Café Brazil (eBook)

Erzählungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
203 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3155-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Café Brazil - Tanja Dückers
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Lukas hat einen Nachschlüssel für die Wohnung seiner Ex-Freundin, die inzwischen mit Uwe, dem absoluten »Anti-Lukas«, zusammen ist. Wenn die beiden nicht zu Hause sind, schleicht sich Lukas ein und hinterläßt Spuren, um etwas Irritation in die Pärchenharmonie einzufädeln ...

Der alte Herr Hazatérés gesteht Frau Sieben, wie es dazu kam, daß er nach einer langen Ehe nun mit einem Mann zusammenlebt, und er braucht dabei keine Intimitäten und Sünden auszusparen, denn er weiß, daß Frau Sieben trotz ihres Gedächtnistrainings alles sofort vergißt ...

Die Geschichten um normale Nervtöter, leichtsinnige Kinder oder verwirrte Großmütter stecken voll liebevoller Bosheiten und akribischer Perfidien. Psychologisch raffiniert erzählt, fehlt es ihnen nicht an Traurigem, Groteskem und verblüffenden Wendungen.




Tanja Dückers wurde 1968 in Westberlin geboren. Sie studierte Nordamerikanistik, Germanistik und Kunstgeschichte. Neben Prosa und Lyrik schreibt sie Essays, Hörspiele und Theaterstücke. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, die sie u. a. nach Kalifornien, Pennsylvania, Gotland, Barcelona, Prag und Krakau führten. Sie lebt in Berlin.

Lebenskästchen


Ich bin das Ergebnis eines Mordes. Das ist kein schöner Anfang für eine Geschichte, nicht wahr? Es ist nicht so, daß ich sehr wild darauf bin, das hier zu schreiben. Der Untersuchungsrichter hat mir drei Blatt Papier hingelegt und gesagt: »Erinnern Sie sich mal ein bißchen … dann sehen wir weiter.«

Der Moment ist nicht ungünstig, um zu schreiben, denn Helge und Oliver spielen einigermaßen ruhig Schiffe versenken, und Tom schläft (schnarcht allerdings wie ein Walroß). In einer halben Stunde gibt es Abendessen, und ich bin noch beziehungsweise schon wieder im Schlafanzug – ich versuche, soviel wie möglich zu schlafen. Schlafen ist das billigste und ungefährlichste Vergnügen. Stimmt’s oder habe ich recht? Außerdem bin ich chronisch müde. Müde vom Reden, Denken, vom Hin- und Her-Laufen, das Muster meiner Schritte auf diesem Boden ein einziges sinnloses Zick-Zack, nein, auch das klingt noch zu zackig, eher ein Hick-Hack oder einfach die Spur eines Kreisels, der sich um sich selbst dreht und dreht. Was soll ich denn schreiben? »Kommen wir zur Sache!« sagt er immer, der Herr Allert, mein Untersuchungsrichter mit den abgestoßenen Manschettenknöpfen und dem Busfahrerbart.

Knut war ein Mörder und, wie Ihnen bekannt ist, verschossen in Sommersprossen. Eine schlechte Schlagerzeile wert. Ich erinnere mich besser an Knut als Sie: Er hatte ein rotangelaufenes Gesicht, dicke blaue Adern am Hals und Hände, die gar nicht zu einem Menschen zu gehören schienen, so seltsam, schwer wie Bananenstauden oder reife Trauben, baumelten sie an seinen Armen. Den kräftigen Oberkörper, mit Haaren, die aus dem Hemd quollen, trug er etwas zur Schau. Die eher dünnen Beine waren fast haarlos. Die Haut seines Gesichts war großporig und lederartig, am Hals dagegen überraschend weich, fast babyhaft; er hatte sogar ein leichtes Doppelkinn. Seine Stirn war von breiten Linien zerfurcht, die mich an die Redewendung »ein Brett vor dem Kopf haben« erinnerten. Er hatte längeres schwarzes krauses Haar, das ihm etwas Wildes verlieh. Sein Kopf war kastenförmig, sein breiter Mund asymmetrisch, ein Mundwinkel zeigte nach oben, einer nach unten, seine Nase war recht platt, mit einem Höcker wohl von einem Nasenbeinbruch, die sehr hohen Wangenknochen verliehen ihm etwas Exotisches, das im Kontrast stand zu den sehr blauen Kinderaugen, die einen in einer Mischung aus Dreistigkeit und Naivität anglotzten.

Ich habe ihn nur einmal in meinem Leben getroffen, aber ich habe ihn mir gründlich angeschaut.

Am 5. März 1997 gegen 17.00 Uhr habe ich Herrn Knut Leerdams Leben beendet. Auf einem Schrottplatz in Hamburg. Ich habe eine abgeschlagene Cola-Flasche in seinen Hals gerammt, ein verrostetes Stopschild von hinten zwischen seine Beine gestoßen, ein altes Fahrradgestell wiederholt auf seinen Kopf geschlagen, einen Lampenschirm über sein Gesicht gestülpt und durch die Öffnung Spucke auf ihn tropfen lassen, einen aufgeweichten Pappkarton mit Legosteinen über ihm ausgeschüttet, mit den Federn eines Kinder-Indianerkostüms auf ihn eingestochen, ein fünftausendteiliges Puzzle auf seinen Nabel regnen lassen und ein buntes Kaleidoskop rektal eingeführt sowie verfaultes Gemüse auf seinem Rücken zerrieben.

Ich habe ihn mir genau angeschaut, das schrieb ich schon, und ihn dann mit zwei ölgetränkten Tüchern zugedeckt und angezündet.

Zwei junge Leute, die Kunststudenten gewesen sein könnten, begegneten mir auf dem Weg zum Ausgang, beladen mit Zylindern, Zahnrädern und Eisenbahnschrauben, die sie auf die ein mal ein Meter große Waagschale legten und auswogen. Fürs Kassieren war ein kleiner weißhaariger Mann, der ununterbrochen Pistazien aß, zuständig.

Ich habe dann den Bus zurück nach Eimsbüttel genommen und im »Blue Moon« zwei Kirscheis mit Vanillesoße gegessen. Zu Hause habe ich mein Namensschild abgeschraubt, »Leif Gone« mit schwarzer Tinte auf die Rückseite des Schildes geschrieben und es wieder befestigt. Das ist mein Künstlername. Für das Kunstwerk meines Lebens, das mit einem Mord begann.

Was mich am meisten bedrückt, ist der Zustand meiner Mutter. Sie weint ununterbrochen, wenn sie hier ist, und bringt mir viel mit, Kuchen zum Beispiel. Aber ich merke ihre Zurückhaltung, ihren Abstand zu mir. Das Unverständnis. Sie sagt, daß ich verrückt bin, glaubt sie nicht.

Mehr als ein paar Fliegen und Frösche habe ich bis jetzt nicht um die Ecke gebracht. Die Vorstellung, ich hätte jemanden getötet, kommt selbst mir total absurd vor.

Es ist ganz und gar nicht langweilig im Gefängnis; das schreiben nur Leute, die nie einsaßen. Zu viele Eindrücke, zu wenig Zeit, sie zu verarbeiten, weil man ständig gezwungen wird, etwas zu tun: frühmorgens aufstehen, gleich unter die Dusche mit zehn anderen lauten Typen, anstatt den Tag gemächlich beginnen zu können, essen, Gymnastik in der Halle, schwachsinnige manuelle Arbeiten, Zellenkontrollen … ständig ist etwas los. Und immer wieder neue Häftlinge, neue Lebensgeschichten, Adrenalinstöße, nächtliches Stöhnen, Streitereien.

Mit Lawrence habe ich oft einfach nur auf dem Sofa gelegen, nachdem wir miteinander geschlafen haben, stundenlang Musik gehört, das war gerade unsere Wave-Zeit, und nichts gesagt. Liebe, Liebe machen, das sind Ausdrücke, die mir schon vollends fremd geworden sind in der langen Zeit, bevor ich beschloß, Knut kennenzulernen.

Herr Allert sagte mir, ich soll über den psychischen Zustand schreiben, in dem ich mich vor dem und am Tage des Mordes befunden habe.

Ich weiß, das ist keine sehr originelle Idee, aber ich hätte gerne eine Maschine, mit der man die Zeit anhalten und zurückspulen kann wie auf einer Videokassette. Ich würde gerne nachschauen, wann und wie Knut begann, sich für meine Familie zu interessieren, so sehr, daß er Enschede in den Niederlanden verließ, nach Hamburg zog und sich verschuldete, nur um eine Wohnung in unserer Nähe zu bekommen.

Ich bin ziemlich müde, das ewige Gegröle von Helge und Tom geht mir auf die Nerven. Sie erzählen sich den ganzen Tag Fäkalgeschichten und denken sich gerade Namen für verschiedene Kothaufenformationen aus: Da hätten wir den »Doppelwhopper«, den »Sputnik« und den »Mutterkuchen« – ob Helge und Tom irgendeine Vorstellung haben, wie ein Mutterkuchen aussieht? Für diese vulgären Lümmel ist das wohl ihr Pendant zu dem »Motherfucker« der Hip-Hop-Musik, die sie ununterbrochen hören. Helge und Tom scheinen sich von allen Dingen auf der Welt, für die man sich begeistern könnte, nur für eines zu interessieren: den Hintern anderer Menschen, der die beiden Dinge, die sie am meisten faszinieren, auf wundersame Weise miteinander verbindet: Sex und Scheiße. Daß die HipHopper noch nicht auf den »Fatherfucker« gekommen sind, erstaunt mich.

Der Untersuchungsrichter will, daß ich mich zu der Formulierung »Kunstwerk meines Lebens« äußere. Wohlan. Manche Leute leben einfach in den Tag hinein. In der Retrospektive sähe ihr Leben wie eine geschlungene, verknäulte Linie aus. Aber man kann auch so leben, daß man nachher ein eindeutig erkennbares Muster, einen Webteppich hat, in dem jeder kleine Ausschnitt die Struktur des Ganzen in sich trägt. Pars pro toto. Auf diese Struktur, die dem Leben Einheit und Sinn gibt, kommt es mir an. Eine Form, die sich gänzlich unterscheidet von der chaotischen Ansammlung zusammenhangloser Erlebnisse in den Biographien der meisten Menschen.

Ich habe versucht, dies in meiner Mappe »Die Lebenskästchen«, die ich an der Hochschule der Künste eingereicht habe, zu erklären, aber man konnte oder wollte mich nicht verstehen, denn ich erhielt einen Ablehnungsbescheid. Danach habe ich sechs Wochen deprimiert auf dem alten Sofa meiner Mutter herumgelungert. Bis ich beschloß, Archäologie zu studieren, und das mache ich seit zwei Semestern.

Das Lebenskunstwerk: Auch wenn ich jung sterben sollte, was ich nicht hoffe, aber man weiß ja nie, wünsche ich mir, daß mein Leben schon jetzt etwas Charakteristisches hatte, etwas, in dem mein »Ich« sichtbar wird. Keine Schulnoten, Sportpokale oder die Tatsache, daß meine Eltern mir drei Vornamen gegeben haben, nein, die Details meines Lebens, meine Gedanken und Sehnsüchte, die Art, wie ich Blumen gieße, oder das ausgeklügelte System, mir Dinge zu merken – all das soll für mein ganzes Leben sprechen, etwas über mich verraten. Falls doch mal irgendein Verrückter, ein Amokläufer, ein betrunkener Autofahrer oder ein weiterer Sommersprossenfetischist, der es nicht nur mit Kindern gut meint, die filigrane Struktur meines Lebens zu zerfetzen trachtet. Man weiß ja nie.

Ich habe mein Zimmer vor drei Jahren total umgeräumt, Schluß gemacht mit dem Jugendzimmer aus Ikea-Möbeln und Postern an der Wand, das sich in jedem Einfamilienhaus zwischen Stockholm und München hätte befinden können. Mein Zimmer ist jetzt ein Kabinett mit einer Sammlung von Kästchen und Dosen und Schachteln, in denen ich Steine, Glasperlen, Stoffstücke, rostige Nägel, alte Glühbirnen, Versteinerungen, Milchzähne, Miniaturgloben, Schnürsenkel, kleine Stücke von Postkarten, ausgeschnittene Buchstaben, Gedichtzeilen und dergleichen mehr, mit kleinen Datumsschildern versehen, aufbewahre. Jeder Gegenstand hat seine Bedeutung, jeder verlorengegangene Gegenstand würde ein Loch in meinem Leben, eine fallengelassene Masche, bedeuten. Wer jemals in meinem Zimmer Forschungen anstellen würde, könnte sich durch die Sedimente meines Lebens wie durch ein Tagebuch blättern und dort alles finden: meine Leidenschaften und Wutausbrüche, Kränkungen und Phasen des Rückzugs, meine geistigen Interessengebiete und...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anett Gröschner • Bodo Mrozek • Erzählungen • Jakob Hein • Jens Sparschuh • Kathrin Röggla • maike wetzel
ISBN-10 3-8412-3155-1 / 3841231551
ISBN-13 978-3-8412-3155-0 / 9783841231550
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