Ahnen (eBook)

Ein Zeitreisetagebuch

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
267 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0094-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ahnen -  Anne Weber
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Die Vergangenheit liegt vor uns als ein fremdes, fernes Land. Anne Webers nachdenkliche Erkundungsreise in die Vergangenheit führt in die faszinierende Welt ihres genau hundert Jahre vor ihr geborenen Urgroßvaters Florens Christian Rang, zu dessen Freunden und Korrespondenzpartnern Walter Benjamin, Martin Buber und Hugo von Hofmannsthal zählten. Sie führt uns schließlich bis in ein Dorf bei Posen, in dem der protestantische Theologe, Jurist, Philosoph und Schriftsteller eine Zeit lang als Pfarrer tätig war. Anne Weber spürt den Widersprüchen und Krisen, den Abrechnungen und Aufbrüchen ihres Urgroßvaters, der hier unter dem Namen Sanderling auftritt, nach, indem sie seine Schriften liest, seine Briefe und Tagebücher entziffert, und schließlich eine Reise auf seinen Spuren nach Polen unternimmt. Auf dem Weg zu diesem leidenschaftlichen und gespaltenen Menschen durch das »Dickicht der Zeit« stellt sich immer wieder ein gewaltiges Hindernis in den Weg: die deutsche und familiäre Vergangenheit, wie sie nach Sanderlings Tod 1924 weiterging. Und damit die Frage, wie es sich lebt mit einer Geschichte, die man nicht loswerden kann. 

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. 2024 erhielt sie außerdem den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis. Für ihr Buch Annette, ein Heldinnenepos wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Für ihr Buch Annette, ein Heldinnenepos wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Es gibt physische Veränderungen, über die wir nicht hinwegkommen, hatte mein französischer Zugnachbar auf unserer Reise nach Osten zu mir gesagt. Die Menschen waren früher anders beschaffen, sie hatten andere Gehirne.

Gewiss, es bleibt eine unüberwindliche Hürde, ein Berg oder ein Graben. Aber ist da nicht ein Unterschied zwischen einem, der schulterzuckend am Grabenrand stehenbleibt, und einem, der den Graben unter größter Anstrengung und mit Hilfe aller möglichen Strategien zu überwinden versucht? Wenn die innere Anstrengung, ebenso wie die äußere, ein Fortbewegungsmittel ist, kommt Letzterer am Ende ein bisschen näher heran. Was ist aber von denjenigen zu halten – von denen es gar nicht wenige gibt –, die überhaupt nicht merken, dass da eine Hürde ist? Die gar nicht erst den Versuch machen, sich zurückzubegeben, wenn sie von früher erzählen, sondern umgekehrt – als wäre das möglich – die Verschwundenen in ihre Gegenwart holen? Als wäre die Zeit ein Fließband, dessen einziger Zweck es ist, alles, was je existiert hat, zu ihnen, den behaglich in ihren Sesseln Zurückgelehnten, hinzubefördern.

Ich sitze im Archiv über einige der Papiere geneigt, die Sanderling hinterlassen hat. Mit den weißen Stoffhandschuhen, die man mir zu diesem Zweck ausgehändigt hat, greife ich zuerst nach seinem abgeschabten Adressbuch. Bevor ich behutsam die Miniatur-Spachtel, die ebenfalls zu meiner Archivausrüstung gehört und in etwa die Länge einer Kuchengabel hat, zwischen die Seiten schiebe, betrachte ich, was von dem dunklen Perlenmuster des Haifischleder- oder Galuchat-Einbands übrig ist; die blassroten Buchstabenläppchen an der rechten Seite, dünn und altersgekrümmt, von denen einige fehlen, angefangen mit dem A und dem C: die ausgeschlagenen Zähne des Alphabets. Das B-Läppchen ist auch schon angerissen. Und wie seltsam kommt es mich an, zwischen den Namen von Bötticher – Carl Wilhelm, ein höherer preußischer Beamter – und Brouwer – ein niederländischer Professor der Mathematik – den Namen Benjamin, W., und die Adresse: Grunewald, Delbrückstr. 23, zu finden; darüber, in Klammern, etwas Unlesbares, was mit der Ziffer 1488 endet und eine Telefonverbindung sein könnte; an anderer Stelle, ebenso eingeklemmt, v. Hofmannsthal, Hugo, Rodaun bei Wien. Die stehen da so leichthin und unterscheidungslos zwischen Hinz und Kunz wie bei unsereinem die Schmidts und Webers und Duponts, Freund und Feind nebeneinander, unter dem gemeinsamen Dach eines Buchstabens. Beim vorsichtigen Spachteln in Sanderlings Bekanntschaften spannt sich ein Netz aus, das Anfang der zwanziger Jahre von Berlin nach Wien (Mayröcker, Frau Dr. Hofrat), von München (Scholem, Gershom, München, Türckstraße 98) nach Holland (van Eeden) und New York (Oppenheimer, Franz, Maiden Lane, N.Y.) reicht. Wie auf einem kurz vor dem Untergang aufgenommenen Gruppenfoto finden im Adressbuch noch einmal alle zusammen. Bevor ich die Stoffhandschuhe abstreife und mich den autobiographischen Aufzeichnungen zuwende, schiebe ich die heile Adressbuchwelt in ihren Ordner zurück.

Einiges ist mit der Maschine geschrieben und also leicht zu lesen. Sanderling erzählt darin von seiner Zeit als Pfarrer im Posen’schen Land, von seinem Tagespensum dort, das ihm die Seele mit Schutt zudeckte und das beispielsweise aus Schulvermögensstreitigkeiten, Meineidsgeschichten, Kaffee bei der Lehrerfrau bestand. Schutt scheint mehr oder weniger gleichbedeutend mit Alltag, wenn man darunter Kleinkram, kleine (Selbst-)Betrügereien, eben das Versumpfen im Klein-Klein versteht. Wäre er ein Idealist nach der Art seiner Eltern gewesen, nämlich einer mit erfüllbaren – klein-kleinen – Idealen, so hätte er womöglich in seinem Priesteramt aufgehen oder doch wenigstens damit zufrieden sein können. Er hätte das Erfüllbare nach Kräften erfüllen können und anderen geholfen, es ebenso zu tun. Das Unerfüllbare hätte nicht als unvorstellbar großes, absolutes Gewicht auf seinen Schulter gelastet und damit auch nicht auf seinem kleinen Sohn. Denn den Sohn, erzählt er weiter, habe er aus der Schule genommen, um ihn selbst zu unterrichten, weil ihm der Lehrer kein Vertrauen eingeflößt habe. Eine schreckliche Zeit sei das gewesen, für den Vater und für das Kind. Mir riß der Geduldfaden öfter, als gut war. Aber das war nicht das Schlimme, sondern, daß jedesmal, wenn er riß, und bei jedem Tadel, und überhaupt in der ganzen Atmosphäre der Stunde die drückende Gewalt einer Autorität auf dem Kind lag, die weit über die normale Lehrerautorität wog und die nicht nur einmal die Autorität des Vaters, eines sehr ernsten Vaters war, sondern die Autorität eines Priesters, der die Gewichte der ganzen Menschheit und Gottheit auf sich trug und selber sich darunter unglücklich fühlte.

Er begehrt auf gegen den Gott, der ihm dieses Gewicht – sein eigenes – aufgebürdet hat, ohne ihm Schultern zu geben, die diese Last hätten tragen können. Er hadert mit den Menschen, die ihn umgeben, mit ihrem Stumpfsinn, ihrem ungeistigen Leben. Er leidet unter seiner eigenen, so furchtbar schweren Natur, die weder zum Lehrer taugt (was er als Geistlicher aber zu sein hat) noch zum Dorfpfarrer. Er ist Vogel, ist Phönix, ist Jenseitsmensch: Hat es Sinn, dieser Diesseitigkeit zuzumuten, etwas Ähnliches zu sein? Denn von nichts anderem als von Diesseitigkeit sieht er sich umgeben. Von dem unklaren Jenseits, das in ihm selbst als schmerzlich Ersehntes, Erahntes, immer wieder Sich-Verflüchtigendes aufleuchtet, findet er in den Augen der anderen, in ihren Gebärden, in der seelenlosen Leier ihrer täglichen Verrichtungen keine Spur. Am wenigsten bei denen, die ihm in Amt, Stand und Religion am nächsten sind, bei den preußischen Nor malchristen, seinen deutschen Glaubensbrüdern, die so gar nichts Brüderliches an sich haben. Er steht als Fremdling unter ihnen. Keiner, dem seine Pein, wenn er sie denn in Worte fassen könnte, spürbar oder wenigstens begreiflich zu machen wäre. Keiner, in dem ein ähnlicher Riss geklafft hätte. Gegen Ende seiner Zeit im Osten ist er, ohne dass es außer ihm selbst jemandem aufgefallen wäre, allein. Von früh bis spät trägt er seine eiserne Maske. Keiner steht ihm bei, weil keiner seine Not sieht. Der Einzige, der etwas davon erahnt, der gütige alte Hesekiel, hat nichts anderes als Mitleid anzubieten. Und stößt ihn, ohne es zu wollen, noch tiefer in die Einsamkeit und in die Not. Da von den Lebenden keine Hilfe zu erwarten ist, sucht Sanderling Halt bei den Toten, deren lebendige Stimmen zu ihm reden. Ich besprach mich mit Goethe. So viel kann wahrlich nicht jeder Hilfsbedürftige von sich sagen. Doch warum sollte einer, der mit Gott redet und ihn zur Rechenschaft ziehen will, sich nicht auch mit Goethe besprechen? Auch mit Nietzsche bespricht er sich, doch klingt es ihm wie ein Selbstgespräch. Weder die Toten noch die Lebenden lindern seine Not. Er weiß nicht weiter. Ich war wie eine Pause in meinem eigenen Sein.

In diese Zeit fällt ein Treffen mit anderen Pastoren, heute würde man wohl »seelsorgerische Fortbildung« oder so ähnlich dazu sagen. Sanderling teilt sein Zimmer mit einem der Männer, kann sich keine Sekunde die Maske vom Gesicht reißen. Am ersten Tag wird er dazu bestimmt, die Morgenandacht zu halten. Er spürt deutlich: ein Gebet, wie ich es beten musste, hätten die anderen unmöglich mitbeten können. Doch hat er keine Wahl, die gängige Gebetsleier hängt nicht in seiner Reichweite. Oder vielleicht doch, ja, vielleicht greift er nach ihr, greift nach allem, was sich fassen lässt, auch nach den leeren Gebetshülsen, die täglich in Verwendung sind, und füllt sie an mit seiner tiefen Verlorenheit, stößt sie aus mit der ganzen Wucht seiner Bedrängnis. In seiner Stimme liegt etwas, was ihn von den anderen trennt. Sie beten weniger mit ihm, als dass sie ihren Amtsbruder verstohlen beobachten. Denn es liegt für sie etwas Ungehöriges, Peinliches in der Inbrunst, die aus ihm herausbricht.

Er betet zu verzweifelt und, vor allem, er betet zu lang. Schonungsvoll – der alte Hesekiel ist es, der diese Aufgabe übernimmt – unterbricht man ihn und bittet ihn, zum Schluss zu kommen. Zehn Minuten sind vorgesehen, er spricht schon über eine Viertelstunde. Das Frühstück wartet. Und das Tagesprogramm. Letzteres besteht aus einigen belehrenden Ausflügen, genauer gesagt, aus dem Besuch eines Gefängnisses und einer Irrenanstalt.

Die erste an jenem Vormittag besuchte Anstalt, lese ich in Sanderlings Aufzeichnungen, sei zugleich Landesarmenhaus und Korrektionsanstalt gewesen. Wurden hier die Armen für ihre Armut bestraft? Wahr scheinlicher ist wohl, dass es zwei...

Erscheint lt. Verlag 2.2.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Benjamin • Biografie • Deutscher Buchpreis • Erinnerung • Familiengeschichte • Florens Christian Rang • Hofmannsthal • Martin Buber • Nationalsozialismus • Polen • Posen • Protestantismus • Wilhelminismus
ISBN-10 3-7518-0094-8 / 3751800948
ISBN-13 978-3-7518-0094-5 / 9783751800945
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