Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann (eBook)

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2023 | 1. Auflage
704 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61352-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann -  János Székely
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Während im Sommer 1944 deutsche Soldaten ungarische Dörfer plündern, stellen sich die Bauern in Kákásd immer noch dieselbe Frage wie vor 700 Jahren: Wie sollen sie leben von dem Lohn, den sie vom Grafen erhalten? Ein Streik könnte alles ändern. Doch in einer Zeit, in der ein Menschenleben billig und Weizen teuer ist, stehen die Chancen auf Erfolg schlecht. Ein junges Liebespaar auf der Flucht und ein Bauer bringen jedoch etwas ins Rollen, und das Leben im Dorf gerät aus den Fugen. Dieser Roman eines der größten ungarischen Romanciers war jahrzehntelang verschollen und erscheint hier zum allerersten Mal.

János Székely, geboren 1901 in Budapest, verließ Ungarn, als Horthy die Macht ergriff, und kam als Achtzehnjähriger nach Berlin. Er verfasste Drehbücher, u. a. für Stummfilme mit Marlene Dietrich. 1934 lud Ernst Lubitsch ihn zur Arbeit nach Hollywood ein, 1938 emigriert er definitiv in die USA. 1940 erhielt er den Oscar für die Buchvorlage zu ?Arise, My Love?. Sechs Jahre später erschien sein Roman ?Verlockung? und machte ihn auch als Schriftsteller berühmt - von der Kritik wurde er dafür mit Dickens, Zola und Fallada verglichen. Während der McCarthy-Ära erneut verfolgt, verbrachte er mit Frau und Tochter sechs Jahre in Mexiko, bevor er 1957 einem Angebot der DEFA in die DDR folgte. Er starb 1958 in Ostberlin.

János Székely, geboren 1901 in Budapest, verließ Ungarn, als Horthy die Macht ergriff, und kam als Achtzehnjähriger nach Berlin. Er verfasste Drehbücher, u. a. für Stummfilme mit Marlene Dietrich. 1934 lud Ernst Lubitsch ihn zur Arbeit nach Hollywood ein, 1938 emigriert er definitiv in die USA. 1940 erhielt er den Oscar für die Buchvorlage zu ›Arise, My Love‹. Sechs Jahre später erschien sein Roman ›Verlockung‹ und machte ihn auch als Schriftsteller berühmt – von der Kritik wurde er dafür mit Dickens, Zola und Fallada verglichen. Während der McCarthy-Ära erneut verfolgt, verbrachte er mit Frau und Tochter sechs Jahre in Mexiko, bevor er 1957 einem Angebot der DEFA in die DDR folgte. Er starb 1958 in Ostberlin.

in dem es langsam dunkel wird

Seit fünf Minuten klopf‌te er nun schon an die Tür, aber anscheinend hörte ihn niemand. Er fluchte halblaut. Was zum Teufel war mit dem Mädchen bloß los? Sie konnte ja nicht weggegangen sein – wo sollte sie denn hin? Auf der Straße durf‌te sie sich nicht blicken lassen, ja nicht mal riskieren, am Tor zu stehen.

Nervös blickte er sich um. Wenn er hier zufällig gesehen wurde … ausgerechnet heute! Er pochte wieder an die Tür.

»Julka!«, flüsterte er. »Julka!«

Keine Antwort.

»Bei den sieben Sakramenten!«

Plötzlich fiel ihm ein, dass sich die Erntehelfer heute den ganzen Tag nicht zur Arbeit gemeldet hatten und dass Garas also wahrscheinlich zu Hause war. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Deswegen machte das Miststück also nicht auf. Die verlustierte sich mit ihrem dreckigen Bauern, tanzte mit ihm den Bettenwalzer, lachte und gackerte. Was war er doch für ein Idiot, dass er aus seinem sicheren Versteck kroch, zu diesem gottverlassenen Hof rannte und sich noch fast von zwei Gendarmen schnappen ließ … und warum das alles? Weil er sich Sorgen um die dumme Gans machte, weil er sie warnen wollte, dass …

Wütend ließ er von der Tür ab. Sollten die Gendarmen sie doch holen! Oder der Teufel! Ja, sollte doch der Himmel das ganze gottverdammte Kaff unter sich begraben!

Er ging davon, als wollte er bis ans Ende der Welt weitermarschieren, aber schon am Brunnen blieb er stehen. Vielleicht schlief sie, dachte er, wie um sich zu beruhigen. Auf der Flucht vor den Gendarmen war sie damals im Wald auch einfach unter einem Busch eingenickt und hatte so tief und fest geschlafen, dass sie nicht mal vom Wolfsgeheul aufgewacht war. Sie schlief, bestimmt schlief sie bloß, versicherte er sich und ging zurück. Verstohlen trat er unters Fenster, sah sich aber noch einmal um, bevor er an die Scheibe klopf‌te.

Die Nachbarschaft wirkte ausgestorben. Auf dem Grundstück nebenan schmorte die Bruchbude mit dem struppigen Strohdach in der noch immer sengenden Abendsonne, die Fenster hinter fest geschlossenen Läden verborgen wie die glanzlosen Augen einer alten Schindmähre hinter ihren Scheuklappen. Hinter dem morschen und windschiefen Lattenzaun erstreckte sich die wüstenleere Straße. Der Staub, dieser verhasste, fast weiße Staub von Kákásd, der wie Sand im Mund knirschte und wie Säure in den Augen brannte, dieser »Sommerschnee«, wie die Dorfbewohner ihn nannten, bedeckte knöcheltief die steile, kurvenreiche Straße, legte sich als dicke Schicht auf Bäume, Büsche, Zäune und Dächer und formte richtige Schneewehen. Ja auch der niedrige, diesige Himmel war staubfarben. Kein Blatt bewegte sich in der Hochsommerstille. Die Sonne würde schon bald wie ein blutunterlaufenes Auge mit einem letzten Blinzeln hinter den von Weinstöcken überzogenen Berghängen verschwinden, aber es war immer noch unerträglich heiß, selbst hier im Schatten. Das Licht flimmerte in der dichten Luft, die Mauern strahlten die gespeicherte Hitze ab, und der Sommerschnee unter seinen Füßen fühlte sich glühend heiß an.

Er klopf‌te ans Fenster. Erst nur sanft und sacht, damit die Nachbarn nichts hörten, aber dann immer ungeduldiger und lauter, sodass die Scheiben fast zersprangen.

»Wer ist da?«, sagte Julka drinnen und gähnte vernehmlich.

»Ich bin’s«, flüsterte er.

»Marci?«

»Nein, der Erzbischof!«, fauchte er. »Jetzt mach schon auf!«

»Wart mal kurz!«

»Warum denn?«

»Ich bin splitternackt.«

»Na und?«

»Wenn mich die Nachbarn sehen …«

»Hier ist kein Mensch.«

Sie spähte zwischen den verblichenen Kattunvorhängen heraus.

»Ich komme«, gab sie ihm mit einer Geste zu verstehen.

Er knurrte verärgert und schlich zur Tür zurück. Warum war sie nackt? War sie …

Die Tür ging auf. Die junge Frau knöpf‌te sich noch das Kleid zu, und als sie sich auf der Schwelle vorbeugte, blitzten ihre kleinen, harten, braunen Brüste zwischen den Knöpfen auf. Marci stieg das Blut zu Kopf. Sie war so schön, dachte er, und zugleich wünschte er sie zum Teufel, weil sie so schön und begehrenswert war, so verdammt begehrenswert.

»Bist du allein?«, fragte er bemüht gleichgültig.

Julka nickte wortlos.

»Wo ist Garas?«

»In Göncöl.«

»Ist er gerade erst weg?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Schon am frühen Morgen.«

Beide flüsterten, weil Julka die Tür noch nicht geschlossen hatte. Durch den Spalt behielt sie das Nachbarhaus im Auge, um sicherzugehen, dass niemand sie ausspionierte. Marci stand hinter ihr und sog ihren Duft ein, diesen fremdartigen, verlockenden, erstickenden und dabei einzigartig frischen Julkaduft, der so ganz anders war als der Geruch jeder anderen Frau, und er hätte nicht sagen können, ob er sie gerade küssen oder zerfleischen wollte.

»Er ist am frühen Morgen weg?«, hakte er skeptisch nach.

»Ja, im Morgengrauen«, sagte sie, drehte sich dann plötzlich um und warf ihm unter den blauschwarzen Wimpern hervor einen Blick zu, der jedem Mann den Kopf verdreht hätte. »Er kommt frühestens heute Abend zurück«, flüsterte sie und lächelte ihn an. »Wahrscheinlich kaum vor Mitternacht!«

Unter anderen Umständen hätte der junge Hitzkopf sie auf diese Worte hin gepackt, aufs Bett geworfen und »kaum vor Mitternacht« losgelassen. Jetzt aber sagte er kein Wort und rührte sich auch nicht vom Fleck. Julka starrte ihn überrascht an. Erst in diesem Augenblick merkte sie, wie aufgewühlt er war.

»Stimmt was nicht?«, fragte sie beunruhigt und zog die Tür zu.

»Schließ ab!«, blaffte Marci und sah sich wichtigtuerisch um, als wollte auch er sich vergewissern, dass sie nicht belauscht würden. Dann sagte er: »Die Gendarmen kommen.«

Die Frau erblasste.

»Gottogott«, rief sie und verfiel wie immer, wenn sie außer sich war, in den Tonfall ihrer Mutter. »Was machen wir denn jetzt?«

»Reiß dich zusammen!«, schnauzte er sie an. »Oder sollen dich vielleicht die Nachbarn hören?«

Er musste nicht auf seine Redeweise achten. Er war ein ungarisierter Zigeuner11, ein abgerichteter, kleinstädtischer Primás2, dessen Sprache halb die eines Bauern und halb die eines Mannes von Stand war, aber im tiefsten Innern war er so wenig ein Bauer, wie er ein Mann von Stand, ein Bürger oder ein Arbeiter war, und er war seiner Herkunft so sehr verbunden, wie eine Kübelpalme im Café eben doch eine Palme bleibt, auch wenn sie Zigarettenstummel und keine Kokosnüsse hervortreibt. Er war ein attraktiver Bursche, ansehnliche eins achtzig groß, und hässlich machte ihn allenfalls, dass er sich seines guten Aussehens nur allzu bewusst war. Das Zurschaustellen seiner Männlichkeit hatte etwas Weibliches. Wie seine Lieblings-Filmstars trug er ein Menjoubärtchen, das ihm die Herzen zufliegen ließ, die gebrauchten Smokings zweitklassiger Männer von Stand, und wenn er – so wie jetzt – ein Mädchen beeindrucken wollte, legte er auch zweitklassige Manieren an den Tag. Mit der Überheblichkeit eines Husarenoffiziers warf er sich in einen Sessel, schlug anmutig die Beine übereinander und weidete sich an Julkas Entsetzen, als wäre Entsetzen ihm völlig wesensfremd.

»Kein Grund, gleich in Ohnmacht zu fallen!«, näselte er träge. »Solange ich bei dir bin, brauchst du keine Angst zu haben!«

Julka hatte aber Angst. Und sie hatte dazu allen Grund.

»Wann kommen sie?«, fragte sie atemlos.

»Die Gendarmen?« Marci gefiel sich zunehmend in der Rolle des verwegenen Haudegens mit Nerven wie Drahtseilen. »Noch heute, wenn es dunkel wird.« Und unerschütterlich fügte er hinzu: »Das Dorf wird diese Nacht nie vergessen.«

»Kommen sie, weil die Erntehelfer streiken?«

»Ja, genau. Dieses streikwütige Gesindel soll die Schwindsucht holen! Hab ich dir nicht gesagt, dass das noch böse enden wird? Jetzt jagen sie uns die Gendarmen auf den Hals!«

»Heilige Mutter Gottes!« Julka brach in Tränen aus. »Wo sollen wir denn hin?«

»Nirgends sollen wir hin. Auf den Landstraßen wimmelt es von deutschen Soldaten. Wir müssen uns ganz einfach hier verstecken. Hier ist es vorläufig am sichersten.«

»Aber wo?«

Marci betrachtete die schluchzende Frau vor sich und freute sich über die Wirkung seiner Worte.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte er und zog seine brandneuen Zellwollsocken hoch. »Dir passiert nichts. Dein Schatz Garas findet garantiert ein gutes Versteck für dich. Der alte Fuchs passt schon auf, dass ihm sein Huhn nicht durch die Lappen geht.«

Er sagte das mit unbewegtem Sarkasmus, als ginge es nicht um Julka, sondern um sonst eine Frau, die ihm nichts bedeutete. Julka antwortete nicht. Sie schluchzte nur leise weiter und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Miststück!, verfluchte er sie stumm und konnte die Augen doch nicht von ihren kleinen spitzen Brüsten wenden, die sich unter dem dünnen Baumwollstoff abzeichneten.

»Wann erwartest du Garas zurück?«

»Er hat gesagt, dass er um zehn wieder da ist.«

»Dann kannst du ja beruhigt sein. Vor Mitternacht sind die Gendarmen nicht hier.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das hab ich heut Nachmittag bei den Gutsmännern aufgeschnappt.«

»Wo?«

»Im Bordell.«

»Spielt ihr jetzt etwa auch nachmittags?«

»Im Moment spielen wir sogar im Schlaf.« Marci winkte verächtlich ab. »Seit die Deutschen einmarschiert sind, macht das Bordell morgens...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Übersetzer Ulrich Blumenbach
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1944 • 2. Weltkrieg • Armut • Dorf • Erotik • Gesellschaftspanorama • Hunger • Juden • Judenverfolgung • Liebe • Mikrokosmos • Roma • Streik • Ungarische Literatur • Ungarn • Verfolgung
ISBN-10 3-257-61352-0 / 3257613520
ISBN-13 978-3-257-61352-0 / 9783257613520
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