Die sieben Monde des Maali Almeida (eBook)
544 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01735-1 (ISBN)
Shehan Karunatilaka wurde 1975 in Galle im Süden Sri Lankas geboren. Aufgewachsen in Colombo, wo er heute wieder lebt, studierte er in Neuseeland und lebte und arbeitete in London, Amsterdam und Singapur. 2010 erschien sein Debütroman Chinaman, für den er u.a. mit dem Commonwealth Prize ausgezeichnet wurde. Außerdem schreibt er Rocksongs, Drehbücher und Reiseliteratur und veröffentlichte in verschiedenen internationalen Medien wie The Guardian, Newsweek, Rolling Stone, GQ und National Geographic. Er zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen Sri Lankas. Die sieben Monde des Maali Almeida ist sein lang erwarteter zweiter Roman, der 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde.
Shehan Karunatilaka wurde 1975 in Galle im Süden Sri Lankas geboren. Aufgewachsen in Colombo, wo er heute wieder lebt, studierte er in Neuseeland und lebte und arbeitete in London, Amsterdam und Singapur. 2010 erschien sein Debütroman Chinaman, für den er u.a. mit dem Commonwealth Prize ausgezeichnet wurde. Außerdem schreibt er Rocksongs, Drehbücher und Reiseliteratur und veröffentlichte in verschiedenen internationalen Medien wie The Guardian, Newsweek, Rolling Stone, GQ und National Geographic. Er zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen Sri Lankas. Die sieben Monde des Maali Almeida ist sein lang erwarteter zweiter Roman, der 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. Hannes Meyer, geboren 1982, übertrug u. a. Bücher von Tommy Orange, Phil Klay, Chanel Miller und Hernan Diaz ins Deutsche. Für seine Übersetzung von Anuk Arudpragagasams Die Geschichte einer kurzen Ehe war er für den Internationalen Literaturpreis nominiert.
Bald wirst du aufwachen
Angefangen hat es vor Ewigkeiten, vor tausend Jahrhunderten, aber lassen wir all das Gestern und fangen wir letzten Dienstag an. Ein Tag, an dem du verkatert und gedankenleer aufwachst wie an den meisten Tagen. Du befindest dich in einem endlosen Wartezimmer. Du siehst dich um, und es ist ein Traum, und endlich mal weißt du, dass es ein Traum ist, und du willst ihn gern aussitzen. Alles geht vorbei, besonders Träume.
Du trägst eine Safarijacke und ausgeblichene Jeans und weißt nicht mehr, wie du hergekommen bist. Du hast nur einen Schuh an und trägst drei Kettchen und eine Kamera um den Hals. Die Kamera ist deine treue Nikon 3ST, aber das Objektiv ist zersprungen und das Gehäuse gebrochen. Du schaust durch den Sucher und siehst nichts als Matsch. Zeit, aufzuwachen, Maali, mein Junge. Du kneifst dich, und es tut weh, aber nicht unbedingt wie ein kurzes Zwicken, sondern eher wie der dumpfe Schmerz einer Beleidigung.
Du weißt, wie es ist, deinem eigenen Kopf nicht mehr zu trauen. Der LSD-Trip beim Smoking Rock Circus 1973, als du im Viharamahadevi Park drei Stunden lang einen Frangipanibaum umarmt hast. Der Neunzig-Stunden-Pokermarathon, bei dem du siebzehn Lakh gewonnen und dann fünfzehn wieder verloren hast. Dein erstes Bombardement in Mullaitivu 1984, gepfercht in einen Bunker voll panischer Eltern und schreiender Kinder. Das Aufwachen im Krankenhaus mit neunzehn, als du dich weder an das Gesicht deiner Amma erinnern konntest noch daran, wie sehr du es hasstest.
Du stehst in einer Schlange und brüllst eine Frau mit weißem Sari hinter einem GFK-Tresen an. Wer kann schon von sich sagen, er wäre noch nie wütend auf irgendwelche Frauen hinter Tresen gewesen? Du jedenfalls nicht. Die meisten Sri Lanker schmollen lieber leise vor sich hin, doch du beschwerst dich gern aus voller Brust.
«Ich sage ja nicht, dass es Ihre Schuld ist. Aber meine auch nicht. Fehler kommen eben vor, oder? Besonders in Regierungsbehörden. Da muss doch was zu machen sein.»
«Wir sind hier keine Regierungsbehörde.»
«Das ist mir egal, Aunty. Ich sage nur, ich kann nicht hierbleiben, ich habe Fotos abzugeben. Ich bin in einer festen Beziehung.»
«Ich bin nicht Ihre Aunty.»
Du siehst dich um. Hinter dir windet sich die Schlange um Säulen und an den Wänden entlang. Die Luft ist dunstig, dabei atmet hier augenscheinlich niemand Rauch oder Kohlendioxid aus. Es wirkt wie ein Parkplatz ohne Autos oder wie ein Marktplatz ohne Verkauf. Die Decke ist hoch und wird von Betonpfeilern gestützt, die in unregelmäßigen Abständen auf dem weitläufigen Gelände verteilt stehen. Am anderen Ende sind so etwas wie große Aufzugtüren zu sehen, aus denen menschliche Gestalten hervorquellen, bevor andere sich wieder hineindrängen.
Selbst aus der Nähe sehen die Gestalten wabernd aus, haben Talkumhaut und Augen, die in für braune Menschen unüblichen Farben funkeln. Manche tragen Krankenhaushemden; manche haben trockenes Blut an den Klamotten; manchen fehlen Gliedmaßen. Alle brüllen auf die Frau in Weiß ein. Sie scheint sich mit jedem von euch gleichzeitig zu unterhalten. Vielleicht stellen alle die gleichen Fragen. Wärst du ein Spieler (bist du auch), würdest du 5/8 wetten, dass es sich um eine Halluzination handelt, wahrscheinlich ausgelöst von Jakis Partypillen.
Die Frau schlägt ein wuchtiges Buch auf. Sie mustert dich weder mit Interesse noch Verachtung. «Erst müssen wir Ihre Angaben prüfen. Name?»
«Malinda Albert Kabalana.»
«In einer Silbe, bitte.»
«Maali.»
«Sie wissen, was eine Silbe ist?»
«Maal.»
«Danke. Religion?»
«Keine.»
«Wie albern. Todesursache?»
«Kann mich nicht erinnern.»
«Seit Eintreten des Todes vergangene Zeit?»
«Weiß nicht.»
«Aiyo.»
Der Seelenschwarm drängt näher heran, beschimpft und belatschert die Frau in Weiß. Du siehst in die fahlen Gesichter, die versunkenen Augen in kaputten Schädeln, zusammengekniffen vor Wut, Schmerz und Verwirrung. Die Pupillen in Schattierungen von Bluterguss- und Wundschorffarben. Verquirltes Braun, Blau und Grün – und alle ignorieren sie dich. Du hast schon in Flüchtlingslagern gelebt, warst mittags auf Straßenmärkten und bist in vollen Casinos eingeschlafen. Das menschliche Wogen ist niemals beschaulich. Und dieses rollt auf dich zu und trägt dich vom Tresen fort.
Sri Lanker können nicht Schlange stehen. Außer man definiert eine Schlange als formlose Kurve mit zahlreichen Zugängen. Dieser Ort ist anscheinend ein Sammelpunkt für alle, die Fragen zu ihrem Tod haben. Es gibt mehrere Schalter, und die verärgerten Kunden zetern und pöbeln die wenigen Mitarbeiter hinter den Tresen an. Das Leben nach dem Tod ist eine Steuerbehörde, und jeder will seine Rückzahlung.
Du wirst von einer Amma mit kleinem Kind auf der Hüfte zur Seite geschoben. Das Kind starrt dich an, als hättest du sein Lieblingsspielzeug zerschlagen. Das Haar der Mutter ist verkrustet von dem Blut, mit dem auch ihr Kleid befleckt und ihr Gesicht verschmiert ist. «Und Madura? Was ist mit ihm passiert? Er saß bei uns auf dem Rücksitz. Er hat den Bus noch vor dem Fahrer gesehen.»
«Wie oft soll ich es Ihnen denn sagen? Ihr Sohn lebt noch. Don’t worry, be happy.»
Das kommt von dem Mann an einem anderen Tresen, er trägt weißen Kittel und Afro und sieht aus wie Moses aus dem großen Buch. Seine Stimme grollt wie der Ozean, und seine Augen haben das blasse Gelb geschlagener Eier. Er wiederholt den Titel des nervigsten Songs der letzten Saison und schlägt sein eigenes Buch auf.
Du schießt ein Foto, denn das machst du, wenn dir sonst nichts einfällt. Du willst diesen Parkplatz des Chaos einfangen, bekommst aber nichts als die Sprünge im Objektiv zu sehen.
Man erkennt leicht, wer zur Belegschaft gehört und wer nicht. Erstere haben die dicken Bestandsbücher bei sich und stehen lächelnd herum; Letztere wirken verstört. Sie tigern auf und ab, bleiben plötzlich stehen und starren ins Leere. Manche rollen mit dem Kopf und wehklagen. Die Mitarbeiter sehen nichts und niemanden direkt an, besonders nicht die Seelen, die sie beraten.
Jetzt wäre ein ausgezeichneter Zeitpunkt, aufzuwachen und zu vergessen. Du kannst dich nur selten an deine Träume erinnern, und was auch immer das hier ist, die Chancen, dass es hängenbleibt, sind geringer als die auf einen Flush oder ein Full House. Du wirst dich an das hier genauso wenig erinnern wie an deine ersten Schritte. Du hast Jakis Partypillen eingeworfen, und das hier ist nichts als ein abgefahrener Traum. Was sollte es sonst sein?
Und dann fällt dir eine Gestalt auf, die in der Ecke an einem Schild lehnt und anscheinend in einen schwarzen Müllsack gehüllt ist, denn sie sieht weder nach Personal noch nach Kundschaft aus. Die Gestalt beobachtet die Menge, und ihre grünen Augen leuchten wie die einer Katze im Scheinwerferlicht. Sie erspähen dich und verharren länger, als sie es sollten. Der Kopf nickt, ohne dass der Blickkontakt abbricht.
Auf dem Schild über der Gestalt steht:
MEIDEN SIE FRIEDHÖFE
Darunter hängt ein Hinweis mit einem Pfeil:
-> OHRUNTERSUCHUNGEN AUF EBENE ZWEIUNDVIERZIG
Du wendest dich wieder der Frau hinter dem Tresen zu und versuchst es noch einmal. «Das muss ein Fehler sein. Ich esse kein Fleisch. Ich rauche höchstens fünf am Tag.» Die Frau kommt dir so bekannt vor wie ihr wahrscheinlich deine Lügen. Einen Augenblick lang scheint das Gedränge innezuhalten. Einen Augenblick lang ist es, als gäbe es nur dich.
«Aiyo! Ich habe jede Ausrede schon mal gehört. Keiner will rüber, nicht mal die Selbstmorde. Meinen Sie, ich wollte sterben? Meine Töchter waren acht und zehn, als die mich erschossen haben. Was soll man machen? Beschweren bringt nichts. Haben Sie Geduld und warten Sie, bis Sie dran sind. Verzeihen Sie, was Sie verzeihen können. Wir sind unterbesetzt und immer auf der Suche nach Freiwilligen.»
Sie schaut auf und ruft der Schlange zu.
«Sie alle haben sieben Monde.»
«Was ist ein Mond?», fragt ein Mädchen mit gebrochenem Genick. Sie hält Händchen mit einem Jungen, der Risse im Schädel hat.
«Sieben Monde heißt sieben Nächte. Sieben Sonnenuntergänge. Eine Woche. Mehr als genug Zeit.»
«Ich dachte, ein Mond wäre ein Monat?»
«Der Mond steht immer da oben, auch wenn Sie ihn nicht sehen. Meinen Sie, er hört auf zu kreisen, bloß weil Sie aufhören zu atmen?»
Du verstehst nichts von alledem. Also versuchst du es anders. «Was für ein Auflauf. Wahrscheinlich das Gemetzel im Norden. Tiger und Militär schlachten Zivilisten ab. Indische Friedenstruppen brechen Kriege vom Zaun.»
Du siehst dich um, und niemand hört dir zu. Die Augen ignorieren dich...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2023 |
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Übersetzer | Hannes Meyer |
Zusatzinfo | Mit 1 s/w Karte und 2 s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Antikriegsroman • Asiatische Literatur • Auf Erden sind wir kurz grandios • booker prize 2022 • bücher literatur • Buddhismus • Bürgerkrieg • Geistergeschichten • Gesellschaftsroman • Homophobie • Identität • Korruption • Kriegsjournalismus • Leben nach dem Tod • Magischer Realismus • Meister und Margarita • Michail Bulgakow • Mitternachtskinder • Moderne Literatur • Ocean Vuong • politischer Roman • Queere Literatur • Salman Rushdie • Schiffbruch mit Tiger • Sri Lanka • Sunday Times Bestseller • The Seven Moons of Maali Almeida • Yan Martell • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01735-2 / 3644017352 |
ISBN-13 | 978-3-644-01735-1 / 9783644017351 |
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