Monde vor der Landung (eBook)
519 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77552-3 (ISBN)
Worms, Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Peter Bender, ehemals Fliegerleutnant des Deutschen Heeres, macht sich als Gründer einer neuen Religionsgemeinschaft und mit der Proklamation der sogenannten Hohlwelt-Theorie einen Namen: Die Menschheit lebe nicht auf, sondern in einer Kugel, außerhalb derselben existiere nichts. Benders Gemeinde bleibt überschaubar, dennoch wird er wegen der Verbreitung aufwieglerischer und gotteslästerlicher Flugschriften zu einer mehrmonatigen Kerkerhaft verurteilt. Als sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten herumspricht, dass seine Frau Jüdin ist, wenden sich selbst seine engsten Gefolgsleute von ihm ab. Die Benders verarmen, die Repressionen besonders gegen seine Frau werden bald unerträglich.
Bestürzend aktuell, von unüberbietbarer sprachlicher und gedanklicher Originalität: Dieser Roman erzählt von Querdenkertum und alternativen Wahrheiten und rekonstruiert eine so bewegende wie verstörende Lebensgeschichte.
<p>Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er mit seiner Frau und seiner Tochter als Übersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er für seinen Erzählband <em>Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes</em> mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman <em>Indigo </em>stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 prämiert. 2014 erschien sein erster Gedichtband <em>Die Vogelstraußtrompete</em>. Für seinen Roman <em>Die Stunde zwischen Frau und Gitarre </em>erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit drei seiner Stücke war Setz bei den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Zuletzt 2023 mit <em>Der Triumph der Waldrebe in Europa</em>. Zuletzt wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis 2021 und dem Österreichischen Buchpreis 2023 geehrt.</p>
Kindheit
Geboren 1893 in Bechtheim, Kreis Alzey-Worms. Laut Dorfunterlagen am 29. Mai, allerdings später von ihm selbst auf den 30. geändert. Hier wächst das Kind auf, unter der Schirmherrschaft der Weinhänge, mit Sonne zwischen den wellig gekämmten Hügeln, mit Trauben im Schuh, im Bett, überall, und dem rötlichen Geruch der alten Ziegelei. Ein Kirchturm saugt einen Vogelschwarm aus dem Himmel. Ein Riese geht mit Sense und Eimer durch die Straße. Bei der Einschulung dann der in der Mittagssonne immer stärker werdende Geruch nach Schweinespeck, mit dem die Schuhe der ärmeren Dorfkinder zum Glänzen gebracht werden. Der Lehrer ist einer, der schwermütige Kinder so drollig findet, dass er sie immer zu zwicken beginnt, wenn sie weinen.
Der Junge lernt blitzschnell schreiben und lesen, er lernt, sich zu waschen und, auf Zuruf, sich zu beherrschen, er spielt mit Zinnsoldaten, nascht vom Kerzenwachs. Die Weinpresse im Keller macht ein Geräusch, das beim Einschlafen oft aus ihm selbst zu kommen scheint, vor allem, wenn sein Magen knurrt. Dann das muntere Geratsche der Elstern im Hof und das heidnische Gefühl beim Urinieren im Wald, zwischen Dornen. Und manchmal bei Hochdruckwetter: ein plötzlicher, stechender Schmerz in der Schädelnaht, dann spürt der Junge deutlich, wie sich in den Nachbarhöfen die Brunnen vertiefen. Ein Eiszapfen am Tor, wunderschön und helldurchsichtig im Tageslicht, dazu Hammerschläge aus einem nahen Haus. Oder der Sommer beginnt, und es liegen wieder vermehrt Kleidungsstücke in den Wiesen, und die Gebüsche prasseln vor Sperlingen. Und immerzu ernste Gespräche über die spätere Laufbahn des Jungen, mit der ewig gleichen Erzählung von den zwei tüchtigen Onkeln des Vaters, die beide zum Wohle der Menschheit Kaufmann geworden und seither irgendwo auf dem Globus verschollen sind. Es heißt, dass alle Kinder später einmal etwas werden. Was wirst du werden? Nach seinem ersten Becher Federweißer träumt der Junge die ganze Nacht von Nibelungenfahrrädern. Er weiß noch auf nichts eine Antwort. Unterdessen faltet sich das alte Jahrhundert, und ein frisches beginnt.
Am würzigen Kiesbettgeruch der alten Bahnstrecke erkennt er den Herbstbeginn. Er hat nun erste deutliche Muskeln vom Klettern und Laufen. Die Blätter fallen aus vollem Herzen und locken die riesige Spinne an, die tagelang im Fensterwinkel als Stadtwappen hockt. Der November bringt dann erste Fröste, und eine letzte Birne hängt mulmig draußen im Baum. Sie wird dem Jungen, je weiter sich die Kälte im Dorf ausbreitet, zu einer kecken und Mut spendenden Gefährtin. Mehrmals am Tag, auch auf dem Heimweg von der Schule, geht er zu ihr, um ihr sonderbares Schicksal zu bedenken. Am liebsten würde er sie läuten, wie eine kleine Hausglocke. Die Birne heißt vielleicht Gudrun, vielleicht Gesine. Sie ist bereits ganz erdfarben, verhutzelt, ihr Gewebe »weiß also schon alles«, aber noch reicht ihr Gewicht nicht zum Fallen.
Dann, bei einem Schulfreund, ein Nachmittag lang vor dem ersten Modellschiff. Wie fachmännisch da die Blicke werden, wie mutwillig die Gesten und Stimmen. Fast küsst Peter seinen Freund auf den haarflaumigen Nacken, als dieser sich über das prachtvolle Bastelwerk beugt. Als er dann gegen Abend aus dem Haus tritt, sieht er die Bäume in ihrem lichten schönen Leben wie riesige Menschen in der Straße stehen. Über all das hinwegbrettern, denkt er, rasend, brennend, in einem winzigen, die eigenen Körperkonturen genau einrahmenden Flugschiff! Er nimmt es sich vor, für später, als heilige Pflicht.
Dann 1904, die Wende im Leben, der grässliche Unfall des Großvaters Erich. Wenige Wochen nach der Einweihung der elektrischen Trambahn in Worms fährt dieser in die Stadt, gerät dort allerdings gar nicht unter die Räder des neuartigen Gefährts, sondern wird von einem der längst ausrangierten und nur noch eine Weile zur Zierde laufenden Pferde-Omnibusse überrollt. Das Bein entzündet sich, und Wundbrand beginnt drum rum zu wachsen, wie Efeu um eine Statue. Eines Morgens, nach einer Nacht voller Schmerzensschreie, holt man ihn mit dem Leiterwagen ab. Er kommt auf die Ladefläche und blickt, während zwei kräftige Männer ihn ziehen, staunend zu seinem Gehöft zurück.
Drei ganze Tage bleibt er fort, dann bringen sie ihn zurück. Er ist wieder da! Aber er lässt sich weder von seiner Tochter noch von seinen Enkelkindern anschauen. Er schämt sich sehr und versteckt seine untere Hälfte unter einer Decke. Als seine Angst etwas gewichen ist, darf seine Schwiegertochter ihm, der noch immer im Hof im geborgten Leiterwagen in der Sonne sitzt, genauen Bericht über die versäumten Tage geben. Dabei nickt er viel. Und nach einer Weile geht sein Blick in die Höhe, in die flämmchenhaft dünnen Spitzen der Pappeln auf der Straße, und sein Gesicht verzerrt sich.
Nun pocht auf einmal ein Holzbein durchs Haus.
An den immer früher mulmig werdenden Abenden singt die Mutter für den Jungen Lieder. Es war ein König in Thule ist darunter, und Peter merkt sich den Text, so wie das meiste, schon nach dem ersten Hören. Und dann eine ewig lange, stellenweise etwas derbe und alberne Ballade, in der allerdings ein anmutiger Vers über Bäume auftaucht: Sie stehen auf der Erden / Mit segnenden Gebärden. – Das gefällt ihm! Ja, den Satz kann man singen und in seinen Endsilben so unerhört auskosten und ausdehnen, regelrecht innerlich einstampfen kann man ihn. Er hebt sich den eingängigen Takt der Zeilen bis zur Schlafenszeit auf, indem er ihn beständig mit den Kiefern mahlt.
Nachts gibt es oft Schatten und Formen an der Wand. Aber nur selten ist etwas Deutbares dabei. Einmal eine Art Hase, der ihn lange ernst anblickt, ein andermal ein Schneckenhaus, das sich sehr langsam dreht. Die Mutter erzählt ihm eines Mittags, vermutlich weil ihr allmählich die Geschichten und Märchen ausgehen, vom heiligen Hieronymus im Gehäuse. Was ein Gehäuse ist, weiß der Junge. Es umgibt Nusskerne. Wie aber ist der heilige Hieronymus so klein geworden, dass er in eine Nussschale passt? Peter läuft hinaus vors Haus, randvoll mit Fragen, aber die Weinhänge und die Krähen wissen natürlich nichts, ebenso wenig die Wegränder, und der Weiher liegt ohnehin tagein, tagaus wie gepanzert da, spiegelklar und hellweiß unter dem Himmel, eine geschmolzene Ritterrüstung. Und alles so stumm, so auskunftsfeig, so abgekehrt und verschlossen. Wie kann das sein?
Und jeden Abend die Pflege des Beinstumpfs. Der Junge kann schon bald länger hinsehen, ohne innerlich zu verstummen. Schwarzbrot. So sieht es aus. Die Farbe bleibt ihm unbegreiflich, denn der Rest des Großvaters ist immer noch so hell, so gewöhnlich hautfarben wie früher. Wo also hört das eine auf, und wo beginnt das Neue?
Von der Elektrisch’ in Worms wird im Haushalt viel gesprochen, viel geschimpft, aber der Warn-Gehalt der Meinungen bleibt unklar. Denn es war ja gar nicht die neue Trambahn, die dem Großvater das Bein gestohlen hat. Soll man nun trotzdem vor der neuen Elektro-Erfindung Angst haben, die in der Riesenstadt Worms durch die Straßen rollt? Oder ist die alte, überholte Verkehrsform das eigentlich Böse? Oder ist diese erst durch die Ankunft der Elektrifizierten böse geworden? Wird vielleicht alles, was von elektrischen Strömen verschont bleibt, automatisch teuflisch, wenn Elektrisches in der Nähe ist? – Außerdem will ihm niemand verraten, wo das herrenlose Originalbein hingekommen ist. Stattdessen haben alle auf einmal Termine, selbst der Großvater, der doch eigentlich nirgends mehr hinmüssen sollte. Sie haben Ärger mit Ämtern, wo ihnen statt der vier dringendsten Fragen immer bloß eine fünfte, völlig neue und von gar niemandem gestellte Frage beantwortet wird, aber dies immerhin in einem so prachtvollen Deutsch, dass alle sich über den Amtsbrief beugen und ihn sogar bei Tisch laut vorlesen.
Mit zwölf liest er die Bücher von James Fenimore Cooper und später auch den Robinson Crusoe. Tagelang geht er beeindruckt umher und stellt sich vor, sein einziger Gefährte auf Erden sei dieser einzelne mysteriöse Fußabdruck am Meeresufer, den...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-518-77552-9 / 3518775529 |
ISBN-13 | 978-3-518-77552-3 / 9783518775523 |
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