Der längste Tag des Jahres (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
220 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3157-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der längste Tag des Jahres - Tanja Dückers
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Ein Roman, der unser aller Leben betrifft.

Am 21. Juni, dem längsten Tag des Jahres, reißt das Läuten des Telefons vier Geschwister aus ihrem Alltag: Gerade ist der Vater, das 'Zentralgestirn' der Familie, gestorben. Ganz überraschend kommt der Tod des Vaters nicht. Seit er seine Zoohandlung wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten schließen mußte, schien er jeden Lebensantrieb verloren zu haben. A
Unter dem Eindruck der Todesnachricht erkennen die längst erwachsenen Kinder auch den eigenen Lebensweg in unerbittlicher Schärfe.

In ihrem raffiniert erzählten Roman blickt Tanja Dückers hinter die Kulissen einer Familie, in der Erfahrungen und Lebensstile zweier Generationen aufeinanderprallen.



Tanja Dückers wurde 1968 in Westberlin geboren. Sie studierte Nordamerikanistik, Germanistik und Kunstgeschichte. Neben Prosa und Lyrik schreibt sie Essays, Hörspiele und Theaterstücke. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, die sie u. a. nach Kalifornien, Pennsylvania, Gotland, Barcelona, Prag und Krakau führten. Sie lebt in Berlin.

Der Schrank


Der Anruf kam um zwölf Uhr mittags. Benjamin und Nana waren erst vor einer Woche in diese Wohnung gezogen, das Telefon stand noch nicht, wo es später einmal stehen sollte; am Boden lagen einige Kabel, zusammengerollt wie schwarze Schlangen. In der Luft hing der harzige Geruch einer schwedischen Holzlasur. Sie waren gerade damit beschäftigt, einen alten Kleiderschrank, den Benjamins Eltern vom Dachboden geholt und per Umzugswagen quer durch Deutschland geschickt hatten, zu streichen.

Für Sekunden stand die Frage im Raum, wer zum Telefon gehen würde. Nana hielt den Pinsel in die Luft, zwei, drei braune Tropfen fielen auf ihre hellen Leinenturnschuhe, kühle Nässe drang an ihre Zehen. Dann gab sich Nana einen Ruck, weil Bennie mit dem Pinsel gerade eine so schöne Bahn auf dem alten Holz zog.

Als sie in den Flur zum Telefon lief, rief sie noch über die Schulter: »Hoffentlich ist das nicht Filou!«

Im nächsten Moment geriet sie mit einem Fuß in das Kabelgewirr und wäre beinahe hingefallen, als sie nach dem Hörer griff. Ihr »Hallo?« klang ziemlich atemlos.

Es war Bennies älteste Schwester Sylvia. Schon an ihrer Stimme erkannte Nana, daß etwas Besonderes vorgefallen war.

Nana und Bennie waren ineinander verliebt. Das war offensichtlich, für jeden. In der Galerie waren immer sie es am Ende einer Vernissage, die noch eng umschlungen tanzten, wenn das Neonlicht schon längst ausgeknipst war und nur das fahle Straßenlicht von draußen in den schmalen Raum fiel. Vorm Einschlafen gaben sie sich Gutenachtküsse, die kaum ein Ende nahmen, weil keiner derjenige sein wollte, der den letzten Gutenachtkuß nicht mehr erwiderte. Morgens beim Frühstück unterhielten sie sich ausführlich über exotische Orte, die sie, wenn sie es sich irgendwann leisten können sollten, gemeinsam bereisen wollten. Sie planten eine längere Nordafrika-Reise. Vielleicht im nächsten Sommer. Auf keinen Fall in diesem! Denn dieser Sommer sollte der heißeste seit über hundert Jahren werden. Hitzerekorde wurden schon in dieser zweiten Junihälfte gebrochen. Selbst in Skandinavien schien ununterbrochen die Sonne. In Südfrankreich waren sechstausend vorwiegend ältere Menschen an Herz-Kreislauf-Beschwerden gestorben. In Griechenland neuntausend. Und in Süddeutschland folgte ein Hoch dem anderen. Bennies Eltern hatten neulich am Telefon über das unerträglich schwüle Wetter in Fürstenfeldbruck geklagt – im Garten sei so viel verdorrt! – und gefragt, ob Bennie und Nana sich denn ein paar Tage oder gar eine ganze Woche für das Renovieren frei nehmen konnten. Was sie nie verstanden, war, daß Bennie und Nana sich nirgendwann »frei nehmen« mußten. Sie hatten immer oder nie frei. Wen interessierte es schon, ob die Ausstellungen bei Bennie & Clyde (Bennies Partner hieß tatsächlich Clyde) alle vier, sechs oder acht Wochen wechselten? Und wer fragte danach, wann Nana ihre Doktorarbeit oder ihren Essayband abgeben würde?

Was sie nicht wissen konnten, war, daß Bennie und Nana bei aller Liebe in erster Linie zusammengezogen waren, um Geld zu sparen. Ein Telefonanschluß, ein Kühlschrank, eine Stereoanlage, eine Waschmaschine, eine Kaffeemaschine, da kam etwas zusammen. Abgesehen davon sparte man Miete und Strom. Und Zeit und Geld für die viele Fahrerei zwischen den beiden Wohnungen. Die Berliner Verkehrsbetriebe hatten die Preise ihrer Tickets schon wieder erhöht.

Bennie und Nana hatten sich das alles vorher genau überlegt. Wie Leute das eben machen, die zu zweit von tausendeinhundert Euro im Monat leben.

Zwei Minuten nach dem Telefonat mit Sylvia, an das sie sich eigentlich ein Leben lang hätte erinnern müssen, wußte Nana partout nicht mehr, wie das Gespräch verlaufen war und was sie Sylvia geantwortet hatte. Aus Unsicherheit und Überforderung hatte sie vermutlich höfliche, belanglose Dinge gesagt. Ihr ging merkwürdigerweise das Wort »Präzedenzfall« durch den Kopf, und sie sprach Bennie gegenüber von »durch Schock hervorgerufener Amnesie«. Den passenden Ausdruck für ihren Zustand hatte sie natürlich parat, aber was passiert war, konnte sie immer noch nicht richtig einordnen. In Extremsituationen reagiere sie völlig ruhig, sagte sie zu Bennie. Der Schreck, die Angst würden erst später einsetzen. Als Kind hatte sie sich mit einem elektrischen Dosenöffner so in den Finger geschnitten, daß dieser wie etwas Fremdes, etwas, das schon nicht mehr richtig zu ihr gehörte, an ihrer Hand herabhing. Sie weinte nicht einmal, sondern ging langsam, eine tröpfelige Blutspur hinterlassend, die Straße hinunter bis zum Krankenhaus, das um die Ecke lag. Erst ein halbes Jahr später hatte sie wiederholt auftretende Alpträume von Fingern, die wie Salzstangen zerbrachen, und von Händen, die sich verformten und zerflossen wie Wachs.

Woran sie sich erinnern konnte, war, daß Sylvia anfing zu weinen, nachdem sie mit einer ungewöhnlich hohen, hektischen Stimme alles berichtet hatte.

Alles, was nach dem Telefonat kam, hatte Nana wiederum genau vor Augen. In einer völlig sinnlosen Präzision. Als würde die eigene Erinnerung sie absichtlich quälen wollen. Oder welchen Sinn sollte es haben, daß man Dinge, an die man sich später gern erinnern würde, oft innerhalb von Sekunden vergaß und andere, die einem das Weiterleben nur schwermachten, noch nach Jahren in allen Einzelheiten wiedergeben konnte?

Nana hielt den Hörer in der Hand und sah in die Wohnküche zu Bennie hinüber.

Er wollte gerade damit beginnen, die Innenwände des Schranks zu streichen. Als er die Schranktür öffnete, glaubte sie bis in den Flur riechen zu können, wie sich der kräftige frische Geruch der Lasur mit dem von altem, staubigem Holz, von Dachböden und Geheimnissen, von für immer Vergessenem und vergangenen Lebensabschnitten verband. Nana schien, daß sich ihr altes und ihr neues Leben untrennbar miteinander vermischten.

Sie sah jetzt, wie sich Bennies von den wenigen Nachmittagen im Park schon braungebrannter Arm auf und ab bewegte und wie das trockene Holz die glänzende, im Sonnenlicht funkelnde Holzlasur in sich aufsog.

Nana erinnerte sich genau, wie Bennie sich beim Anblick einer komplett gestrichenen Schranktür freute, sie von innen und außen erst prüfend, dann zufrieden betrachtete. Etwas Kindliches und Zuversichtliches lag in seiner Haltung.

Er schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, da er dachte, sie spräche wieder einmal endlos mit Filou. Doch in diesem Moment wußte Nana bereits, daß sein Vater heute morgen völlig unerwartet gestorben war.

Dieser Moment, vielleicht eine halbe Minute, die ihr Wissen von seinem Nichtwissen trennte, war das schlimmste.

Wie oft hatte Nana schon das Gefühl gehabt, ihr Leben bliebe einfach stehen. Wochen, Monate, gleichförmig wie Hochebenen in den Anden – oder, prosaischer: wie eine ewige Warteschleife. Dieses Gefühl, daß man sich jeden Zentimeter Vorwärtskommen erkämpfen muß, jeder Schritt, jede Veränderung einem schwerfällt – und dann diese unglaubliche Geschwindigkeit, mit der alles auf den Kopf gestellt wird!

Ihr fiel plötzlich der sechzigjährige Mann ein, der mit ihr und Tausenden anderen im rauchverdunkelten New York über die Brooklyn Bridge rannte – diese plötzliche Nähe zu diesem so viel älteren Fremden, das lange Gespräch, die – nicht von Begierde geprägten – Blicke, der rasche Austausch von Adresse und Telefonnummer. Und dann: nie wieder voneinander gehört.

Sie hielt den Hörer in der Hand und schaute zu Bennie, der dreißig Sekunden länger in der alten Welt, der alten Zeitrechnung, lebte. Er erschien ihr so weit entfernt, wie er da vor dem Schrank stand. Vielleicht war das alles der Beginn einer neuen Fremdheit zwischen ihnen. Eben noch hatten sich ihre Ellenbogen beim Schrankstreichen berührt, hatten sie über Kinofilme gesprochen. Dieser Blitz, der zwischen sie fuhr.

Nana wußte einfach nicht, wie sie Bennie den Hörer übergeben sollte. Ob sie etwas andeuten sollte? Aber wie und was? War ein dummer Satz wie »es ist etwas Ernstes« nicht schon eine Art Euphemismus? Oder schlicht überflüssig? Sollte sie Bennie irgendwie, ja wie?, tief in die Augen schauen?

Für allzu psychologisch ausgebuffte Strategien war sie selber noch viel zu überrumpelt. Aber so zu tun, als ob es sich um einen gewöhnlichen Wochenend-Anruf von Bennies etwas zu anhänglicher Schwester handelte? Das wiederum kam ihr feige vor.

Sie hielt den Hörer in der Hand – die wartende und weinende Sylvia am anderen Ende der Leitung – und stand einige Momente im Flur, starrte auf die vielen Kabel, die auf ihre Füße zu krabbelten, um sich ihrer zu bemächtigen. Erst als sie nahezu panisch anfing, sich mit den Füßen aus diesem Schlamassel herauszustrampeln und dabei beinahe wieder hinfiel, legte sie den Hörer auf das Holzbrett mit ihrem Adreßbuch und stakste steifen Schrittes in die Wohnküche.

Jeder dieser Schritte fühlte sich eigenartig an, nicht nur wegen ihrer durchgedrückten Knie. Wie fremd ihr die Wohnung doch noch war. Die Sonne fiel direkter und greller als in ihrer alten Wohnung in die Küche, und Nana fühlte sich nicht wie bei ihrer ersten Wohnungsbesichtigung wohlig durchwärmt, sondern unangenehm bloßgestellt. Jeder Schritt schien ihr schwerer, unvorstellbarer – plötzlich hatte sie das Gefühl, an Agoraphobie leidende Menschen verstehen zu können.

Während sie durch den großen, leeren Raum schritt, schoß ihr wieder durch den Kopf: Was sage ich Bennie bloß? Sie nahm sich vor, ihm in die Augen zu schauen, und schaffte es nicht. Vielleicht, dachte sie später, wollte...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anett Gröschner • Bodo Mrozek • Erbe • FamilieGeschwister • Familiengeschichte • Familienstreit • Jakob Hein • Jens Sparschuh • Kathrin Röggla • maike wetzel • Térezia Mora • Tod
ISBN-10 3-8412-3157-8 / 3841231578
ISBN-13 978-3-8412-3157-4 / 9783841231574
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