspeise.

Rae sieht zu dem seltsamen Duo, das vom ursprünglichen Song abgewichen zu sein scheint, die Köpfe in dissonanter Anarchie in den Nacken geworfen.

Sie wendet den Blick ab, betrachtet stattdessen das Bild, das an der Wand hängt, eines der wenigen Dinge in diesem Haus, die sie tatsächlich mag. Es zeigt eine blaue Küche, ein helles Fenster und einen langen Tisch. Auf diesem Tisch liegen frisches Brot, Butter, Käse und Obst. Daneben steht ein Krug mit Wasser und eine Flasche mit etwas Spanischem, Süßem, zutiefst Alkoholischem; so hat Rae es zumindest immer gesehen. Es ist ein Stillleben, aber für sie ist es alles andere als still. Als Kind hat...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2023
Übersetzer Claudia Feldmann
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Akzeptanz • Bären füttern verboten • East Anglia • Familie • Nachbarschaft • Norfolk • Obdachlos • women's prize
ISBN-10 3-86648-820-3 / 3866488203
ISBN-13 978-3-86648-820-5 / 9783866488205
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